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Von Alexander Hartmann
In ihrem wöchentlichen Internetforum am 4. Dezember sagte die Gründerin des Schiller-Instituts, Helga Zepp-LaRouche: „Was wir derzeit erleben, ist eine unglaubliche Destabilisierung der gesamten Weltarchitektur. Man hat das Gefühl, daß das gesamte Fundament der Welt – das Weltsystem, wie wir es noch vor kurzem kannten – ins Wanken gerät, bröckelt.“
Ein kurzer Blick in die Welt genügt, um dies zu verdeutlichen. Am 4. Dezember stürzte die französische Regierung nach einem Mißtrauensvotum der Nationalversammlung gegen Premierminister Michel Barnier und sein Kabinett, das erst seit drei Monaten im Amt war. Barnier ist damit der Premierminister mit der kürzesten Amtszeit in der Geschichte der Fünften Republik und das jüngste Beispiel für die Instabilität, die fast alle Teile der westlichen Welt erfaßt.
Fast zur gleichen Zeit brachen in Südkorea Unruhen aus, als Präsident Yoon Suk-Yeol am späten Abend des 3. Dezember das Kriegsrecht verhängte, was vom Parlament umgehend wieder aufgehoben wurde. Nach der Aufhebung des Kriegsrechts traten zahlreiche Mitglieder von Yoons Regierung zurück, und es gibt weitverbreitete Forderungen nach einem Rücktritt von Präsident Yoon selbst.
In Deutschland wird erwartet, daß Bundeskanzler Olaf Scholz, der nach dem Austritt der FDP aus der Ampelkoalition ohne Mehrheit im Bundestag ist, am 11. Dezember die Vertrauensfrage stellt, über die dann am 16. Dezember abgestimmt werden soll, gefolgt von vorgezogenen Neuwahlen am 23. Februar.
Offensichtlich sollte sich die politische Führung in Deutschland, Frankreich oder Südkorea weniger um Rußland oder Nordkorea sorgen, sondern um ihre eigene Bevölkerung, die über die verantwortungslose Politik ihrer Regierungen zunehmend erzürnt ist.
Die treibende Kraft hinter diesem Drama ist der wirtschaftliche und sonstige Zusammenbruch Europas und des Westens im allgemeinen. Der Einkaufsmanagerindex für Europa sinkt weiter und erreicht Werte, die auf eine „starke Kontraktion“ der Volkswirtschaften hindeuten, und das noch vor dem katastrophalen Verbot von Verbrennungsmotoren, das im Januar in Kraft treten soll – gegen Proteste auf dem ganzen Kontinent. In den USA ist nach Recherchen von EIR die Verschuldung in allen Bereichen – nicht nur der Bundesregierung – in die Höhe geschnellt und wird zum Jahresende 100 Billionen Dollar erreichen, verglichen mit 62 Billionen Dollar vor zehn Jahren.
Um zu verhindern, daß Donald Trump angesichts dieser Krise nach seinem Amtsantritt einen radikalen Kurswechsel einleitet, heizt die Kriegsfraktion die Krisenherde rund um den Globus an. Inzwischen herrscht Krieg nicht nur in der Ukraine, in Israel und Palästina, sondern auch in Syrien und möglicherweise in Georgien, wozu die anglo-amerikanische Bürokratie an neuen Strippen zieht, wenn die alten nicht mehr funktionieren. Die Politik der „unipolaren“, imperialen Ordnung geht trotz ihres unglaublichen Versagens immer weiter und reißt die teilweise widerstrebende Bevölkerung mit sich Richtung Abgrund.
Der entscheidende Punkt ist bei alledem, daß es einen zusätzlichen Faktor auf einer höheren Ebene gibt – etwas, was darüber hinausgeht, bloß ein bestimmtes Problem zu identifizieren und darauf zu reagieren. Ob wir lebend aus dieser Krise herauskommen, hängt davon ab, daß genügend Menschen diesen Faktor verstehen. Massenunruhen werden zunehmen und der Druck, die Verantwortlichen aus dem Amt zu jagen, wird wachsen. Aber tatsächlich ist das, was die westliche Welt erlebt, eine reale Tragödie, die über die Amtszeit jedes Politikers hinausgeht. Schuld an dieser realen Tragödie ist – im Gegensatz zur Lehrbuchdefinition einer „Tragödie“ – nicht in erster Linie die Führung von Staat und Gesellschaft mit ihren falschen Entscheidungen. So schrieb Lyndon LaRouche 2004 in Die nächsten 50 Jahre der Erde – Der kommende Dialog eurasischer Zivilisationen: „Sowohl die Wahl als auch die relevanten Fehler dieser Führung werden durch die systemischen Eigenschaften der Kultur und Institutionen bestimmt, innerhalb derer die Wahl der Führung stattfindet und die Kräfte wirken, die ihr Verhalten beeinflussen.“1
Mit anderen Worten: Wir können die gegenwärtige Krise nicht überwinden, wenn wir nur die gescheiterte Führung und ihre Entscheidungen, die uns in diese Lage gebracht haben, ablehnen, sondern wir müssen neue Prinzipien schaffen, auf denen eine zukunftsorientierte Gesellschaft und Welt aufgebaut werden kann und muß. Dazu brauchen wie eine neue Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur für die Welt, wie sie schon lange von Helga Zepp-LaRouche vorgeschlagen und gefordert wird.2
Was für eine globale Sicherheitsarchitektur kann Kriege und Völkermord verhindern? Was schafft eine praktikable Alternative zu der gegenwärtigen Barbarei – zu der physischen und psychischen Gewalt, die Ländern angetan wird, nur damit das bankrotte Finanzsystem noch etwas länger erhalten werden kann?
Eine Antwort darauf gab es am 5. Dezember auf der Jahrestagung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die im Kalten Krieg gegründet wurde und in der die Länder des RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) unter Führung der kommunistischen Sowjetunion und die kapitalistischen westeuropäischen Länder versuchten, trotz aller Differenzen ihr gemeinsames Überleben zu sichern.
Im Anschluß an das Treffen erklärte der russische Außenminister Sergej Lawrow auf einer Pressekonferenz, nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems habe Rußland mehr als drei Jahrzehnte lang glauben wollen, daß der Westen meint, was er sagt. Er listete dann die vielen gebrochenen Versprechen des Westens auf und sagte, seit 2022 sei man in Rußland überzeugt, daß der Westen alles ruiniert, was er anfaßt: die UNO, die Diplomatie, die eigene Bevölkerung.
Lawrow sprach Klartext: Für Rußland stehe das Projekt der „eurasischen Sicherheitsarchitektur“ im Mittelpunkt, dieses Projekt funktioniere und die Globale Mehrheit sei dafür reif: „Das eurasische Konzept basiert auf den natürlichen, geographischen, wirtschaftlichen und infrastrukturellen Möglichkeiten, die allen Ländern des eurasischen Kontinents zur Verfügung stehen. Es ist die größte, bevölkerungsreichste und am schnellsten wachsende Landmasse. Sie ist die Heimat von Ländern, die große Zivilisationen wie die chinesische, indische und persische verkörpern. Wir streben danach, all diese Möglichkeiten unseres Kontinents zu vereinen, um eine gemeinsame Agenda zu fördern, die für alle akzeptabel ist...“
Die BRICS-Gruppe umfaßt heute mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung, und die Globale Mehrheit will sich dieser neuen Architektur anschließen oder mit ihr zusammenarbeiten, weil es dort nicht um Finanzspekulation geht, sondern um reale Infrastrukturprojekte in Bereichen wie Energie (Kernkraft und Kohle) und Verkehr (Eisenbahnen, Häfen, Schiffahrt), mit denen unterentwickelte Länder dem Teufelskreis der Armut entkommen können.
Man könnte aber hinzufügen: Westeuropa ist Teil dieses eurasischen Kontinents! Tatsächlich haben die BRICS – und auch Lawrow bei dieser Gelegenheit – deutlich gemacht, daß alle Länder willkommen sind, sich anzuschließen, so sie denn zur Vernunft kommen.
Und auch der amerikanische Kontinent muß Teil einer neuen globalen Sicherheitsarchitektur sein. Präsident Putin erinnerte am 4. Dezember daran, daß die USA davon leben, Anderen unfaire Handelsbedingungen zu diktieren, und den Dollar als Waffe gegen die Welt einsetzen. Als er auf die Drohung des designierten US-Präsidenten Donald Trump gegen die BRICS wegen der „Entdollarisierung“ angesprochen wurde, antwortete Putin: Soweit er gehört habe, griff Trump diejenigen an, die den Dollar „untergraben“, aber nicht diejenigen, die ihn einfach nicht mehr benutzen. Rußland habe den Dollar nicht freiwillig aufgegeben, sondern sei vom Dollar zwangsweise ausgeschlossen worden und habe daher immer weniger Möglichkeiten, ihn zu verwenden. – Das hörte sich wie eine vorsichtige, aber bewußte Öffnung an.
Lawrow erklärte in seinem Schlußwort bei der Pressekonferenz: „Wir haben unsere Lektion gelernt und werden die Tür zu Beziehungen mit wem auch immer nie zuschlagen. Aber wir werden uns genau ansehen, welche Ideen diejenigen auf den Tisch legen, die uns den Krieg erklärt haben, indem sie das Kiewer Regime als Stellvertreter benutzen, die uns mit umfassenden Sanktionen belegt haben und die uns aller Todsünden bezichtigen. Wenn sie zur Vernunft kommen und konkrete Ideen vorbringen, die auf der Wahrung der Interessen des jeweils anderen basieren, werden wir sehen und unsere Schlüsse daraus ziehen, worum es bei solchen möglichen Vorschlägen tatsächlich geht.“
Anmerkungen
1. Buch: Die nächsten 50 Jahre der Erde, deutsche Ausgabe 2022, 176 Seiten, E.I.R. Verlag.
2. Grundsätze einer neuen Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur, Rede von Helga Zepp-LaRouche, 22. November 2022.
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