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Von Harley Schlanger
Die Absage der geplanten Deutschlandreise von US-Präsident Biden vom 10.-12. Oktober sorgte für eine kurze Atempause bei der Entscheidung, ob die Ukraine Ziele in Rußland mit amerikanischen und britischen Langstreckenraketen angreifen darf. Der ukrainische Präsident Selenskij hat Biden wiederholt gedrängt, grünes Licht für diese drastische Eskalation gegen Rußland zu geben. Unterstützung dabei erhält Selenskij von US-Außenminister Blinken, dem britischen Außenminister Lammy und den neokonservativen üblichen Verdächtigen aus diversen anglo-amerikanischen Denkfabriken und Medien. Auch der britische Premierminister Starmer, der gehofft hatte, Bidens Zustimmung bei einem Gipfeltreffen am 13. September in Washington oder am Rande der UN-Vollversammlung in New York am 24. September zu erhalten, unterstützt diesen Kurs.
Bei beiden Gelegenheiten wurden die Verfechter einer Eskalation von Bidens Ablehnung enttäuscht. Vielleicht dachten sie, aller guten Dinge seien drei und Biden würde sich dem Druck beugen, wenn er am 12. Oktober am Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe auf der US-Air Base Ramstein teilnehmen würde. Mit der Absage des Treffens in Ramstein haben sich ihre Hoffnungen jetzt auf den nächsten Gipfel der NATO-Verteidigungsminister am 17. Oktober verschoben.
Bidens Zögern geht offenbar auf eine anhaltende Debatte in Washington zurück, wo Militärs im Pentagon und einige in den Geheimdiensten anderer Auffassung sind als die knallharten Kriegstreiber und Rußlandhasser um Blinken und die Geheimdienstkoordinatorin Avril Haines. Erstere nehmen offenbar den russischen Präsidenten Putin beim Wort, wenn er sagt, daß er im Rahmen der überarbeiteten russischen Nukleardoktrin Langstreckenangriffe von Nichtkernwaffenstaaten als kriegerischen Akt der Unterstützer – also der NATO-Mitglieder – betrachten werde und daß dies schwerwiegende Konsequenzen hätte, während die neokonservativen Utopisten argumentieren, daß Putin nur bluffe und die NATO es darauf ankommen lassen müsse. Einige der letzteren geben sich offenbar auch der Illusion hin, die USA könnten einen Atomkrieg gegen Rußland gewinnen.
Die Kriegstreiber werden von einer wachsenden Verzweiflung getrieben, die aus der Erkenntnis resultiert, daß die Ukraine den Krieg nicht nur verliert, sondern daß auch sein Ende schnell näher rückt. Selbst die normalerweise kriegsfreundliche Londoner Financial Times räumte ein, in Washington und den westlichen Hauptstädten allgemein habe ein „Stimmungsumschwung“ eingesetzt. Bislang hat sich dieser Stimmungswandel jedoch nicht in ernsthaften Forderungen nach Verhandlungen zur Beendigung der Eskalation niedergeschlagen.
Die Weigerung der NATO-Vertreter, einen diplomatischen Weg zur Beendigung des Krieges zu suchen, war Thema des wöchentlichen Dialogs mit der Vorsitzenden des Schiller-Instituts, Helga Zepp-LaRouche, am 9. Oktober. Sie erinnerte daran, wovor der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, General a.D. Harald Kujat, „vor etwa einem Jahr gewarnt hat: Die NATO wird an einen Punkt kommen, an dem sie sich entscheiden muß, entweder eine Verhandlungslösung zu finden, die Rußland akzeptiert, ... oder eine Eskalation zu riskieren.“
„Ich befürchte“, so fuhr sie fort, „daß wir kurz vor einer Eskalationsentscheidung stehen, die im schlimmsten Fall zu einem globalen Atomkrieg führen kann.“ Selenskijs Botschaft während seiner jüngsten hektischen Reise nach Italien, Frankreich und Großbritannien nach der Absage des Treffens in Ramstein sei ein klarer Beleg für diese Gefahr: Wenn ihr uns jetzt nicht helft, Rußland zu besiegen, behauptet er, seid ihr als nächstes dran.
Diese unbegründete Warnung beherrsche die Debatte unter den europäischen Regierungen, die befürchten, daß die USA den Kampf gegen Rußland aufgeben, sollte Donald Trump die Präsidentschaftswahlen im November gewinnen. Die neue EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas aus Estland und der neue NATO-Generalsekretär Mark Rutte seien als Hardliner ausgewählt worden, die die paranoide Ansicht der EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen teilen, daß Putin sich darauf vorbereite, mit russischen Truppen in Europa einzufallen, sobald die Ukraine kapituliert.
Zepp-LaRouche wandte sich dann der Lage in Südwestasien zu, wo die Spannungen ebenfalls massiv zugenommen haben, seit Israels Regierungschef Netanjahu damit begonnen hat, den Libanon der „Gaza-Behandlung“ zu unterziehen. Im Zuge der Morde an Hisbollah-Führern, Bombardierungen, Raketenangriffen und Entsendung von Truppen in den Südlibanon wurden mehr als 600.000 Libanesen – aus einer Bevölkerung von weniger als 6 Millionen – vertrieben und mehr als 2000 Menschen getötet, Wohngebiete in Beirut wurden dem Erdboden gleichgemacht.
Zepp-LaRouche fuhr fort, während der Libanon in Flammen steht, drohe Netanjahu mit Vergeltungsschlägen gegen den Iran, die sich gegen dessen Ölindustrie und andere lebenswichtige Infrastruktur richten sollen, einschließlich der Möglichkeit, das Atomprogramm des Landes zu treffen. Genauso wie Selenskij mit seinem manischen Drang, Biden in seinen Krieg gegen Rußland hineinzuziehen, hoffe Netanjahu, Biden davon zu überzeugen, daß sich die USA Israel beim Angriff auf die iranischen Atomanlagen anschließen oder zumindest mehr Waffen, logistische Unterstützung und finanzielle Mittel für einen israelischen Angriff bereitstellen müßten. Diese Strategie, auch als „Szenario des abtrünnigen Verbündeten“ bekannt, geht auf Henry Kissinger zurück und wurde von den Neokonservativen um Paul Wolfowitz wiederbelebt. Sie rechtfertigt einen Angriff der USA auf den Iran, um Israel zu retten, das einen Krieg gegen den Iran zwar beginnen, aber nicht gewinnen könnte.
Dies wäre wirklich „ein Spiel mit dem Feuer“, wie der russische Außenminister Sergej Lawrow in einem Interview mit Newsweek am 7. Oktober warnte. Am 11. Oktober traf Präsident Putin in Turkmenistan mit dem iranischen Präsidenten Peseschkian zusammen, um ein gegenseitiges Sicherheitsabkommen zu unterzeichnen. Die beiden sollten eigentlich plangemäß auf dem BRICS-Gipfel in Kasan vom 22. bis 24. Oktober zusammenkommen, verlegten das Treffen jedoch vor in dem Versuch, einem israelischen Angriff zuvorzukommen.
Biden und Netanjahu führten am 8. Oktober ihr erstes Gespräch seit mehreren Wochen und versuchten, die Auswirkungen der durchgesickerten Informationen über ihr angespanntes Verhältnis einzudämmen. Ein am selben Tag veröffentlichter Bericht zeigt, daß die Biden-Administration Israel seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 fast 23 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt hat, und ein Ende ist nicht in Sicht, da es im US-Kongreß eine starke parteiübergreifende Unterstützung für den israelischen Völkermord gibt.
Die Internationale Friedenskoalition (IPC) wurde vor mehr als einem Jahr von Helga Zepp-LaRouche gegründet, um der neokonservativen Politik des permanenten Krieges entgegenzutreten. Seitdem haben sich führende Politiker und andere Persönlichkeiten aus mehr als 40 Ländern den wöchentlichen Zoom-Anrufen der Koalition angeschlossen, um die Aktionen aller Friedensaktivisten zu koordinieren und eine Dynamik zu entwickeln, die dem imperialen Kriegstreiben der von der Londoner City und der Wall Street dominierten transatlantischen Allianz Einhalt gebietet.
In der Webcast-Diskussion des Schiller-Instituts in dieser Woche sprach Zepp-LaRouche über die Gefahr eines nuklearen Dritten Weltkriegs und sagte: „Wir vom Schiller-Institut haben immer gesagt, daß wir dem Einhalt gebieten müssen; wir brauchen eine völlige Wende. Die Menschen müssen laut sagen, daß wir am Rande eines Dritten Weltkrieges stehen und daß wir unbedingt eine andere Richtung einschlagen müssen, hin zu einer neuen Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur, die der Geopolitik ein Ende setzt und stattdessen den Gedanken der Kooperation in den Vordergrund stellt. Ich glaube, das ist es, was wir wirklich brauchen.“ (Mehr zu den wöchentlichen IPC-Sitzungen, freitags um 17 Uhr, finden Sie hier.)
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