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Neue Solidarität
Nr. 31, 1. August 2024

Deutschland braucht dringend einen Kurswechsel!
Frieden durch Entwicklung!

Von Helga Zepp-LaRouche,
Bundesvorsitzende der BüSo

Die Bundesvorsitzende der Bürgerrechtsbewegung Solidarität (BüSo) verfaßte den folgenden Aufsatz als Beitrag zu einer Broschüre, mit der die BüSo in die politische Debatte in Deutschland interveniert.

Die ganze Welt kann zusehen, wie Deutschland dabei ist, krachend an die Wand zu fahren. Und niemand versteht, wieso ein Land, das einmal in der ganzen Welt bewundert wurde – wegen seiner Innovationskraft, seiner Wirtschaftsstärke und wegen seiner klassischen Kultur –, es angesichts einer so offensichtlichen Krise nicht schafft, das Ruder herumzureißen und das Land wieder auf einen vernünftigen Kurs zu bringen.

Die Antwort ist leider sehr einfach. Deutschland betreibt mit der Ampel-Koalition keine eigene Politik mehr, sondern wir verhalten uns wie unterwürfige Vasallen, die ohne nachzudenken das tun, was der Hegemon befiehlt. Und wenn der befiehlt, daß „Rußland ruiniert werden muß“, dann schicken wir eben immer mehr und immer mächtigere Waffen in die Ukraine, wie es gefordert wird – „egal, was die Wähler denken“,1 und ohne auch nur einen Augenblick darüber nachzudenken, daß von Deutschland im Kriegsfall nur radioaktiv verseuchter Schutt übrigbleiben würde. So, als hätte es zwei Weltkriege auf unserem Territorium nie gegeben.

Schritt für Schritt erlauben wir, daß wir immer tiefer in die direkte Konfrontation der NATO mit Rußland hineingezogen werden. Sowohl die pro-atlantischen Politiker der Ampel-Koalition und der Opposition als auch die Mainstream-Medien wiederholen die Linie, daß Rußland eine strategische Niederlage zugefügt werden müsse, was angesichts der Tatsache, daß Rußland die stärkste Nuklearmacht ist, eine objektive Unmöglichkeit ist. Auch Ursula von der Leyen hat diese Forderung nach einer strategischen Niederlage Rußlands bei ihrer Rede vor dem Europaparlament am 18. Juli 2024 noch einmal wiederholt. Offensichtlich hat ihre frühere Tätigkeit als Bundesverteidigungsministerin nicht dazu beigetragen, sich mit der strategischen Doktrin Rußlands vertraut zu machen. Nur wenn die territoriale Integrität Rußlands bedroht ist, wird Moskau Atomwaffen einsetzen, und nur dann – im Gegensatz zu den USA, die unter der Biden-Administration den Ersteinsatz von Atomwaffen nicht ausgeschlossen haben. Im Falle eines Enthauptungsschlages der NATO gegen Rußland, d.h. wenn die russische Führung nicht mehr in der Lage wäre, eine massive Vergeltung einzuleiten, träte die moderne Form des „Perimeter“-Systems in Kraft, das noch während der Sowjetzeit eingeführt wurde. Dieses computergesteuerte Programm würde das komplette Atomwaffenarsenal abfeuern, wenn keine Kommunikation mit Moskau mehr möglich ist. Und genau darum geht es, wenn davon geredet wird, „Rußland eine strategische Niederlage zufügen.“ Wenn Rußland verliert, verlieren wir alle – in einem globalen Atomkrieg, gefolgt von einem nuklearen Winter.

Niemand widerspricht der NATO-Lüge

Auf dem NATO-Gipfel in Washington am 9.-11. Juli 2024 wurde die Demokratie offiziell abgeschafft, denn was heißt es anderes, alle NATO-Programme „Trump-sicher“ zu machen, als den Wählerwillen in den USA und in allen anderen Staaten völlig zu ignorieren und die Militarisierung der EU langfristig festzulegen? Als Biden auf dem NATO-Gipfel behauptete: „Und Putin will nichts weniger – nichts weniger als die totale Unterwerfung der Ukraine. Und wir wissen, daß Putin nicht bei der Ukraine haltmachen wird“, signalisierten sämtliche anwesenden Staatschefs wie in einer Phalanx ihre Zustimmung zu dieser Lüge, während sie gleichzeitig fast schon voyeuristisch darauf achteten, ob Biden seine Rede ohne größere Patzer zu Ende bringen würde. Es ist unfaßbar: Die stärkste Militärallianz in der Geschichte erklärt Rußland und China auf der Basis grober Verdrehungen zu permanenten Gegnern – und keiner hat den Mumm, zu widersprechen!

Der fehlgeschlagene Mordanschlag auf Donald Trump in Butler, Pennsylvania – nur zwei Tage nach dem NATO-Gipfel –, bei dem vielleicht nur Trumps zufällige Kopfbewegung verhinderte, daß er tödlich getroffen wurde, macht deutlich, an welch seidenem Faden der Weltfrieden hängt. Trump hat zumindest bezüglich des Krieges in der Ukraine versichert, daß er ihn im Falle seines Wahlsieges sofort beenden würde. Diese Option wäre mit seinem Tod voraussichtlich weggefallen.

Es ist bestürzend zu sehen, daß die Verantwortlichen in Deutschland eine diplomatische Lösung für die Beendigung des Kriegs in der Ukraine überhaupt nicht in Betracht ziehen. Als Papst Franziskus dazu aufrief, den Krieg durch Verhandlungen zu beenden, brandete ihm ein Sturm der Entrüstung entgegen. Das NATO-Narrativ, daß man mit Putin nicht verhandeln könne, basiert auf der unhaltbaren Behauptung, Putin werde genau wie Hitler nicht aufhören, weitere Eroberungen zu machen, daß er nach der Ukraine die baltischen Staaten und Polen überfallen und überhaupt die Sowjetunion wiederherstellen und sogar in Westeuropa einfallen wolle.

Genau dies war auch die Argumentation von Generalleutnant André Bodemann in einem ntv-Interview, der dort den angeblich geheimen „Operationsplan Deutschland“ präsentierte, bei dem es um die Einbindung des zivilen Katastrophenschutzes, von Industrieunternehmen und der Bundeswehr im Kriegsfall geht. Neben der schon recht abenteuerlichen Behauptung, Rußland habe selber die Nord Stream Pipelines sabotiert, breitete Bodemann ein Szenario aus, nach dem amerikanische Truppen nach ihrer Landung in Holland ganz selbstverständlich Deutschland als Durchmarschgebiet für ihre Verlegung an die Ostfront betrachten und dabei von den Zivilschutzorganisationen logistisch versorgt werden – ganz so, als sei der kommende Krieg mit Rußland eine offensichtliche Tatsache. Und dann behauptete Bodemann wahrheitswidrig, Putin habe kein Interesse an Verhandlungen, sondern habe seine Absicht erklärt, die Sowjetunion wiederherzustellen, und dazu gehörten nun einmal die baltischen Staaten.

Das ganze Argument der NATO, daß eine diplomatische Lösung für die Ukraine ausgeschlossen sei, sondern Rußland eine strategische Niederlage zugefügt werden müsse, hängt an dieser Behauptung. Es ist aber eine beweisbare Tatsache, daß Putin bereits im März 2022, also nur wenige Wochen nach Beginn der speziellen Militäroperation in der Ukraine, einer diplomatischen Lösung zugestimmt hatte. Nachdem Präsident Biden während eines CNN-Interviews im Juni erneut unterstellte, Putin wolle die Sowjetunion wiederherstellen, verwies Ray McGovern in einem Artikel in Consortium News nochmalig auf ukrainische offizielle Quellen, die bestätigten, daß Putin und Selenskyj bereits im März 2022 zu einer diplomatischen Lösung bereit waren. David Arahamiya, Selenskyjs damaliger Chefunterhändler bei den Gesprächen in Istanbul Ende März, paraphierte ein Abkommen zwischen Rußland und der Ukraine.2 Darin verzichtete die Ukraine auf einen NATO-Beitritt, im Gegenzug hob Rußland den Widerspruch gegen die EU-Mitgliedschaft einer neutralen Ukraine auf. Arahamiya berichtete im November 2023,3 daß Putin dem Abkommen zugestimmt hätte und daß es die Intervention Boris Johnsons am 9. April 2022 war, die dieses Abkommen sabotierte. Johnson habe Selenskyj aufgefordert, nichts zu unterschreiben, sondern weiter zu kämpfen.

Genau diese Intervention war bereits am 5. Mai 2022 in der Ukrainska Pravda4 unter dem Titel „Möglichkeit von Gesprächen zwischen Selenskyj und Putin kamen nach Johnsons Besuch zum Stillstand“ berichtet worden. Wenn Putin also bereits wenige Wochen nach Kriegsbeginn ein Abkommen mit Selenskyj ausgehandelt hatte, um eine diplomatische Lösung zu finden, dann ging es ihm offenbar nicht um die vollständige Einverleibung der Ukraine, und schon gar nicht um die Wiederherstellung der Sowjetunion. Um genau diese entscheidenden Fragen geht es: War Putin bereits im März 2022 zu einer diplomatischen Lösung bereit und war es der Intervention Boris Johnsons zu verdanken, Selenskyj von dieser Lösung mit der Versicherung abzuhalten, der Westen werde die Ukraine unbegrenzt unterstützen? Das ist der eigentliche Grund, warum der Krieg seitdem über zwei Jahre bis heute weitergeht und als Resultat über eine halbe Million Ukrainer und eine große Zahl Russen gestorben sind.

Widerstand muß wachsen

General a.D. Harald Kujat, ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, hat genau diese Tatsache wiederholt betont, zuletzt in der schweizerischen Weltwoche im Juni 2024, weswegen er sich den besonderen Zorn der Kriegsfraktion zugezogen hat. So holte die Neue Zürcher Zeitung am 7. Juli zu einem Rundumschlag gegen Kujat aus, der ein Interview mit dem NZZ-Reporter, Marco Seliger platzen ließ, nachdem ihm klar wurde, daß es dem Interviewer nur darum ging, ihn nach bewährter Methode zu verunglimpfen.

Der Artikel, den die NZZ dann veröffentlichte, obwohl Kujat sein Einverständnis dazu zurückgezogen hatte, verrät sehr klar, woher der Wind wehte. Seliger, ein ehemaliger Pressesprecher der Waffenfirma Heckler & Koch, zitiert neben einer Fülle unbelegter Behauptungen auch Klaus Naumann, ebenfalls ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des NATO-Militärausschusses. Dieser regte sich darüber auf, wie absurd und ungeheuerlich es sei, „ohne Beleg und ohne Stellungnahme der Regierung in London“ zu behaupten, der damalige britische Premierminister Boris Johnson habe 2022 einen Friedensvertrag zwischen Rußland und der Ukraine verhindert – ganz so, als gälte die Regel des lese majeste nicht nur für die britische Monarchie, sondern gleich auch für die ungeratenen Premierminister des Vereinigten Königreichs.

Die anglophile Gesinnung des Generals Naumann wird aber verständlich, wenn man in Betracht zieht, daß Naumann 2008 der Co-Autor eines Strategiepapiers für die NATO mit dem Titel „Towards a Grand Strategy for an Uncertain World“5 (Zu einer Gesamtstrategie für eine unsichere Welt) war, in dem festgestellt wurde, daß „in extrem schwierigen Fällen“ der Ersteinsatz von Atomwaffen in Betracht gezogen werden müsse. Mit anderen Worten: Naumann gehört zu der utopischen Fraktion in der NATO, für die ein taktischer Atomkrieg denkbar ist. Der international renommierte Nuklearexperte und MIT-Professor i.R. Ted Postol hat dagegen unwiderlegbar ausgeführt, warum der Einsatz von Atomwaffen im Unterschied zu konventionellen Kriegen nicht regional beschränkt bleiben könne.

Wenn an der Frage, ob Putin einem Friedensvertrag zugestimmt hat und ob Johnson diesen Vertrag sabotiert hat, der Weltfrieden und damit wahrscheinlich der Fortbestand der Menschheit abhängt, wieso hat es dann keinen ernsthaften Versuch der Mainstream-Medien gegeben, die skandalöse Rolle von Boris Johnson zu recherchieren und die Wahrheit herauszufinden? Vielleicht weil diese Medien längst nicht mehr wirklichen Journalismus betreiben, sondern in die Kontrolle der NATO-Narrative eingebunden sind.

Der ungarische Premierminister Orbán hat inzwischen mit seiner Wirbelsturm-Diplomatie bewiesen, daß der oft wiederholte Satz, man könne nichts tun, falsch ist. Am 1. Juli übernahm Ungarn die Ratspräsidentschaft der EU für sechs Monate, am 2. Juli traf er sich in Kiew mit Selenskyj, am 4. Juli mit Putin in Moskau, zwei Tage später in Beijing mit Xi Jinping, und von dort reiste er gleich weiter nach Washington zum NATO-Gipfel. Und trotz des sofort einsetzenden Geschreis der Bellizisten wächst die Unterstützung für Orbans Verhandlungs-Initiative auf internationaler Ebene.

Warum wir eine starke Friedensbewegung brauchen

Die ganze Welt lacht derweil über Deutschland, das sich die Nord-Stream-Pipelines ohne mit der Wimper zu zucken vor der Nase sabotieren läßt und sich noch in einer ganzen weiteren Reihe von Fällen die Butter vom Brot nehmen läßt. Als im Kontext des NATO-Gipfels bekannt wurde, daß die USA in Deutschland Langstrecken-Raketen stationieren wollen, fällt Bundeskanzler Scholz dazu nur ein: „Das ist eine notwendige und wichtige Entscheidung zum richtigen Zeitpunkt.“ Und was ist mit der Entscheidung des Deutschen Bundestags und der deutschen Bürger? Wir brauchen offensichtlich eine starke neue Friedensbewegung, stärker als in den 80er Jahren, als die Krise um die Stationierung von Mittelstreckenraketen die Menschen zu Hunderttausenden auf die Straßen trieb, weil sie wußten, daß wir nur ein paar Minuten vor der potentiellen Auslöschung standen!

In Frankreich und anderen europäischen Staaten gibt es verschiedene Organisationen, die sich als „Souveränisten“ bezeichnen; in Deutschland gibt es das Wort „Souveränist“ nicht einmal. Um zu verstehen, warum wir in Deutschland mit der Souveränität so ein Problem haben, müssen wir einige Umstände noch einmal in Erinnerung rufen.

Deutschland ist souverän... eigentlich

In der Nachkriegszeit war es ein offenes Geheimnis, daß es die Aufgabe der NATO sei, „die Amerikaner drinnen, die Russen draußen – und die Deutschen drunten zu halten.“ So umriß es der erste Generalsekretär der NATO, Lord Ismay. Mit dem Fall der Mauer und der deutschen Wiedervereinigung hat Deutschland eigentlich seine Souveränität wiedererlangt. In dem am  12. August 1990 in Moskau abgeschlossenen Zwei-plus-Vier-Vertrag zwischen den beiden deutschen Staaten und den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges (USA, UdSSR, Frankreich und Großbritannien) wurde die endgültige innere und äußere Souveränität des vereinten Deutschlands hergestellt. Im vollständigen Text trägt er die Bezeichnung „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ – meist kurz auch „Regelungsvertrag“ genannt. Er trat nach der Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunde am 15. März 1991 mit einer offiziellen Zeremonie in Kraft.

Das Recht Deutschlands auf Souveränität steht damit auf dem Papier. Aber bereits die Ermordung des damaligen Chefs der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, am 30. November 1989 durch die sogenannte dritte Generation der Rote Armee Fraktion, die im Verdacht steht, eine typische „false flag-Operation“ für die Aktivitäten diverser Geheimdienste gewesen zu sein, sandte eine unmißverständliche Botschaft an die politischen Hauptpersonen in Deutschland, sich an die „Spielregeln“ zu halten. Herrhausen hatte nämlich ein Tabu gebrochen und ein Schuldenmoratorium für die Entwicklungsländer vorgeschlagen. Außerdem legte er einen Plan vor, Polen mit Hilfe der Kreditanstalt für Wiederaufbau – also ohne den IWF – wirtschaftlich zu entwickeln, so wie in der Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg: Ein weiterer Tabubruch.

Der amerikanische Geheimdienstexperte Oberst a.D. Fletcher Prouty sagte einmal in einem Interview mit der italienischen Zeitung Unita, daß es einen gemeinsamen Nenner für die Morde an Alfred Herrhausen, John F. Kennedy, Aldo Moro, Enrico Mattei und Olof Palme gebe: Sie alle hätten die Kontrolle der Welt durch das Kondominat von Jalta nicht akzeptiert. Es habe sich in jedem Fall um die Tat einer kleinen Elite gehandelt, die ihre auf die Idee einer Pax mondiale gegründete Macht bedroht sah. In einer anderen Erklärung setzte Prouty die Ermordung Herrhausens mit der Kennedys auf eine Stufe: „Sein Tod zu diesem Zeitpunkt..., die erstaunlichen Umstände seines Todes... gleichen der Ermordung Präsident Kennedys 1963... Wenn man die große Bedeutung der Ereignisse in der Sowjetunion, in Osteuropa und vor allem in Deutschland bedenkt, dann ist die Ermordung Herrhausens von ungeheurer Bedeutung. Wir dürfen nicht zulassen, daß dies unter den Teppich gekehrt wird...“6

Nach der Ermordung Herrhausens, der noch ein Banker der alten Schule gewesen war – er betrachtete die Banken als Dienstleister für die Industrie und das Gemeinwohl und nicht als Instrument der maximalen Spekulationsgewinne –, änderte sich die Politik der Deutschen Bank und damit letztlich des gesamten Finanzsektors radikal. Ab jetzt waren Deregulierung und Profitmaximierung angesagt.

Der prinzipiell gleiche Wandel vollzog sich nach der Ermordung von Detlev Rohwedder am 1. April 1991, dem damaligen Chef der Treuhand. Rohwedder war als Repräsentant des Rheinischen Kapitalismus zu dem Schluß gekommen, daß es angesichts der sozialen Lage in den neuen Bundesländern existentiell sei, der Sanierung der staatseigenen DDR-Betriebe – und damit dem Erhalt von Arbeitsplätzen – Priorität vor der Privatisierung zu geben. Auch er wurde von derselben dubiosen dritten Generation der RAF ermordet. Seine Nachfolgerin, Birgit Breuel, leitete dann den wirtschaftlichen Kahlschlag ein, der den Bürgern der bisherigen DDR das Gefühl vermittelte, völlig überrollt zu werden, weil ihr ganzes Lebenswerk ausradiert wurde.

Der Fall der Mauer durch die friedliche Revolution in der DDR war eine potentielle Sternstunde der Menschheit – einer jener wenigen Momente in der Geschichte, wo die Weichen für Jahrzehnte in die Zukunft gestellt werden können. Aber die Chance wurde vertan, oder besser: Sie fiel den geopolitischen Schachzügen der USA, Großbritanniens und Frankreichs zum Opfer. In den Wochen und Monaten nach dem Fall der Mauer hatte es sehr wohl das Potential für die Errichtung einer Friedensordnung für das 21. Jahrhundert gegeben.

Der damalige US-Botschafter in Moskau, Jack Matlock, hat in vielen Interviews betont, daß die Sowjetunion in den letzten Jahren ihrer Existenz keine Bedrohung für den Westen mehr darstellte, daß der Kalte Krieg bereits zwei Jahre zuvor zu Ende gegangen war und deshalb Gorbatschows Vorstellung von einem „gemeinsamen europäischen Haus“ eine durchaus realistische Idee darstellte. Putin selbst erwähnte noch 2000 bei einem Moskau-Besuch des US-Präsidenten Bill Clinton die Möglichkeit, daß Rußland der NATO beitreten könnte.

Die Vorschläge Lyndon LaRouches zunächst 1989 für das „Produktive Dreieck Paris-Berlin-Wien“, mit dem die produktiven Kapazitäten des COMECON hätten erhalten und modernisiert werden können, und dann 1991 für die „Eurasische Landbrücke“ hätten also sehr wohl die ökonomische Basis für eine Friedensordnung für das 21. Jahrhundert sein können. Es war die Idee, die Industrie- und Bevölkerungszentren Europas und Asiens durch Entwicklungskorridore miteinander zu verbinden, und so die landeingeschlossenen Regionen Eurasiens mit den gleichen Standortvorteilen auszustatten, die ansonsten Länder haben, die an Meeresküsten und großen Flüsse liegen. Das war im wesentlichen das Programm, das heute mit der Seidenstraßen-Initiative von China verwirklicht wird.

Globaler Süden will Kolonialismus abschütteln

In dieser Zeit, zwischen dem Fall der Berliner Mauer und der Auflösung des Warschauer Paktes, gab es die reale Chance für etwas völlig Neues. Der Kalte Krieg war vorbei, es gab keinen Feind mehr. Aber anstatt diesen Moment zu nutzen, um eine gerechte Friedensordnung zum Vorteil aller zu schaffen, setzte in weiten Teilen des kollektiven Westens jener fatale Triumphalismus ein, der in den Köpfen des Establishments die arrogante Vorstellung festigte, sie seien die Guten, die phantastischen Vertreter der „regelbasierten Ordnung“, die Bewohner von Josef Borrells „wunderbarem Garten“, während „alle anderen im Dschungel leben“. Papst Johannes Paul II. warnte damals vor dieser Überheblichkeit des Westens; Strukturen der Sünde gebe es im Osten wie im Westen, man müsse sich nur den Zustand der sogenannten Entwicklungsländer ansehen.

Dementsprechend sieht die absolute Mehrheit der menschlichen Gattung die strategische Lage völlig anders. Die Nationen des Globalen Südens sind derzeit dabei, das Joch von 500 Jahren Kolonialismus abzuschütteln und mit Hilfe von Chinas Belt and Road Initiative (BRI) ihre eigene infrastrukturelle und industrielle Entwicklung auf den Weg zu bringen. Die Politik der Neuen Seidenstraße hat zu einem enormen Aufschwung geführt. Der globale Süden ist heute schon für über 70% der Weltwirtschaftsleistung verantwortlich. Asien hat Wachstumsraten, von denen wir in Europa nur noch träumen können. Indonesien wird sehr bald Deutschland als viertstärkste Wirtschaftsnation überholen.

Die Nationen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas haben es nach dem Ende des Kalten Kriegs nicht akzeptiert, weiter Untertanen in einer unipolaren Welt zu sein (Stichwort: Das Ende der Geschichte). In Reaktion auf den Versuch des kollektiven Westens, das neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell in die ganze Welt zu exportieren, auf die Interventionskriege in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien usw., auf die illegalen Sanktionen, auf die Farbrevolutionen, die die Bevölkerung zum Sturz ihrer Regierung anstacheln sollen, auf die Instrumentalisierung des Dollars als Waffe und ähnliche Übergriffe haben diese Staaten den Geist der Blockfreien Bewegung wiederbelebt und angefangen, sich auf ihre kulturellen Traditionen zu besinnen. Die wirtschaftliche Stärke der BRICS-Staaten hat ihnen einen wirtschaftlichen Spielraum eröffnet, um sich von reinen rohstoffexportierenden Staaten zu Ländern zu entwickeln, in denen die gesamte industrielle Wertschöpfungskette verwirklicht wird.

Wenn wir nicht so daran gewöhnt wären, die ganze Welt durch die angloamerikanische Brille zu betrachten, müßte uns das eigentlich freuen. Wenn wir wieder lernen, unsere eigenen Interessen wahrzunehmen, dann werden wir erkennen, daß es in unserem ureigensten Interesse als Exportnation liegt, in wachsende Märkte mit steigender Kaufkraft in den Staaten des Globalen Südens zu investieren. Außerdem ist die Schaffung von zwei, drei Milliarden produktiver Arbeitsplätze in Afrika, Asien und Lateinamerika die einzig humane Weise, die Flüchtlingskrise endgültig zu überwinden.

Die Staaten des Globalen Südens sind dabei, mittels verschiedener Institutionen wie den BRICS, der SCO, der EAEU, ASEAN, u.a. ein neues Wirtschafts- und Kreditsystem aufzubauen, das nicht mehr auf monetaristischen Prinzipien der Profitmaximierung, sondern auf dem Aufbau der physischen Realwirtschaft basiert. Das chinesische Wirtschaftsmodell hat seit Jahrzehnten mit enormen Wachstumsraten von früher 10-12 Prozent und in den letzten Jahren um die 5 Prozent demonstriert, daß eine kontinuierliche Innovation die Basis für eine stabil wachsende Wirtschaft ist. China hat einer großen Zahl von Ländern in Asien, Afrika, Lateinamerika – und selbst in Europa – durch die BRI und die Global Development Initiative (GDI) die Möglichkeit eröffnet, an diesem Wachstum teilzunehmen.

Die zunehmende Instrumentalisierung des Dollars als Waffe hat eine beschleunigte Entdollarisierung ausgelöst und diese Staaten darin bestärkt, den bilateralen Handel in ihren nationalen Währungen abzuwickeln. Sie streben eine eigene Reservewährung an, die wiederum nicht auf monetaristischen Werten, sondern auf Rohstoffen und Waren basiert und deren Wert nach Maßgabe der wirtschaftlichen Produktivität bemessen werden soll. Dabei spielen die wirtschaftspolitischen Ideen des amerikanischen Ökonomen Lyndon LaRouche eine wichtige Rolle.7 Die in Shanghai ansässige Neue Entwicklungsbank (NDB) soll dabei nach den Worten des brasilianischen Präsidenten Lula da Silva zur „großen Bank des Globalen Südens“ ausgebaut werden und als eine der wesentlichen Kreditinstitutionen dienen, um den wirtschaftlichen Aufbau zu finanzieren.

Das transatlantische Finanzsystem hingegen ist mit einer faktisch unlösbaren Schuldenkrise belastet; zwei Billiarden ausstehender Derivat-Kontrakte sind praktisch nicht zu refinanzieren. Es ist eine Frage der relativ kurzen Zeit, bis sich eine neue Schuldenkrise wie 2008 entlädt, nur daß dieses Mal alle Instrumente im „Werkzeugkasten“ der Zentralbanken aufgebraucht sind.

In diesem Kontext befindet sich vor allem die deutsche Wirtschaft im freien Fall. Der Verlust von billiger russischer Energie durch die Nord-Stream-Sabotage und die gegen Rußland verhängten Sanktionen haben ebenso dazu beigetragen wie der Abfluß von Investitionen in Folge z.B. des Inflation Reduction Act, der Investitionen in den USA begünstigt.

Wenn wir einen völligen Absturz der deutschen Wirtschaft verhindern wollen, dann müssen wir uns in Deutschland und in den anderen Nationen Europas positiv an dem neuen Wirtschaftssystem der Globalen Mehrheit orientieren. Diese Staaten sind nicht unsere Feinde, sie stellen keine Bedrohung dar, sondern sie würden liebend gern die Kooperation mit uns ausbauen. Wir können ihnen bei dem dringend notwendigen wirtschaftlichen Aufbau helfen, um durch unser wissenschaftliches und technologisches Know-how Armut und Unterentwicklung für immer zu überwinden; umgekehrt bedeutet die Kooperation für uns sichere Arbeitsplätze und die Integration in wachsende Märkte.

Rußland ist nicht die „größte und unmittelbarste Bedrohung“

Wenn wir uns allerdings vor den NATO-Karren spannen lassen, der unser Verhältnis zu Rußland nach angloamerikanischen Vorgaben gründlich ruiniert hat, und uns nun auch noch erlauben, der angloamerikanischen Forderung nach „Abkopplung“ und „Derisking“ gegen China und damit gegen den Globalen Süden zu folgen, dann stellen wir die Weichen für die Zugfahrt ins wirtschaftliche Nirgendwo. Auf dem NATO-Gipfel in Washington wurde China als hauptsächlicher Ermöglicher von Rußlands Krieg gegen die Ukraine hingestellt, was angesichts des chinesischen Friedensplans, dem einzig realistischen Konzept, den Krieg zu beenden, einen nur zu durchsichtigen Sabotageversuch darstellt.

Rußland wird von der NATO als die „größte und unmittelbarste Bedrohung“ angesehen. „Rußlands umfassender Einmarsch in die Ukraine hat den Frieden und die Stabilität im euro-atlantischen Raum erschüttert und die globale Sicherheit ernsthaft untergraben“, heißt es in der Abschlußerklärung von Washington. Mit dieser Charakterisierung erteilt die NATO der Initiative Putins vom 14. Juni, in der er eine umfassende gesamteurasische Sicherheitsarchitektur vorgeschlagen hat, die die Interessen aller Staaten berücksichtigen und die auch für NATO-Mitglieder offen sein soll, eine unmißverständliche Abfuhr. Rußland ist verhandlungsbereit, die NATO ist es nicht.

Die klare Absicht der NATO, sich zu einem globalen Bündnis in den Pazifik auszuweiten, hat den unverhohlenen Zweck, nicht nur Rußland und China einzudämmen, sondern auch das neue Wirtschaftssystem zu torpedieren, das die BRICS, SCO, EAEU, ASEAN und weitere Organisationen des Globalen Südens verwirklichen wollen. Eines muß uns in Deutschland klar werden: Die gegenwärtige US-dominierte NATO-Politik wird dazu führen, daß die Welt in zwei Blöcke zerfällt, und am Ende der geopolitischen Konfrontation wird unvermeidlich der dritte, und diesmal letzte, thermonukleare Weltkrieg stehen.

Souveränität und die Lehren aus dem Westfälischen Frieden

Unter diesen Umständen verlangt es das nationale Interesse Deutschlands, daß wir nach dem Vorbild Charles de Gaulles von 1966 aus der NATO austreten und statt dessen selber eine neue internationale Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur vorschlagen, die die Interessen von jedem einzelnen Staat auf dieser Erde berücksichtigt. Wir müssen die Lehren aus dem Westfälischen Frieden ziehen, daß eine Friedensordnung nur funktionieren kann, wenn die Interessen aller gewährleistet sind.

Das heißt natürlich, wir brauchen eine Politik, die das deutsche Interesse vertritt, und das besteht ja wohl zuallererst in der Sicherung unserer Existenz. Wenn wir in einem Militärbündnis eingebunden sind, das im Ernstfall die Weiterexistenz Deutschland aufs Spiel setzt, dann müssen wir an einer Sicherheitsarchitektur arbeiten, die für diese existentielle Frage eine positive Antwort hat. Das heißt, wir müssen die Souveränität, die uns im Zwei-plus-Vier-Vertrag garantiert wurde, auch praktisch verwirklichen.

Die Frage der nationalen Souveränität ist einer der wertvollsten Beiträge, die die europäische Zivilisation hervorgebracht hat. In einem äußerst langwierigen und komplexen Prozeß wurde bis zum 15. Jahrhundert die dominierende Herrschaft des Papsttums und des Kaisertums abgelöst, indem sich zunächst nationale Monarchien herausbildeten, die sich zum ersten Mal auf nationale Gebilde bezogen. Bis zur Herrschaft Ludwigs XI. in Frankreich und den Schriften des Nikolaus von Kues zur Frage des Konsenses der Regierten mit der Regierung waren alle Regierungsformen davor im wesentlichen oligarchischer Natur. Eine kleine Oberschicht von Monarchen und Aristokraten verfügte über alle Privilegien, während die Masse der Bevölkerung in weitgehender Rückständigkeit gehalten wurde. Bis zu Gutenbergs Erfindung der Buchdruckerkunst war es einer extrem kleinen Gruppe von Gelehrten im Dienste der Oberschicht und Mönchen vorbehalten, des Lesens und Schreibens kundig zu sein. Das änderte sich erst, als mit der Herrschaft Ludwigs XI. zum ersten Mal das Gemeinwohl des Volkes im Vordergrund stand und sich aufgrund seiner Reformen der Lebensstandard der Bevölkerung innerhalb von zwanzig Jahren verdoppelte. Ganz Entscheidend war die Schrift Concordantia Catholica des Nikolaus von Kues, in der er zum ersten Mal das reziproke Rechtsverhältnis zwischen der Regierung und den Regierten definierte, auf dem das repräsentative System aufgebaut ist.

Daraus ergibt sich, daß das nationale souveräne System, bei dem gewählte Repräsentanten sich sowohl gegenüber der Regierung, als auch gegenüber den Regierten verantwortlich sehen, das einzige System ist, bei dem der Einzelne, vertreten durch den Repräsentanten, an der Regierung partizipieren kann. Wie schon Platon und Thukydides ausgeführt haben, ist dies weder bei der direkten Demokratie der Fall, als deren Kehrseite sie die Diktatur sahen, noch bei supranationalen Regierungsformen, bei denen die damit einhergehenden Bürokratien eben nicht mehr dem Einzelnen gegenüber verantwortlich sind. Die weitgehende Intransparenz der Entscheidungsfindung in Brüssel, die oft zu Ergebnissen führt, die völlig am Interesse der Mitgliedsstaaten vorbei gehen, belegt dies zur Genüge.

Wir sollten deshalb in Deutschland eine neue internationale Sicherheits- und Entwicklungs- Architektur in der Tradition des Westfälischen Frieden anstreben, die auf den Prinzipien des Grundgesetzes, der UN-Charta und den Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz basiert. Auch die Ideen de Gaulles für ein Europa der Vaterländer können in diese Diskussion mit einfließen. Der entscheidende Ansatz muß es sein, die gegenwärtige extrem gefährliche geopolitische Konfrontation durch das Prinzip der Kooperation und Diplomatie zu ersetzen und das nationale Interesse niemals in einen Gegensatz zum Interesse der einen Menschheit zu stellen.

Zur Verwirklichung unserer nationalen Souveränität gehört es auch, daß wir uns auf die großartigen Hochphasen unserer Kultur beziehen, sie lebendig werden lassen, um daraus im Dialog mit anderen Kulturen eine neue Renaissance entstehen zu lassen. Im Ausland gibt es immer noch die Erinnerung an uns als das Volk der Dichter und Denker – auch wenn dies in letzter Zeit einer Verwunderung gewichen ist, was aus Deutschland geworden ist. Aber die Leistungen von Cusanus, Kepler, Leibniz, Bach, Beethoven und Schubert, Lessing, Schiller und Goethe, um nur einige zu nennen, haben etwas Bleibendes zur Universalgeschichte der Menschheit beigetragen, das wir wiederbeleben können. Im Bewußtsein all der Generationen, die vor uns lebten, müssen wir an diesem Vermächtnis anknüpfen, um unser schönes Land in eine bessere Zukunft zu führen.


Anmerkungen

1. So Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) bei einer Podiumsdiskussion am 31. August 2022 in Prag.

2. https://www.kyivpost.com/post/24645

3. https://www.youtube.com/watch?v=6lt4E0DiJts

4. https://www.pravda.com.ua/eng/news/2022/05/5/7344206/

5. https://www.csis.org/events/report-launch-towards-grand-strategy-uncertain-world

6. https://www.solidaritaet.com/neuesol/2004/49/zepp-lar.htm

7. http://archiv-bueso.de/artikel/naechsten-50-jahre-erde

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