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Von Helga Zepp-LaRouche
Helga Zepp-LaRouche eröffnete die zweite Sitzung der Pariser Konferenz am 8. November 2025 mit dem folgenden Vortrag. (Übersetzung aus dem Englischen, Zwischenüberschriften wurden hinzugefügt.)
Ich möchte zu Ihnen über die neue Weltwirtschaftsordnung sprechen, die auf dem Prinzip der Coincidentia Oppositorum, dem Zusammenfall der Gegensätze, beruht.
Ich muß jedoch mit folgendem beginnen: Eine Institution namens Wirtschaftliche Gesellschaft für Westfalen und Lippe hat zusammen mit einer Jury aus Politik und Wirtschaft, bestehend aus Sigmar Gabriel, Cem Özdemir, Friedrich Merz und Frank-Walter Steinmeier, beschlossen, den Westfälischen Friedenspreis 2026 an die NATO zu vergeben.
Als Grund wird die „kontinuierliche Friedensarbeit“ der NATO angegeben. Der Preis ist mit 100.000 Euro dotiert. Sie müssen ihn sich mit einer Jugendorganisation namens socioMovens teilen, deren Aufgabe es ist, die westlich orientierte Jugendkultur nach Osteuropa zu bringen. Es handelt sich also um eine dieser typischen NGOs, die versuchen, Farbrevolutionen vorzubereiten.
Wenn man sarkastisch sein wollte, könnte man sagen, die NATO braucht das Geld dringend, um sich auf den Krieg vorzubereiten, denn offensichtlich hat sie es nicht.
Nächstes Jahr soll es dazu eine große Feier im Rathaus des Westfälischen Friedens in Münster geben. Können Sie sich vorstellen, was für eine Perversion und verkehrte Welt das ist? Deshalb schlage ich vor, der Wirtschaftlichen Gesellschaft Westfalen-Lippe den George-Orwell-Preis 2026 zu verleihen. Viele von Ihnen kennen George Orwell; er hat viele Bücher geschrieben, und das wohl berühmteste ist 1984, in dem er eine ungeheure Doppelzüngigkeit, Heuchelei und „Neusprech“ beschreibt, aus denen dann der Begriff „Doppeldenk” als neues Wort für Lügen und Manipulation durch Sprache geprägt wurde. So heißt in 1984 beispielsweise das Ministerium für Folter „Ministerium für Liebe“, das Ministerium für Lügen und Propaganda heißt „Ministerium für Wahrheit“, das Ministerium für Lebensmittelrationierung heißt „Ministerium für Überfluß“, und so weiter.
Hier wird Goebbels noch übertroffen, das sieht man der Begründung, die für die Entscheidung, diesen Preis an die NATO zu vergeben, angeführt wird: die verantwortungsvolle Unterstützung der NATO für die Ukraine, nämlich daß die NATO die Hilfe im Einklang mit dem Völkerrecht solidarisch koordiniert, ohne selbst Konfliktpartei zu werden.
Das ist ungeheuerlich. Das offizielle NATO-Narrativ schreibt vor, daß jeder, der über die Ukraine spricht, seine Rede mit der Formulierung „Rußlands unprovozierter völkerrechtswidriger Angriffskrieg” beginnen muß. Das gehört offensichtlich zu dieser ungeheuren Doppelzüngigkeit, die wir nicht länger tolerieren sollten.
Jeder Mensch, der ein historisches Gedächtnis hat, wird sich an die Versprechen erinnern, die zur Zeit der deutschen Wiedervereinigung und zum Ende des Kalten Krieges gegeben wurden, als die Außenminister Baker und Hans-Dietrich Genscher Gorbatschow und Schewardnadse versprachen, daß die NATO keinen Zentimeter nach Osten vorrücken würde. Doch was folgte, waren fünf Osterweiterungen der NATO – inzwischen sogar sechs, seit Schweden und Finnland beigetreten sind –, übrigens ohne die Bevölkerung zu fragen, ob sie damit einverstanden ist. Jetzt sind es also tausend Kilometer nach Osten, plus ein paar mehr. Wir haben also eine vollwertige umgekehrte Kubakrise!
Die NATO war, wenn man die Ereignisse der letzten Jahrzehnte verfolgt hat, auch ein Instrument zur Errichtung einer unipolaren Weltherrschaft auf der Grundlage der Sonderbeziehung zwischen Großbritannien und den USA. Unter der Ägide der NATO gab es Regimewechsel, Farbrevolutionen, Interventionskriege in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien usw.
Bis zur Verleihung dieses Preises im nächsten Jahr wird der Krieg in der Ukraine zweifellos verloren sein, denn er ist schon verloren. Wenn diese Dynamik nicht zu einer Eskalation führen soll, die in einem globalen Atomkrieg enden würde, müssen wir jede Form von Doppelzüngigkeit vollständig ablehnen und die Herangehensweise an die Außenpolitik im Westen radikal ändern. Wir müssen die Strategie, Rußland eine strategische Niederlage zuzufügen, aufgeben, weil eine solche Niederlage völlig unmöglich ist. Rußland ist schon die stärkste Atommacht. Mit seinen neuesten Waffen, Oreschnik, Burewestnik und Poseidon, hat Rußland einen technologischen Vorsprung im Militärbereich entwickelt. Deshalb kann es nicht besiegt werden – es kann aber passieren, daß die gesamte Menschheit ausgelöscht wird.
Wenn man sich die Lage in Südwestasien ansieht, wurden trotz des Waffenstillstands, der nominell am 11. Oktober begann, mehr als 200 Menschen getötet und mehr als 600 verletzt. In nur einer Nacht wurden über hundert Menschen getötet, darunter 46 Kinder. Insgesamt wurden zehn Prozent der palästinensischen Bevölkerung ausgelöscht.
Nun soll das nächste Kapitel beginnen: der Angriffskrieg gegen Venezuela. Laut einem neuen Memorandum der Veteran Intelligence Professionals for Sanity (Geheimdienstveteranen für Vernunft, VIPS) könnte das zu viel Blutvergießen und möglicherweise zu einer Revolte des gesamten lateinamerikanischen Kontinents gegen die Vereinigten Staaten führen, und im schlimmsten Fall könnten Rußland und China darin verwickelt werden. Ganz zu schweigen vom kommenden Krieg mit China, von dem die Kriegstreiber schon seit geraumer Zeit träumen.
Wenn Sie nun die heutige Welt aus einigem Abstand betrachten – so, als könnten Sie sie von der Internationalen Raumstation im Weltraum oder sogar einem noch höheren Standpunkt aus betrachten, von dem aus Sie die Welt von oben jenseits von Raum und Zeit betrachten könnten –, welcher Blick auf die Menschheit würde sich Ihnen dann bieten? Offensichtlich sind wir keine Spezies ungebildeter böser Kleinkinder (nicht alle Kleinkinder sind böse, aber ich habe die Erfahrung gemacht, daß einige einem ziemlich gut vors Schienbein treten können). Sind wir eine Nation oder ein Kontinent böser Kleinkinder, die erst Pokémon und gewalttätige Videospiele gespielt haben, und dann mit Atomraketen spielen, bis wir alle tot sind? Oder sind wir eine kreative, mit Vernunft begabte Gattung?
Die große Frage, vor der die Menschheit steht, lautet: Können wir uns eine internationale Ordnung geben, die dauerhaften Frieden und eine harmonische Entwicklung aller Nationen und Zivilisationen auf der Erde gewährleistet? Denn genau das ist notwendig. Wir brauchen – ernsthaft, ganz realistisch und praktisch – eine neue globale Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur, die die Sicherheits- und Entwicklungsinteressen jedes Landes auf dem Planeten berücksichtigt.
Dafür gibt es einen wichtigen Präzedenzfall, Jacques [Cheminade] hat heute Vormittag darauf hingewiesen: den Westfälischen Frieden. Im Jahr 1648 beendete er 150 Jahre Religionskriege in Europa und war der Beginn der Etablierung des Völkerrechts.
Das wichtigste Prinzip, das daraus hervorging, war, daß jeder Frieden erfordert, daß man immer die Interessen des anderen berücksichtigen muß; daß man um des Friedens willen Liebe statt Haß braucht; daß man um des Friedens willen alle Verbrechen vergeben und vergessen muß, die eine Seite der jeweils anderen angetan hat. Offensichtlich wurde damit das Prinzip des unteilbaren Friedens etabliert.
All diese Prinzipien hat die NATO verletzt. Es wurde das Prinzip der Souveränität und Nichteinmischung etabliert – daß jeder Staat die ausschließliche Souveränität über sein Territorium und seine inneren Angelegenheiten hat. Die NATO hat eindeutig dagegen verstoßen, wenn nicht in Worten, so doch in Taten und im Prinzip – wenn man sich etwa an die Worte von Victoria Nuland erinnert, daß das US-Außenministerium allein für NGOs in der Ukraine fünf Milliarden Dollar ausgegeben hat, um die Orangene Revolution und dann den Maidan vorzubereiten.
Der Westfälische Frieden begründete hat auch den Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder. 20 Jahre lang hat die NATO in Afghanistan versucht, westliche Werte durchzusetzen. Wir alle kennen das Ergebnis – Menschen, die sich an Flugzeugen festklammerten, als diese Kabul verließen. Die NATO ist gleichbedeutend mit dem Prinzip der Interventionskriege, der sog. „Schutzverantwortung“ und der Aufgabe des Westfälischen Friedens. Wenn man diese Geschichte kennt, gibt uns das einen Hinweis auf den Zustand der Intelligenz der europäischen und anderen Bürger, die der NATO den Friedenspreis verleihen.
Der Westfälische Frieden setzte auch das Prinzip cuius regio, eius religio. Er garantierte das Recht, daß Christen ihren Glauben zu festgelegten Zeiten öffentlich feiern dürfen. Auch das wird heute durch die Verteufelung des Islam und der russisch-orthodoxen Kirche kontinuierlich verletzt.
Der Westfälische Frieden legte auch fest, daß alle Staaten, unabhängig von ihrer Größe oder Macht, nach internationalem Recht gleich sind. Er schuf ein System koexistierender Staaten und setzte einen Präzedenzfall für das Prinzip von Diplomatie statt Krieg zur Konfliktlösung. Er beendete den Krieg. Er definierte die territorialen Grenzen in Europa neu, beseitigte Handelsbarrieren aus Kriegszeiten, garantierte weitgehend freie Schiffahrt auf dem Rhein und schuf ein ganz neues System der politischen Ordnung auf der Grundlage souveräner Staaten.
Vor allem aber etablierte er die Diplomatie als Mittel zur Konfliktlösung. Nichts, was die NATO getan hat, spiegelt diesen Geist des Westfälischen Friedens wider. Die verschiedenen Kriegsparteien kamen damals zusammen, weil sie erkannten, daß es bei einer Fortsetzung des Krieges niemand mehr übrig wäre, der den Sieg genießen könnte, weil schon ein Drittel der Menschen, Tiere und Dörfer tot waren.
Gilt das heute nicht mehr denn je, daß bei einer Fortsetzung des Krieges niemand das Endresultat genießen könnte, weil niemand einen atomaren Weltkrieg überleben würde?
Kürzlich hat die amerikanische Denkfabrik RAND Corporation ihre bisherige Einschätzung geändert, derzufolge man einen Krieg mit China lieber früher als später führen sollte, weil China mit seinem spektakulären Aufstieg umso mehr im Vorteil wäre, je länger man wartet. Diese Strategie haben sie nun ersetzt durch eine „kontrollierte Rivalität”, wie sie es nennen, offensichtlich weil sie erkannt haben, daß der Zug bereits abgefahren ist und die Vereinigten Staaten einen Krieg mit China schon jetzt nicht gewinnen könnten.
Dennoch kommen sie in dem Papier zu dem Schluß, eine kooperative Koexistenz sei unmöglich, weil die beiden Länder keine gemeinsamen Interessen hätten. Das ist eine sehr wichtige axiomatische Annahme, die wir verurteilen müssen. Denn wenn die Menschheit nicht über die Vorstellung hinauskommt, zwei Länder hätten keine gemeinsamen Interessen und es gäbe nichts, was sie verbindet, dann wird das logische Ergebnis der Dritte Weltkrieg sein.
Deshalb halten wir die Intervention von Papst Leo XIV. für so wichtig, der in seiner jüngsten Rede zum Heiligen Jahr am 25. Oktober namentlich Nikolaus von Kues und die Idee des Zusammenfalls der Gegensätze anführte. Ich zitiere Leo XIV.:
„In einer nicht weniger turbulenten Zeit – im 15. Jahrhundert – hatte die Kirche einen Kardinal, der bis heute wenig bekannt ist. Er war ein großer Denker und Diener der Einheit. Sein Name war Nikolaus, und er stammte aus Kues in Deutschland: Nikolaus von Kues... Viele seiner Zeitgenossen lebten in Angst; andere rüsteten sich für neue Kreuzzüge. Nikolaus dagegen entschied sich schon in jungen Jahren dafür, die Nähe von Menschen zu suchen, die Hoffnung hatten; Menschen, die sich mit neuen Wissensgebieten befaßten, die die Klassiker neu lasen und zu den Quellen zurückkehrten. Er glaubte an den Menschen. Er verstand, daß es Gegensätze gibt, die zusammengehalten werden müssen, und daß Gott ein Geheimnis ist, in dem alles, was in Spannung steht, seine Einheit findet. Nikolaus wußte, daß er nicht alles wußte, und gerade so lernte er, die Wirklichkeit immer besser zu verstehen.“
Für diejenigen, die sich mit Kirchengeschichte auskennen, ist das eine revolutionäre Aussage, denn es gibt in der katholischen Kirche zwei Traditionen. Es gibt die sogenannte „fundamentalistische“ Fraktion: diejenigen, die sagen, nur die Bibel vermittle Wissen darüber, worum es bei Jesus Christus und dem Christentum geht. Aber dann gibt es noch eine andere Fraktion, die als Augustinische Tradition bezeichnet wurde; sie ist überzeugt, daß es keinen Widerspruch zwischen Glauben und Wissenschaft gibt.
Ich behaupte, daß alle Fortschritte in der europäischen Geschichte in Wissenschaft und Kunst auf den Einfluß der zweiten Tradition zurückzuführen sind. Die erste Tradition hingegen war ein Hindernis; diese Leute brachten uns Kreuzzüge, Religionskriege, die schlimmsten Kapitel der Menschheitsgeschichte.
Nikolaus von Kues wurde nach dem Konzil von Trient auf den Index gesetzt. Man durfte seine Schriften nicht lesen und sein Werk nicht loben. Das dauerte ziemlich lange, und infolgedessen wurde Nikolaus von Kues trotz seiner herausragenden Rolle bei der Schaffung der Goldenen Renaissance Italiens zu einer Randfigur gemacht. Es gab einige Leute, die seine Bücher kannten, in einigen Klöstern gab es einige seiner Schriften, aber es war kein allgemeines Diskussionsthema.
Noch Anfang der 1990er Jahre erlebte ich das, ich reiste nach Brasilien in eine Stadt im Südwesten des Landes, Anapolis. Dort traf ich mich mit allen Dominikanern des Ortes. Es war eine riesige Sitzung über Cusa, weil sie wußten, daß ich für Cusa warb. Sie brachten Bücher mit und sagten: „Nein, das ist Ketzerei! Er gehört nicht zur Kirche.“ Wir hatten eine stundenlange Diskussion, in der sie sich sehr bemühten, mich von dieser „Ketzerei“ abzubringen. Offensichtlich ohne Erfolg.
Wenn der Papst nun diese Position einnimmt, ist das nicht nur von Bedeutung für all das, was ich gleich sagen werde, sondern auch für die innere Hygiene der Kirche, denn die Kirche wird immer alle Päpste und Kardinäle in eine Reihe stellen – sie wird nicht sagen, der war ein guter Papst und jener ein schlechter. Für sie ist das Kirchengeschichte. Aber wenn der Papst in einer Rede sagt: „Andere rüsteten sich für neue Kreuzzüge“, dann ist das eine ganz klare fraktionelle Aussage gegen diejenigen, die hinter den Kreuzzügen standen.
Leos ausführlicher Verweis auf Nikolaus von Kues, den ich nur ganz kurz zitiert habe, ist von höchster strategischer Bedeutung, weil es eine Denkweise ist, die eine Lösung scheinbar unlösbarer Probleme ermöglicht. Er führt einen völlig anderen Ansatz ein.
Um diese Methode zu verstehen, muß man als erstes das aristotelische Denken in Widersprüchen und Gegensätzen vollständig ablehnen. Zum Beispiel „A kann niemals B sein“, eine der wichtigsten Aussagen der traditionellen Logik, die darin als ontologisches Prinzip gelten. Aristoteles schreibt in seiner Metaphysik:
„Aber das sicherste Prinzip von allen, bei dem ein Irrtum absolut unmöglich ist... Welches das ist, wollen wir nun darlegen; es ist nämlich unmöglich, daß etwas in einem Verhältnis etwas betrifft und gleichzeitig nicht betrifft... Wir sind aber gerade davon ausgegangen, daß es unmöglich ist, daß etwas gleichzeitig ist und nicht ist.“
Das faßt das Credo der logischen Schule kurz und bündig zusammen.
Nikolaus entwickelte in seinem Werk De Docta Ignorantia [„Die gelehrte Unwissenheit“] ein anderes Prinzip. Erst einige Jahre später stellte er fest, daß einer der prominentesten deutschen Aristoteliker seiner Zeit, Johannes Wenck, dieses Werk in einer Gegenschrift mit dem Titel De Ignota Litteratura [„Über die unbekannte Gelehrsamkeit“] als Ketzerei angegriffen hatte. Cusa antwortete darauf in einer kurzen Schrift, Apologia Doctae Ignorantiae [„Verteidigung der gelehrten Unwissenheit“].
Wer sich mit diesem schwierigen Thema befassen möchte, das natürlich in der Sprache des 15. Jahrhunderts verfaßt ist, kann mit dieser Apologia beginnen, weil sie den unmittelbaren Kern der Kontroverse vermittelt. Er sagt darin, daß die aristotelische Sekte, die heute die Kirche dominiere, leider nicht – wie schon Philo betont habe – auf einer höheren Ebene als der ratio denke, dem rationalen Denken der Tiere. Denn jedes Tier könne auch denken und Schlußfolgerungen ziehen; das sei keine große Leistung. Daher wäre es fast ein Wunder, wenn die aristotelische Sekte Aristoteles aufgeben und es schaffen würde, auf einer höheren Ebene zu denken.
Während die aristotelischen Methode im Widerstreit zwischen Widersprüchen steckenbleibt, ist die Sichtweise der Koinzidenz so, als beobachte man das Geschehen von einem hohen Turm aus: Wenn man auf einem hohen Turm steht, sieht man von oben den Suchenden – die Person, die sucht –, das Gesuchte – das, was gesucht wird – und den Vorgang des Suchens. Mit anderen Worten, man hat eine völlig andere, dynamische Sicht auf die Angelegenheit.
Nikolaus entwickelte auch den Begriff des Vorherwissens – die Vorausschau dessen, wonach man suchen soll. Denn ohne dieses Vorherwissen weiß man nicht, ob das, was man gefunden hat, auch das ist, wonach man gesucht hat. Das ist offensichtlich das Schicksal aller Menschen, die den ganzen Tag im Internet herumsuchen, denn sie finden etwas, wissen aber nicht, ob es auch das ist, wonach sie eigentlich gesucht haben, weil sie keine Kriterien für die Methode haben.
In einem anderen Werk namens De Visione Dei – einem wunderschönen Text, der an die Mönche von Tegernsee gerichtet ist – versucht er zu beschreiben, wie man sich dieses Prinzips bewußt werden kann. Er verwendet dieses Bild: Um eine Ikone herum stehen in einem Halbkreis die Mönche. Trotzdem hat jeder einzelne Mönch das Gefühl, daß Christus auf dem Bildnis ihn direkt ansieht. Das ist eine Art manuductio (pädagogische Methode), um zu zeigen, wie man zur Wand der Widersprüche gelangt, wo man als letzten Schritt geistig über eine Mauer springen muß, weil man diese Wand der Widersprüche nur überwinden kann, wenn man seine Sichtweise komplett ändert.
Cusa wandte diese Methode an, um ein Problem zu lösen, das kein Denker vor ihm lösen konnte: die Quadratur des Kreises. Cusa lehnte die falsche Annahme von Archimedes ab, der die Methode der Erschöpfung verwendet hatte, indem er einem Polygon inner- und außerhalb des Kreisumfangs immer mehr Ecken hinzufügte und behauptete, schließlich komme man so zur Kommensurabilität der beiden geometrischen Formen, so daß Polygon und Kreis eins würden. Cusa verwarf das und betonte, daß man sich um so mehr vom Kreis entfernt, je mehr Ecken man dem Polygon hinzufügt; die beiden seien inkommensurabel.
Professor Haubst, einer der Gründer der Cusanus-Gesellschaft, hat sich am meisten um die Wiederentdeckung des Nikolaus von Kues verdient gemacht, weil er wußte, wo sich die verschiedenen Schriften Cusas befanden. Er sagte seinen Schülern: „Geht in dieses britische Museum oder in jene Bibliothek, dort werdet ihr es finden.“ In der Regel taten sie das auch, so daß er maßgeblich dazu beitrug, die Predigten und anderen Schriften wiederzufinden, und sogar in der intellektuellen akademischen Gemeinschaft international Begeisterung für Cusa auslöste.
Nikolaus entwickelte etwas, was Professor Haubst als das „biogene Gesetz der Evolution“ bezeichnete. Das ist die Idee, daß in der Hierarchie der Arten keine Art ihr volles Potential entfalten kann, wenn sie nicht an mindestens einem Punkt an der nächsthöheren Art teilhat. Das gilt nicht von unten nach oben, sondern umgekehrt von oben nach unten. In Gott, dem Einen, existieren alle widersprüchlichen Wesensursachen in einer grundlegenden Verbundenheit, bevor sie sich in Differenzierungen aufspalten. Der Mensch wird erst durch seine vis creativa, seine schöpferische Kraft, zu seiner vollständigsten Erfüllung erhoben, indem er an Gott teilhat. Der Mensch ist also nur dann ganz Mensch, wenn er an Gottes Schöpfungskraft teilhat und zu einem zweiten Gott wird. Das Tier wiederum entwickelt sein höchstes Potential nur durch die Teilhabe am Menschen. Das weiß jeder, denn jeder kennt den Unterschied zwischen einem Haustier und einem Wildtier.
Die Denkmethode des Zusammenfalls der Gegensätze macht es uns möglich, zuerst an die Menschheit als Gesamtheit in ihrer ganzen Komplexität und Entwicklung zu denken – nicht auf statische Weise, sondern so, daß ihre kontinuierliche Weiterentwicklung eine ontologisch primäre Realität ist. So löst man Konflikte nicht nach der aristotelischen Methode des Widerspruchs, indem man einen Kompromiß auf der Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners oder einer arithmetischen Gleichung findet. Sondern man findet das inhärente Prinzip, das von der höheren Einheit ausgeht, die alle erhebt; es hebt die Orientierung aller Konfliktparteien auf eine höhere Ebene, so daß sie das gemeinsame Interesse und die Einheit ihres Ziels erkennen.
Diese Einheit ist aber keine Uniformität, sondern im Gegenteil eine für alle Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit zwischen souveränen Staaten, die die unterschiedlichen Gesellschaftssysteme respektieren und wie im Kontrapunkt einer Fuge in der Musik zusammenwirken, wo die Vollendung jeden Bestandteil mit dem nächsten interagiert und ihn optimiert und sozusagen für alle Teilnehmer die Energie des Systems zunimmt. Harmonie im Makrokosmos, Frieden auf Erden, kann nur existieren, wenn alle Mikrokosmen, alle Nationen, ihr volles Potential entfalten und davon ausgehen, daß es ihrem besten Interesse ist, die Entwicklung aller anderen Mikrokosmen zu unterstützen, und umgekehrt. Je mehr dies geschieht, desto mehr Freiheitsgrade entstehen, desto reicher wird die Zusammensetzung der Menschheit.
Ist dieses Prinzip des Zusammenfalls der Gegensätze nur eine Theorie? Nein, es ist tatsächlich die philosophische Sichtweise in der Politik der Anführer der Globalen Mehrheit, die versuchen, ein neues wirtschaftliches und politisches System zu schaffen. Präsident Xi Jinping entwickelte die Idee einer Zukunftsgemeinschaft der Menschheit als Einheit. Aber er entwickelte auch vier konkrete Initiativen: die Globale Sicherheitsinitiative, die Globale Entwicklungsinitiative, die Globale Zivilisationsinitiative und die Globale Governance-Initiative.
Insbesondere die letzte, die Initiative für globale Governance, ist eine sehr schöne, konkrete Ausarbeitung der Prinzipien des Westfälischen Friedens, indem genau festgelegt ist, wie Nationen miteinander umgehen sollen. Es spielt keine Rolle, ob sie klein oder groß sind; jede hat das gleiche Stimmrecht. Niemand kann durch die Macht eines anderen überstimmt werden, die Nichteinmischung muß auch für die kleinsten Länder respektiert werden. Es ist ein sehr ausgefeiltes Konzept.
Aber auch Präsident Putin hat eine neue eurasische Sicherheitsarchitektur gefordert, in der Nationen zusammenarbeiten wie Instrumente, die in einer symphonischen Komposition zusammen spielen. In seiner Rede auf der jüngsten Jahresversammlung des Waldai-Clubs, einem Forum für Intellektuelle, sagte er:
„Die heutige Welt ist ein außergewöhnlich komplexes, facettenreiches System. Um sie richtig zu beschreiben und zu verstehen, reichen einfache Gesetze der Logik, Ursache-Wirkungs-Beziehungen und die daraus resultierenden Muster nicht aus. Was hier benötigt wird, ist eine Philosophie der Komplexität – etwas ähnliches wie die Quantenmechanik, die weiser und in gewisser Weise komplexer ist als die klassische Physik.“
Hier sind also zwei Staatschefs wichtiger Länder der Globalen Mehrheit, die die aristotelische Methode klar ablehnen. Nutzen wir also dieses Konzept des Nikolaus von Kues, den Zusammenfall der Gegensätze, um unsere Politik gegenüber allen Nationen der Welt zu gestalten.
Das bedeutet, daß wir uns fest dazu verpflichten müssen, die Länder Europas und die Vereinigten Staaten dazu zu bewegen, mit den BRICS-Staaten, der SCO, der ASEAN, der CELAC, der Eurasischen Wirtschaftsunion, der Afrikanischen Union, der OIC, dem Golf-Kooperationsrat und ähnlichen Organisationen zusammenzuarbeiten, um die Industrialisierung Afrikas voranzutreiben.
Bis 2050 wird Afrika 2,5 Milliarden Einwohner haben, eine Milliarde mehr als heute. Es ist der einzige Kontinent mit Bevölkerungswachstum, alle anderen stagnieren. Das bedeutet, daß wir in den nächsten 25 Jahren eine Milliarde neue, produktive Arbeitsplätze schaffen müssen.
Ein sehr schönes Beispiel dafür, wie das geschehen kann, ist der Grand Ethiopian Renaissance Dam (GERD), der in nur wenigen Jahren (ich glaube fünf Jahren) in einer Zusammenarbeit zwischen chinesischen, äthiopischen, italienischen und französischen Unternehmen gebaut wurde. Er kostete nur 5 Milliarden Dollar, die in diesem Fall durch die Ausgabe von Anleihen aufgebracht wurden, die alle von äthiopischen Bürgern gekauft wurden. Die 5 Milliarden Dollar werden in fünf Jahren amortisiert sein, nachdem 1 Milliarde Dollar pro Jahr gedeckt sind. Nach fünf Jahren ist das Projekt rentabel. Äthiopien beginnt bereits jetzt, Strom in seine Nachbarländer zu exportieren, wenn sein eigener Bedarf gedeckt ist.
Das ist ein Beispiel dafür, was absolut realisierbar ist. Es läßt sich wiederholen mit dem Inga-Staudamm im Kongo und mit dem Transaqua-Projekt, bei dem 3-5% des Wassers aus dem Kongo in 500 Metern Höhe entnommen und über ein System von Kanälen und Flüssen zum Tschadsee geleitet werden sollen. Das würde zwölf Länder entlang der Strecke industrialisieren und Bewässerung in der Sahelzone ermöglichen, was Landwirtschaft ermöglichen und zur Überwindung der Instabilität in dieser Region beitragen würde.
Das muß unbedingt mit dem Beringstraßen-Tunnel verbunden werden, der schon bald gebaut werden kann. Das könnte in wenigen Wochen beginnen, weil es ein Thema in den Gesprächen zwischen den Vereinigten Staaten und Rußland mit Trump und Putin war. Das würde die Infrastruktur-Verbindung zwischen Amerika und Asien schaffen, und dann könnte man bald mit dem Schnellzug von der Südspitze Chiles und Argentiniens durch Lateinamerika, Mittelamerika, Nordamerika, Kanada, Alaska, den Beringstraßentunnel und ganz Eurasien bis nach Spanien fahren, dann weiter in Gibraltar durch den noch zu bauenden Tunnel unter der Straße von Gibraltar und bis zum Kap der Guten Hoffnung. Man könnte praktisch in wenigen Tagen um die ganze Welt reisen. Weitere Strecken würden natürlich von China, Iran, Indien, Südostasien bis zu den Philippinen mit Fähren und anderen Verkehrsmitteln führen.
Diese Idee eines internationalen Infrastrukturnetzes, das solche Reisen innerhalb weniger Tage ermöglicht und die gesamte Menschheit verbindet, wird die Mentalität der Menschen völlig verändern. Denn Infrastruktur verändert die Denkweise der Menschen; das hat sich in der Geschichte jedesmal bewährt, wenn es umgesetzt wurde.
Dies ist eine der Kernideen von Krafft Ehricke, dem berühmten deutschen Raketenwissenschaftler, der den Begriff des „extraterrestrischen Imperativs” geprägt hat. Er sagte, die Identität der Menschen werde sich grundlegend ändern, sobald sie gemeinsam Raumfahrt betreiben, weil sich die Art und Weise, wie Menschen miteinander umgehen, verändern wird. Man sieht das schon bei den Astronauten auf der ISS, die niemals denken würden: „Das ist ein Russe, das ist ein Amerikaner”, sondern sie denken: „Wir sind Astronauten, die den kleinen Planeten Erde als einen winzigen, zerbrechlichen blauen Planeten in einem riesigen Universum mit Billionen von Galaxien betrachten.“
Versuchen Sie einmal, sich Billionen von Galaxien vorzustellen, und Sie werden verstehen, warum wir unsere Sichtweise komplett ändern und unseren Blick nicht zum Boden richten, sondern zu den Sternen erheben müssen.
Wir sind eine schöpferische Gattung und können deshalb eine neue Ära der Menschheit schaffen. Anstatt der NATO den Westfälischen Friedenspreis zu verleihen, sollten wir ernsthaft eine neue Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur aufbauen und die NATO auflösen.
Befolgen Sie den Rat von Leo XIV., der auch sagte, das besondere an Nikolaus von Kues sei, daß er die Klassiker wieder las. Kues forderte wie alle Humanisten seiner Zeit und aller Zeiten, daß man, um die Wahrheit zu finden, nicht die Fußnoten der Professoren lesen sollte, sondern daß man zu Platon zurückkehren sollte, zu Augustinus, zurück zu den Quellen. Denn das ist gleichzeitig das beste Mittel gegen das „Wahrheitsministerium“. Es lehrt einen, selbstständig zu denken, die Wahrheit zu finden und sich gegen solche Manipulationsversuche zu immunisieren.
Laßt uns also mit Freude und Optimismus diese Aufgabe in Angriff nehmen!
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