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Aus der Neuen Solidarität Nr. 15/2008 |
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Harry van Bommel ist Mitglied des niederländischen Parlaments und außenpolitischer Sprecher der Sozialistischen Partei, die die drittstärkste Partei im Land ist und gegenwärtig die Opposition anführt. Dean Andromidas interviewte ihn am 26. März 2008.
EIR: So weit ich weiß, haben Sie die „Nein-Kampagne” während des Referendums 2005 angeführt, das mit der Ablehnung der Europäischen Verfassung endete. Könnten Sie uns etwas über die Rolle Ihrer Partei in jener Kampagne sagen?
Van Bommel: In den Niederlanden haben wir zwei politische Lager, die eigentlich eher Strömungen sind. Unter ihnen sind Gruppierungen des linken und rechten Spektrums, die gegen ein schnelles Tempo bei der Umwandlung Europas in einen Bundesstaat sind. Und von allen Parteien, die gegen den Vertrag mobilisiert haben, waren wir die größte und am besten organisierte. Wir haben eine lange Tradition von Bürgerkampagnen auf allen Ebenen - von der lokalen bis zur nationalen und internationalen Ebene. Und wir waren in der Lage, alle unsere Parteigliederungen im Land zu mobilisieren, um eine Rolle in einer nationalen Bewegung zu spielen. Erstens um die Menschen zu informieren, worum es bei der Verfassung überhaut ging, und zweitens, um die Menschen zu bewegen, zur Abstimmung zu gehen und mit „Nein” zu stimmen.
Die Menschen haben von uns als sozialistischer Partei nicht unbedingt erwartet, daß wir den Vertrag ablehnen würden. Aber wir waren in der Lage zu zeigen, daß dieses Europa ein Europa der multinationalen Interessen ist, die glauben, daß der Markt der einzige Weg ist, etwas zu erreichen! Und wir konnten zeigen, daß dieser Verfassungsvertrag ein neoliberales Produkt ist, mit dem wir in einen undemokratischen Superstaat und in die Militarisierung Europas marschieren und zu einem Europa werden, in dem vor allem die kleineren Staaten eine verschwindend kleine Rolle spielen werden. All diese Argumente haben in vielen Menschen Interesse geweckt, herauszufinden, was es mit dieser Verfassung auf sich hat, und mehr Informationen zu bekommen. Und ein höherer Informationsgrad führt meistens zu einer „Nein-Haltung”, wenn es um europäische Verträge geht.
Auf der Linken waren wir die einzige Partei, die den Vertrag ablehnte. Auf der Rechten gab es Wilders1, der jetzt mit seinem Film Schlagzeilen macht. Er war sehr stark gegen den Vertrag, weil die Türkei, wenn sie denn in die EU aufgenommen würde, mehr Einfluß in Europa bekommen würde. Das war eines seiner Hauptargumente. Auch kleinere christliche Parteien waren gegen den Vertrag, weil sie keinen europäischen Bundesstaat wollen. Und sie argumentierten, ähnlich wie wir, daß mit diesem Vertrag ein großer Schritt in Richtung eines europäischen Bundesstaates getan würde.
EIR: Ihre Partei führt jetzt eine Kampagne für ein nationales Referendum über den Vertrag.
Van Bommel: Unsere Aktivisten sind dabei, Unterschriften zu sammeln. Aber um ehrlich zu sein, steht das bei der breiten Bevölkerung in Holland im Moment nicht allzu hoch auf der Tagesordnung. Vielleicht hat das damit zu tun, daß die holländische Regierung die Debatte um den Vertrag weitgehend entpolitisiert hat, indem sie sagt: „Es geht nicht mehr um eine Verfassung”, was natürlich alles gelogen ist. Aber es hat dazu geführt, daß die Koalitionsparteien eine Debatte um den Vertrag erfolgreich abwürgen konnten. Jedoch werden wir wieder eine Debatte bekommen, wenn der Zeitpunkt der Ratifizierung näher rückt. Um ein Referendum durchzusetzen, haben wir und einige andere politische Parteien einen Gesetzesvorschlag im Parlament eingebracht, der innerhalb der nächsten zwei Monate, denke ich, zur Abstimmung kommen wird. Wir haben also auf beiden Ebenen angesetzt, auf der politischen und der öffentlichen, durch Artikel, öffentliche Debatten und das Sammeln von Unterschriften.
EIR: Wir erleben die schlimmste Finanzkrise seit der Großen Depression. Wir sind eindeutig in einer Systemkrise, in der der gegenwärtige Kollaps des internationalen Finanzsystems nur durch nationale Regierungen gelöst werden kann, die ein neues System nach dem Vorbild des Bretton Woods-Systems errichten müssen. Wird sich die Bevölkerung bewegen lassen, wenn sich die Wirtschaftskrise verschärft?
Van Bommel: Sie wird die Bevölkerung beeinflussen, weil in Zeiten finanzieller und wirtschaftlicher Probleme das Vertrauen in die Regierung schwindet, wenn sie nicht wirklich in der Lage ist, die schwierige Position der „Marktkräfte” zu verändern. Sie können der Bevölkerung die Lage der Wirtschaft und Finanzmärkte „schönreden“, und wenn das nicht hilft und wenn die Bevölkerung sieht, daß die Regierungen Europas die Finanzkrise nicht unter Kontrolle bringen können, wird das das allgemeine Mißtrauen weiter erhöhen. Und das wird jedes zur Entscheidung anstehende europäische Vertragswerk beeinflussen, weil die Leute mehr Angst vor der Zukunft bekommen und sich fragen, wohin das alles noch führen soll.
EIR: In Zeiten einer Wirtschaftskrise kann nur eine Regierung eingreifen, wie es FDR in den dreißiger Jahren während der Depression gemacht hat. Glauben Sie nicht, daß dies für die Kampagne ein wichtiger Punkt wäre?
Van Bommel: Ja, tatsächlich, auch weil dies eine der größten Krisen ist, vor denen wir heute stehen - und wir wissen nicht, wo sie noch enden wird. Ihre Vorhersage, daß das am Ende zu einem neuen System führt, könnte richtig sein, aber ich kann das nicht beweisen, und Sie auch nicht. Aber daß wir ein ernsthaftes Problem an der Hand haben, sollte jedem offensichtlich sein, und wir haben es mit großen, mächtigen Spielern zu tun.
EIR: Der Vertrag von Lissabon öffnet den Weg für die Militarisierung der Europäischen Union. Wie sehen Sie das?
Van Bommel: Ja, es ist das gleiche Problem wie in dem alten Verfassungsentwurf, aus dem klar das Ziel hervortrat, einen richtigen Europäischen Staat zu schaffen mit einer gemeinsamen europäische Außenpolitik und einer Armee, die die militärischen Aufgaben übernehmen kann, um diese Außenpolitik durchzusetzen.
Obwohl es viele Unterschiede in Europa gibt, sehen wir schon einzelne EU-Kampfgruppen; wir sehen Militärmissionen der EU auf dem Balkan und in Afghanistan. Das ist nicht mehr nur ein Zukunftsrisiko, sondern eine Tatsache, daß Europa sich auf dem Weg zu einer Militärmacht parallel zur Nato befindet, die schon nach eigenen Kriegseinsätzen in allen Teilen der Welt Ausschau hält. Dies betrifft nicht mehr nur Europa, sondern bereits die ganze Welt.
Es gibt dann auch die Artikel mit der Beistandsverpflichtung in einem Konfliktfall. Mit der Erweiterung der EU und dem Beitritt von Ländern, die in den letzten 10 Jahren mit gewaltsamen Konflikten zu tun hatten, mit dem Problem auf Zypern und in anderen Krisenherden - wenn man das alles zusammennimmt, sieht man sehr deutlich das große Risiko, das wir mit der Verabschiedung des Vertrages eingehen.
Und es gibt fast keine Debatte um diese Frage, was ich sehr bedauere. Denn die Implikationen der Schaffung von EU-Kampfgruppen, der Druck auf Länder, ihre militärischen Kapazitäten aufzustocken, und die Verwandlung der EU in eine Militärmacht, das alles ist so schwerwiegend, daß man es nicht ohne eine ernsthafte Debatte durchgehen lassen sollte.
EIR: Eine Gruppe von fünf Generälen, ehemalige Generalstabschefs in ihren jeweiligen Armeen, haben eine Studie darüber veröffentlicht, wie die NATO und die Verteidigungspolitik der EU verändert werden sollte. Kaum war der Bericht veröffentlicht, als der EU-Außenpolitiker Javier Solana eine Studie zur Energiesicherheit der EU herausgab, der mit den Vorschlägen der Generäle fast identisch ist.
Van Bommel: Das stimmt, alles paßt zusammen. Solana hat einen NATO-Hintergrund, genau so wie die Generäle. Was wir beobachten, ist das Zusammenwachsen der Nato und der EU, wodurch die EU der Nato ermöglicht, sich aus Krisengebieten zurückzuziehen, weil die EU dort die Funktionen übernimmt. Das hat teilweise mit der Krise in der Nato zu tun, weil viele Länder nicht bereit sind, zu liefern, was sie versprochen hatten oder von ihnen verlangt wurde. Und so könnte die EU eine alternative Quelle für die Kräfte sein, die aus den Nato-Ländern nicht zur Verfügung stehen.
EIR: Die Frage stellt sich da: Wer ist der Feind?
Van Bommel: Wenn man die Papiere der Generäle und die von Solana liest, dann ist der Feind der Terrorismus. Der Feind könnten aber auch Länder sein, die nicht bereit sind, voll bei kritischen Infrastrukturprojekten wie Ölpipelines oder Wasserwegen oder anderen wichtigen Projekten zusammenzuarbeiten. So wird eine neue Aufgabe für die Nato und in Zukunft auch für die EU konstruiert.
EIR: Sehen Sie das als reines Abenteurertum?
Van Bommel: Ja, das ist es.
EIR: Dies führt zu einer gefährlicheren Welt. Wir brauchen Zusammenarbeit unter den größeren Mächten der Welt, vor allem den USA, Rußland, China, Indien und Europa.
Van Bommel: Dies führt uns in einen neuen Kalten Krieg. Das habe ich heute morgen in einer Debatte mit unserem Außenminister gesagt. Aber sie leugnen das, sie sagen, ein Raketenabwehrsystem sei keine Bedrohung für Rußland. Es gibt keine Bereitschaft, die Lage einmal von einer russischen Perspektive aus zu betrachten, und das führt zu unmöglichen Diskussionen, wenn es um die Nato-Erweiterung durch Georgien und die Ukraine geht. Sie schaffen vollendete Tatsachen, so daß Alternativen nicht in Betracht kommen und uns nichts anderes übrig bleibt, als das amerikanische Abwehrsystem zu akzeptieren oder sogar uns daran zu beteiligen. Auch Rußland wird gezwungen, es zu akzeptieren.
EIR: Wie sehen Sie die Aussichten auf Rücknahme des Vertrages, falls er doch ratifiziert werden sollte?
Van Bommel: Ich denke, es ist sehr schwer, aus einem ratifizierten Vertrag auszusteigen. Wir haben das jedenfalls bei früheren Verträgen nicht erlebt. Ich möchte das viel lieber einem Referendum überlassen, als der Möglichkeit einer Deratifizierung.
EIR: Können Sie noch etwas mehr dazu sagen, was Sie als Hauptgefahr für die Niederlande sehen?
Van Bommel: Die Tatsache, daß wir unsere Souveränität aufgeben, indem wir das Vetorecht für die Gültigkeit der qualifizierten Mehrheit weggeben, wird als etwas gesehen, das wir niemals hätten aufgeben dürfen. Und darum fühlen wir uns von unserer eigenen Regierung verraten, weil sie Schritte zu einem europäischen Bundesstaat unternommen hat, in dem die Position kleinerer Länder wie Holland bedroht wäre. Das hätte sie mit einkalkulieren müssen, aber sie hat das nicht getan. Sie hat schlicht und einfach einen Vertrag akzeptiert, der zu 95 % mit dem alten Verfassungsentwurf übereinstimmt. Und dadurch werden alle, die mit Nein gestimmt haben, an der Nase herum geführt - nur, weil es jetzt keine Verfassung mehr sein, und es weder Flagge noch Hymne geben soll, also keinerlei Symbole, die mit einem Bundesstaat zu tun haben. Wir fühlen uns betrogen nicht nur wegen des Inhalts, sondern auch wegen der Dinge, die man aus dem Vertrag herausgenommen hat.
Einer unserer Einwände lautet, daß wir Europa zu schnell erweitert haben und die Unterschiede zwischen den neuen und alten Ländern sehr schnell gewachsen sind. Es wäre viel weiser, wir ließen es zu einer Angleichung der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Standards z.B. bei der Korruptionsbekämpfung kommen. Dann könnten wir später sehen, wie wir die Regeln darüber verändern können, wie Europa regiert werden soll. Solange das nicht der Fall ist, werden wir viel Zwietracht erleben, und durch die Aufgabe des Vetorechts werden Länder zur Annahme von politischen Vorgaben gezwungen, die sie sonst nie akzeptiert hätten.
Das bedeutet, in Zukunft werden Regierungen nach Hause gehen und sagen: „Wir waren dagegen, aber die Mehrheit hat anders abgestimmt”, und dadurch wird die öffentliche Zustimmung zu Europa noch weiter untergraben. Kurzfristig könnte es gut erscheinen, wenn es kein Referendum gäbe und die Regeln des Entscheidungsprozesses geändert würden, aber langfristig hilft das den Menschen nicht, die ein starkes Europa bauen wollen. Denn keine Institution wird ohne breite öffentliche Unterstützung überleben können, und Europa fehlt es mehr an öffentlicher Zustimmung als an der Fähigkeit zu regieren.
Anmerkung
1. Der Islamgegner Gert Wilders ist der Anführer der Holländischen Freiheitspartei, die gegen die Einwanderung mobilisiert hat. Er hat gerade einen 15-minütigen Film („Fitna”) gemacht, in dem er den Islam angreift.
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