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Neue Solidarität
Nr. 36, 9. September 2021

Roundtable des Schiller-Instituts zu Afghanistan

Mit der neuen Regierung zusammenarbeiten und Wirtschaftsprojekte umsetzen – das empfiehlt eine Expertenrunde
zur Lage in Afghanistan.

Während im Westen weiter Hysterie über den „chaotischen“ Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan und die Übernahme des Landes durch die Taliban verbreitet wird, organisierte das Schiller-Institut am 21. August unter dem Titel „Afghanistan – eine Chance für eine neue Epoche der Menschheit“ eine rationale Diskussion darüber, was zu tun ist. Drei Hauptthemen wurden während des Dialogs zwischen den Rednern immer wieder angesprochen:

Teilnehmer des virtuellen Roundtable waren neben der Vorsitzenden des Schiller-Instituts Helga Zepp-LaRouche der deutsche Militär- und Philosophieexperte Oberstleutnant a.D. Ulrich Scholz, der ehemalige Leiter des UN-Büros für Drogenbekämpfung (1997-2002) Pino Arlacchi, heute Professor an der Universität Sassari in Italien, Hassan Daud aus Pakistan, Leiter der Investmentbehörde der Provinz Khyber Pakhtunkhwa, Ray McGovern, ehemaliger CIA-Analyst und Mitbegründer der Veteran Intelligence Professionals for Sanity (VIPS) sowie Nipa Banerjee, Professorin an der Universität Ottawa.

Westliche Strategie mehr denn je in Frage gestellt

Helga Zepp-LaRouche erklärte in ihrer Eröffnungsrede, die Geschehnisse in Afghanistan seien eine verheerende Niederlage für die Politik der endlosen Kriege und geopolitischen Spiele. Der Schlüssel zur Stabilisierung der Lage in Afghanistan sei eine rasche wirtschaftliche Entwicklung und damit die Aussicht auf eine vielversprechende Zukunft ohne Krieg. „Afghanistan gehört schon zu den zehn ärmsten Ländern der Welt, es wurde von einer schrecklichen Dürre heimgesucht. Jeder dritte Einwohner Afghanistans ist von Ernährungsunsicherheit betroffen. Und dann gibt es bekanntlich eine Pandemie. Das Schlimmste, was passieren könnte, ist, daß einige schlaue – oder nicht so schlaue – Leute im Westen an einen Finanzkrieg denken und sagen: ,OK, die militärische Option ist ausgeschlossen, weil man in Afghanistan nicht gewinnen kann. Das haben die Briten, die Sowjets und jetzt die NATO bewiesen. Warum verlegen wir also nicht auf finanzielle Kriegsführung?'“

Bereits jetzt hätten die USA die Guthaben der afghanischen Zentralbank bei der Federal Reserve und anderen US-Finanzinstituten von über 9 Mrd.$ eingefroren. Die Europäische Union habe am 17. August bis zur „Klärung der Lage“ die gesamte Entwicklungs- und staatliche Hilfe eingestellt, nachdem Deutschland dies für seine nationale Entwicklungshilfe bereits entschieden hatte. Wenn der Westen in einer derart fragilen Situation beschließe, „einen militärischen Aufstand in Kombination mit einem Finanzkrieg“ anzuzetteln, in der Hoffnung, Chaos zu stiften und die Taliban irgendwie zur Aufgabe der Macht zu zwingen, „wäre das die größte Dummheit, die man sich vorstellen kann“. Die einzige Möglichkeit zur Verbesserung der Lage bestehe darin, Afghanistan und der neuen Regierung, die aus den laufenden Gesprächen hervorgehen wird, Hilfe anzubieten und geopolitische Spielchen zu vermeiden.

In der Diskussion betonte Zepp-LaRouche, das bedeute nicht, den Taliban einen Blankoscheck auszustellen oder blind auf deren Versprechungen zu vertrauen: „Natürlich müssen die Taliban in die Pflicht genommen werden.“ Aber um einen politischen Wandel herbeizuführen, müßten wirtschaftliche Entwicklung und die Aussicht auf regionale Integration, z.B. im Rahmen der Gürtel- und Straßen-Initiative, gewährleistet sein. Anstatt sich in ideologische Debatten zu stürzen oder die Bedeutung dieses oder jenes Wortes zu analysieren, gebe es reale und sehr ernste Probleme zu lösen – auch für die Taliban.

Über Afghanistan hinaus sei die gegenwärtige Krise „Ausdruck eines sehr tiefsitzenden Problems darin, wie der Westen diese endlosen Kriege geführt hat – Afghanistan, Irak, Syrien, Jemen, Libyen, die Liste ist sehr lang“. Die westlichen Regierungen müßten ernsthaft darüber nachdenken, ob diese Politik tragfähig ist, oder ob die Niederlage in Afghanistan nicht vielmehr das „Menetekel“ für die westliche Zivilisation ist, das den eigenen Untergang ankündigt, so wie es Heinrich Heine in seinem Gedicht Belsazar beschreibt.

Zum Abschluß ihrer Rede fragte Zepp-LaRouche: „Ist es nicht höchste Zeit, die axiomatischen Annahmen über Rußland, über China, über die Gürtel- und Straßen-Initiative zu ändern? Denn das Angebot zur Zusammenarbeit steht immer noch, von den Chinesen, von den Russen. Ich denke daher, daß wir uns in einer unglaublich dramatischen Situation befinden, so wie wir dies vor drei Wochen besprochen haben, aber in der Zwischenzeit haben die Ereignisse bewiesen, daß unsere Diskussion äußerst vorausschauend war.“

In der Tat unterstreichen die Ausraster des ehemaligen Premierministers Tony Blair und anderer britischer Vertreter, wie sehr der Abzug der US-Kräfte nach 20 Jahren Krieg und Zerstörung die Chance bietet, das „Meisterwerkzeug“ des Empire, die Geopolitik, abzuschaffen.

Prof. Arlacchi betonte, was wir jetzt nicht bräuchten, sei „Talibanologie“, d.h. Spekulationen aus der Ferne über die Absichten der Taliban. Viele andere stimmten zu und erklärten, die USA und Europa müßten mit anderen Großmächten wie Rußland, China und Indien sowie den unmittelbaren Nachbarn Afghanistans – Iran, Pakistan, die zentralasiatischen Staaten – bei humanitärer Hilfe und wirtschaftlichen Initiativen zusammenarbeiten.

Zu der Frage, wie man die neue Taliban-Regierung beurteilen kann, sagte Ray McGovern, man brauche einen ehrlichen Überwachungsprozeß vor Ort, z.B. durch die UN. Der vor einigen Jahren vom US-Kongreß eingesetzte Sonderinspekteur für afghanischen Wiederaufbau habe wahrheitsgetreu über die Aktivitäten der USA und der NATO in Afghanistan Buch geführt, und diese Fakten bestätigten, daß die US-Regierung jahrelang bewußt über angebliche „Fortschritte“ in Afghanistan gelogen habe. Prof. Banerjee stimmte in diesem Punkt ausdrücklich zu. Diese Dokumente wurden 2019 von der Washington Post veröffentlicht – „das einzig Nützliche, was die Washington Post in den letzten 20 Jahren getan hat“, so McGovern.

Hassan Daud faßte die Hauptaspekte der wirtschaftlichen Entwicklung für die Region zusammen und merkte an: „Wenn die afghanische Regierung stark und stabil ist, kann sie China die Hand reichen“ und mit der Gürtel- und Straßen-Initiative (BRI) sowie der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) zusammenarbeiten, in der sie Beobachterstatus hat.

Internationale Aufmerksamkeit

Die Veranstaltung schloß an das erfolgreiche Webinar des Schiller-Instituts vom 31. Juli (vor dem Abzug) an, bei dem ein Überblick über Entwicklungschancen für Afghanistan und die Region gegeben wurde (wir berichteten, siehe https://schillerinstitute.com/blog/2021/07/29/afghanistan-a-turning-point-in-history-after-the-failed-regime-change-era/) und das in internationalen Medien Aufmerksamkeit fand, insbesondere in China und im Iran.

So produzierte beispielsweise Chinas internationale Medienorganisation CGTN ein sechsminütiges Video mit Auszügen aus der Grundsatzrede, die Helga Zepp-LaRouche am 31. Juli gehalten hatte. Das CGTN-Video trägt den Titel: „Afghanistan: Die glänzende Zukunft für die kommende Zusammenarbeit der Großmächte“ (https://news.cgtn.com/news/2021-08-20/Afghanistan-Bright-future-for-the-coming-cooperation-of-great-powers-12QYAxWPJe0/index.html).

Am 20. August wurde der Südwestasien-Koordinator des Schiller-Instituts, Hussein Askary, vom iranischen PressTV eingeladen, um über die strategischen Beziehungen des Irans zu Rußland und China unter der neuen Regierung in Teheran sowie über die Zukunft Afghanistans und die BRI-Strategie zu sprechen. (Das Interview in englischer Sprache finden Sie unter: https://www.presstv.ir/Detail/2021/08/21/664878/Iran%E2%80%99s-ties-with-China-&-Russia)

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