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Die Bürgerproteste gegen den Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofs zeigen das Mißtrauen der Bevölkerung gegen die politische Klasse, aber keine Lösung für die Krise.
Wenn man sich derzeit in Deutschland Gedanken über Infrastrukturprojekte macht, entsteht nicht gerade ein Hochgefühl spontaner Begeisterung für zukunftsweisende Verkehrsprojekte, Kommunikationsnetze oder Energieproduktionsstätten, sondern viel eher schon die reflexartige Frage nach den Kosten. Bevor überhaupt eine erste Idee über Entwicklungen, Verbesserungen oder wenigstens adäquate Instandsetzungen der bestehenden Infrastruktur entstehen kann, ist sie also bereits dem Rotstift zum Opfer gefallen. Dies trifft um so mehr auf großangelegte Neukonzeptionen der Infrastruktur für eine ganze Region oder gar ein ganzes Bundesland oder einen Länderverbund zu, ohne die die Einführung neuartiger Technologien überhaupt nicht umzusetzen ist.
Schließlich macht es weder vom entwicklungstechnischen, noch vom raumordnungsplanerischen Standpunkt Sinn, eine neue Technologie voranzutreiben, wenn sie dann nicht flächendeckend eingeführt wird, weil sie in diesem Fall ihre Stärken gegenüber vorhandenen Konkurrenztechnologien nicht voll ausspielen kann und zudem der Entwicklungsaufwand in keinem volkswirtschaftlich vertretbaren Verhältnis zum Nutzen steht. Hinzu kommt noch die heutzutage oftmals favorisierte Finanzierungsvariante der sog. „Öffentlich Privaten Partnerschaft“ (ÖPP), bei der private Investoren an den Investitionskosten eines Projektes beteiligt werden sollen, um diese für die öffentliche Hand möglichst gering zu halten. Daß diese Rechnung meistens nicht aufgeht, weil jene Privatinvestoren möglichst kurzfristige Profite (zulasten des Allgemeinwohls) sehen wollen, was der gesamten Idee von Infrastrukturinvestitionen diametral entgegensteht, sei hier nur am Rande erwähnt.
Um nun diesen einleitenden dürren Sätzen etwas ‚Fleisch’ zu geben, sei das Ganze am Beispiel der Einführung der Eisenbahn vor beinahe zwei Jahrhunderten erläutert:
Damals, am Beginn der Industrialisierung, hätte sich diese Technologie niemals gegenüber der Konkurrenz aus Fuhrwerken, Transportschiffen und Lasttieren durchgesetzt, wenn man diese neuartige Verkehrstechnologie lediglich als tatsächliche Konkurrenz zu jenen Transportmitteln verstanden, d.h. jede einzelne infragekommende Teilstrecke für sich durchgerechnet und eins zu eins mit den Alternativen verglichen hätte. Da man sie aber im Verbund mit den bahnbrechenden Verbesserungen im Untertagebau, dem aufkommenden Hüttenwesen, der notwendigen Vernetzung größerer Rohstoffeinzugsgebiete, der Entwicklung neuartiger Maschinen und Anlagen, sowie dem internationalen Handel mit Halbfertig- und Fertigprodukten betrachtete, machte die stetige Verbesserung der Eisenbahntechnologie und ihre flächendeckende Einführung absolut Sinn; und ohne sie hätte es auch keine Industrialisierung gegeben - man stelle sich den Transport von Kohle, Stahl und Maschinen in einer vertretbaren Zeit von und nach allen möglichen, oft auch entlegenen Orte (wie Erzminen, Innenstädte, abgelegenen Berg- und Talregionen, usw.) mit den oben erwähnten bisherigen Transportmitteln vor.
Wenn man diese Überlegungen nun auf die heutige Zeit überträgt, kann man schnell feststellen, daß genau der eben beschriebene Fehler, nämlich die Eins-zu-Eins-Übertragung von Infrastrukturprojekten oder deren Planung, derzeit gang und gäbe ist und so selbst die rudimentärsten Ansätze einer etwas umfassenderen Sichtweise auf die Entwicklung unserer Infrastruktur sofort im Keim erstickt werden.
Daß es sich bei den Argumenten z.B. gegen Verkehrsprojekte wie dem Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs, dem sog. Projekt Stuttgart 21, inzwischen nicht mehr in erster Linie um Umweltschutzbedenken handelt, sondern zunehmend gerade von der Bevölkerung - also nicht nur von Regierungsseite her - um Kosteneinwände geht, ist bezeichnend. Es zeigt nämlich, wie stark der Sparreflex, der nun schon seit über 20 Jahren von Politik, Wirtschaftswissenschaft und Medien gepredigt wird, auch vom ‚kleinen Manne’ verinnerlicht wurde und damit jegliche Möglichkeit der unvoreingenommenen Überlegung hinsichtlich einer wie auch immer gearteten Veränderung der Grundlage unserer Mobilität und Arbeitsflexibilität zunichte macht.
Um nun die Argumente pro und contra Stuttgart 21 abwägen zu können, bietet sich eine kurze Beschreibung des Projektes an, das seit etwa einem Vierteljahrhundert in der Planung und Diskussion steht:
Der bisherige Hauptbahnhof in Stuttgart ist ein Kopfbahnhof, der sehr dicht an das Zentrum der Landeshauptstadt herangeführt wurde, was angesichts der oben angedeuteten Entwicklungen während der Industrialisierung Deutschlands nicht ganz abwegig war. Inzwischen sind aber einige Jahrzehnte ins Ländle gegangen und die damalige Industrialisierung ist einer nachindustriellen Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft gewichen.
Nun sieht die Planung des Projekts eine Umwandlung des Kopfbahnhofs in einen Durchgangsbahnhof vor, dessen Trassenführung unter die Erdoberfläche verlegt und um 90 Grad gegenüber dem bisherigen Gleisverlauf gedreht werden soll (siehe nebenstehende Karte). Dadurch soll sowohl eine direkte Anbindung des südlich des Stadtgebiets auf der Filderhochebene gelegenen Stuttgarter Flughafens mittels eines Tunnels erreicht werden, als auch eine direktere Verbindung der ICE-Strecke Mannheim-Stuttgart-München, die bisher in einem großen Bogen um die Innenstadtbezirke herumgeführt und in den Kopfbahnhof geleitet wurde.
Während nun die Befürworter von Stuttgart 21 die Zeitersparnis der verschiedenen Anbindungen dieses neuen Bahnhofs an die umliegenden Städte und die Möglichkeiten einer städtischen Nutzung der bisherigen Gleisflächen hervorheben, wird von den Gegnern der aus ihrer Sicht unverhältnismäßige Kostenaufwand, der Teilabriß des denkmalgeschützten Bahnhofsgebäudes, sowie die Geringfügigkeit der Zeitersparnis pro Strecke ins Feld geführt (diese und weitere Pro- und Contra-Argumente werden derzeit lang und breit in Presse und Internet ausgetauscht und können dort eingesehen werden).
Der geneigte Leser wird sich an dieser Stelle natürlich zum einen fragen, welche Seite denn nun die stichhaltigeren Positionen vertritt, und zum anderen, warum diese erst jetzt in einer derart polemischen Form ausgetragen werden, nachdem das Kind ja nun schon fast in den Brunnen gefallen zu sein scheint.
Die erste der beiden Fragen trifft nicht den Punkt, um den es hier geht, denn sowohl den Befürwortern, wie auch den Gegnern fehlt es offensichtlich am nötigen Weitblick und am grundlegenden Verständnis der Funktion einer Realwirtschaft, um zu sinnvollen Bewertungen derartiger Infrastrukturvorhaben zu kommen.
Denn wenn wir den bisherigen Kurs in ein nachindustrielles Zeitalter beibehalten wollen, würden zwar, wie von den Gegnern betont, kostenintensive Veränderungen der Infrastruktur keinen Sinn mehr machen, wir würden uns dann aber über kurz oder lang selbst wegrationalisieren. Schließlich läßt sich nur eine Volkswirtschaft, die nicht nur dem ständigen Verschleiß entgegenwirkt, sondern zusätzlich permanent neue technologische Verbesserungen einführt, um das Zurneigegehen der Rohstoffe der Vorgängertechnologie zu überwinden, auf Dauer stabil halten.
Wenn wir aber diese These ernst nehmen, würde dies im Falle des Stuttgarter Hauptbahnhofs bedeuten, daß wir bei einem derart umfassenden Eingriff in die Verkehrsinfrastruktur zunächst eine klare Vorstellung von den notwendigen technologischen Änderungen der nächsten Jahrzehnte im Verkehrswesen und der Städteplanung - etwa der Rolle des Transrapid - entwickeln müssen, bevor wir eine nicht gerade geringe Investition in eine ohnehin schon veraltete Rad-Schiene-Technologie tätigen.
Bleibt die zweite Frage nach dem „warum gerade jetzt?“. Diese Frage ist viel weitreichender, weil sie über das konkrete Projekt Stuttgart 21 hinausgeht und auf ein Zeichen unserer Zeit hinweist, welches von Rosa Luxemburg und Lyndon LaRouche mit dem Begriff des Massenstreiks bezeichnet wird. Das Phänomen, daß sich hier in kürzester Zeit Zehntausende Bürger mobilisieren, die vermutlich zum größten Teil bisher politisch nicht besonders aktiv gewesen waren und sich derart entschlossen gegen die Obrigkeit stellen, sollte zu denken geben. Daß sich diese Mobilisierung nun gerade hier und jetzt entzündet, hat wahrscheinlich weniger mit dem Projekt Stuttgart 21 an sich zu tun, als mit der immer deutlicher empfundenen Abneigung gegen eine politische Klasse, die sich aus Sicht der Bürger schon viel zu weit von ihren Nöten und Bedürfnissen entfernt, ja abgewandt hat; ebenso wie die konkrete Forderung der DDR-Bürger nach der Ausreiseerlaubnis im Herbst 1989 nur der Kristallisationskeim war, der die vollkommen morsche und bürgerferne DDR-Führung schließlich zu Fall brachte.
Wir sollten deshalb die Zeichen unserer Zeit ernst nehmen und uns möglichst im Konsens um einen wirklichen Neustart unserer Infrastruktur kümmern, der weder kleingeistig stets die Knute des Rotstifts im Rücken spürt, noch dem Diktat des schnellen Geldes unterworfen ist.
Christoph Mohs, Landesvorsitzender BüSo Baden-Württemberg