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Zweiter Teil
Das folgende Interview mit dem Vorsitzenden der Freien Ärzteschaft, Dr. Martin Grauduszus, führte Helga Zepp-LaRouche am 26. Juni per Telefon. Wir drucken es in zwei Teilen ab.
HZL: Was sagen Sie zu den Vorschlägen von Ezekiel Emanuel, Obamas Gesundheitsberater, den Hippokratischen Eid dahingehend neu zu interpretieren, daß er die „Kosten“ der Versorgung berücksichtigen müsse?
Grauduszus: Da muß ich schon ein bißchen lachen. Das ist dann eben der Eid des Ezekiel Emanuel und kein Hippokratischer Eid mehr. Da ist ja genau die Forderung beschrieben, die wir befürchten und ablehnen. Wir verlangen hier ja das direkte Vertragsverhältnis zwischen Arzt und Patient, weil die ökonomischen Dinge, die wirtschaftlichen Zwänge, unter denen wir jetzt stehen, auch durch Risiken bei der Medikamentenverschreibung zustande kommen, weil wir ein Vertragsverhältnis mit der Kassenärztlichen Vereinigung und vor allen Dingen mit den Krankenkassen haben, und wir dort in dieser Situation nicht mehr nach unserem Gewissen entscheiden können. Deswegen fordern wir auch ein direktes Vertragsverhältnis mit den Patienten und daß das wirtschaftliche Risiko nicht von den Ärzten weiterhin getragen wird.
Die Gesundheitssysteme sind so weit getrieben, will ich mal sagen, daß wir feststellen, wir können in diesem System, in dem das geschieht, was er [Ezekiel Emanuel] will - wir sollen ja die wirtschaftliche Verantwortung tragen, das tun wir ja schon -; daß wir da sagen: Nein, das geht nicht, unser Beruf verliert dadurch seine Identität, und gerade das Gegenteil von dem, was er fordert, entspricht unserer Haltung.
HZL: Es gibt natürlich auch das Problem der Verfilzung und von Lobbyismus. Obamas Gesundheitsbeauftragte Nancy-Ann DeParle hat durch ihre Arbeit in sechs Vorständen von Firmen aus dem Gesundheitsbereich in den letzten drei Jahren über fünf Millionen Dollar verdient. Jetzt verkündet der Chef einer dieser Firmen, Cerner, die für die elektronische Datenerfassung produziert, seine Industrie stünde mit den Plänen Obamas vor den größten Gewinnchancen in der Geschichte. Kann man da nicht von Interessenkonflikt sprechen und gibt es ähnliche Probleme der Verfilzung auch in Deutschland?
Grauduszus: Ich kann die Vereinigten Staaten natürlich nicht direkt beurteilen, aber ich sehe da schon eine Parallele, und zwar nicht nur dahingehend, daß man sich vielleicht tatsächlich Gewinnchancen verspricht, sondern daß hier den Verantwortlichen von Seiten der Industrie der Informationstechnologie zuviel versprochen wird, auf der einen Seite könnte man viel Geld sparen in der Versorgung, auf der anderen Seite würde man viel Steuern zahlen, weil diese Industrie selbst so viel Geld verdient, und letztendlich bleibt man den Beleg schuldig, daß man dabei die Chance der gleichbleibenden Versorgungsqualität und Versorgungsdichte überhaupt einlösen kann.
Für mich persönlich sind diese Argumente mehr Marketing oder Werbekampagnen, indem man Lobbyarbeit bei den Politikern macht, und dann die IT-Industrie in die Versorgung drängt. Hier in Deutschland kennen wir das ja mit dem Projekt der elektronischen Gesundheitskarte. Dieses Projekt hat nach unserer Auffassung keinen Nutzen, so gut wie keinen Nutzen, für immense Kosten, die entstehen. Es entstehen große Probleme, man könnte geradezu sagen, daß man schon froh sein muß, wenn man mit dem Projekt der Gesundheitskarte die Probleme lösen wird, die man ohne sie nicht hätte.
HZL: Da ist natürlich auch das Vertrauensverhältnis Arzt-Patient in Gefahr, wenn Millionen von Leuten dann Einsicht haben in die Daten von Patienten.
Grauduszus: Das ist natürlich, was die Gesundheitskarte betrifft, nicht so. Zugriffsberechtigung zu den Daten sollen zwar durchaus zwei Millionen Mitwirkende bekommen, aber natürlich wird nicht jeder per se Zugriff auf die Daten von jedem Patienten...
HZL: Aber zwei Millionen, wer will das dann noch kontrollieren...
Grauduszus: Es ist überhaupt keine Frage, daß es Begehrlichkeiten von Versicherungsgebern und auch von Behörden gibt, und wenn die Möglichkeiten da sind, werden die Begehrlichkeiten auch befriedigt werden, und wenn einmal zum Beispiel ein Datensatz von einem Patienten mit einer Krankheit, die zum Beispiel auch die Folgegenerationen betreffen wird, im Internet steht, dann ist das bekannt, dann ist die Privatsphäre weg, und das kann man nie wieder korrigieren.
HZL: Ihre Organisation hat bereits über 600.000 Unterschriften gegen die Einführung einer E-Card gesammelt. Können Sie bitte die Gefahren erläutern, die für den „gläsernen Patienten“ entstehen würden?
Grauduszus: Zunächst eine kleine Korrektur: Ich bin ja der Vorsitzende der Freien Ärzteschaft, und das Bündnis „Stoppt die E-Card“, an dem wir auch beteiligt sind, die Organisation, die federführend ist, unter deren Namen läuft diese Aktion.
Die Risiken dieses Projektes sind zum einen, daß das Vertrauen zwischen Arzt und Patienten stark belastet sein wird. Die ärztliche Schweigepflicht wird vollständig aufgehoben. Die Regeln der ärztlichen Berufsordnung werden nicht eingehalten, denn danach ist das überhaupt nicht zulässig - nach der ärztlichen Berufsordnung -, daß wir unsere Daten in Zentren geben, die nicht wieder ein Arzt unter Hoheit oder Obhut hat. Es sind große Kosten, die dadurch entstehen, die natürlich der Versorgung entzogen werden. Die versprochenen Verbesserungen entlarven sich bei näherem Hinsehen als nicht realisierbar, und wenn die Krankheitsdaten von Patienten bei Versicherungen oder veröffentlicht sind oder wenn sich jemand Zugriff verschafft über diese Daten, dann würde das einen schweren Schaden für die Bürger, also die Patienten, und schweren Schaden für unsere Gesundheitsversorgung bedeuten.
HZL: Dr. Leo Alexander - das war der medizinische Berater bei den Nürnberger Prozessen gegen die Naziärzte - hatte damals gesagt, daß die Ausrottungsprogramme der Nazis aus kleinen Anfängen hervorgingen, es habe angefangen mit einer kaum merklichen Verschiebung im Denken, nämlich der Idee, daß es so etwas gibt wie ein lebensunwertes Leben, und das hat sich dann zu diesen Ungeheuerlichkeiten entwickelt, und er sagte auch, das Problem sei ein Utilitarismus im Denken gewesen, daß eben zum angeblichen Nutzen der Mehrheit eine Minderheit Opfer bringen müßte. Damit habe man sich sozusagen auf eine schiefe Ebene begeben, wo es dann immer weiter hinunterging.
Nun ist ja heute schon in der Bioethikdebatte, also um Fragen wie sogenannte Sterbehilfe, Euthanasie, das Lebensrecht des Menschen erneut zur Debatte gestellt worden. Sehen Sie solche Gefahren?
Grauduszus: Auf jeden Fall möchte ich das jetzt nicht im Zusammenhang beurteilen mit den Vorkommnissen im Dritten Reich, sondern unabhängig davon. Es gibt heute ja zumindest in den Niederlanden ein solches Konzept, und dort sollen, soweit ich weiß, nicht ökonomische Maßstäbe entscheidend sein. In der heutigen Zeit, in der man natürlich Kosten-Nutzen-Analysen über alles stellt, ist natürlich auch eine solche Diskussion um Sterbehilfe sehr kritisch zu betrachten, denn es ist nur ein kleiner Schritt, dann nicht mehr eine moralisch-ethische Erschütterung und die einzelne Person zu sehen, sondern daß auf einmal die Kosten eine nicht unwesentliche Rolle bei der Entscheidung spielen. Das darf nicht sein.
HZL: Präsident Obama hat am Samstag in seiner wöchentlichen Radioshow angekündigt, daß er die Gesundheitskosten in den nächsten Jahren um 950 Milliarden (!) kürzen will. Peter Orszag [der Chef des Verwaltungs- und Haushaltsamtes] hatte als Grund dafür angegeben, daß man die Kosten für die Rettungspakete für die Banken wieder hereinholen müßte, und es kein Problem sei, deswegen 30% der Kosten im Gesundheitswesen zu streichen, wenn man „uneffiziente“ Behandlungsmethoden eliminiere. Welche Konsequenzen sehen Sie da, wenn das wirklich passiert?
Grauduszus: Wie hoch ist denn das Volumen in Amerika? Wir haben hier 250 Mrd. Euro...
HZL: Es sind ungefähr 30%. Der Vorwand ist natürlich, daß man die jetzt nicht Versicherten, also etwa 50 Millionen, einschließt, aber dann wären die Kürzungen insgesamt so radikal, daß dann viele Patienten in diese Kategorie des „nicht mehr behandlungswürdig“ hineinfallen würden.
Grauduszus: Das ist so ungefähr wie in unserem Finanzierungssystem: Man kürzt die Gelder und sagt einfach, wer es am dringendsten braucht, der soll es bekommen. Das wird dann so funktionieren, wer wirklich Hilfe und Unterstützung braucht und es sich leisten kann, wird sich durchsetzen. Bei solch einem Konzept, wo man einfach sagt, wir kürzen die Mittel um 30% - das wird immer die Schwachen treffen. Das sind schöne Vorsätze, aber wir sehen ja hier in Deutschland schon, daß z.B. die, die sich jetzt gesellschaftskonform und sozial verhalten, daß die auf einmal die Dummen sind.
Wer in den letzten Jahren [als Arzt] auf die Krankenkassen vertraut hat, und gemeint hat, ich werde ja gebraucht und muß meine Patienten versorgen, der hat eben keine Patienten darauf angesprochen, damit sie auch Dinge selbst bezahlen und selbst Leistungen in Anspruch nehmen, der hat auch nicht seine Privatklientel gepflegt, weil er sich gesagt hat, es muß doch möglich sein, meine Kassenpatienten zu versorgen. Kollegen, die ein moralisches Verhalten gewollt haben - es wird ja immer noch als moralisch hochstehend angesehen -, die stehen heute mit dem Rücken zur Wand.
Die Kollegen, die sich nicht an diese Vorgaben gehalten haben, die haben dann eben auch tatsächlich ökonomisch gedacht, denn ich muß ja meinen Laden rechnen. Wenn ich die gesetzlich Versicherten weiterhin versorgen können will, brauche ich zusätzlich aber auch eine Klasse von besser versorgten Privatpatienten, und ich brauche auch Selbstbehalte von Kassenpatienten. Das halte ich auch nicht für unmoralisch, was die Politiker da gemacht haben. Die stehen deutlich besser da als die Kollegen und Kolleginnen, die sich systemkonform verhalten haben und so, wie es die Krankenkassen bisher gewollt haben, der Patient soll nichts zuzahlen, er soll alles umsonst bekommen, und Privatpatienten soll der Arzt auch nicht vorziehen. Sie verstehen, was ich sagen will: Der, der sich auf einem hohen moralischen Anspruch bewegt, muß das System verlassen, damit er seine Patienten versorgen kann. Ist der Widerspruch klargeworden?
HZL: Ja, ja. Ich sehe trotzdem den Zusammenhang. Denn ein gewisser Freiburger Mediziner namens Alfred Troche hat damals schon in den dreißiger Jahren diese Argumentation vorgebracht, daß die sog. „Menschenhülsen“, daß die Anstaltspflege ungeheure Kapitalkosten hätte und das praktisch dem Staat wichtige Ressourcen entzieht für andere Dinge. Dieses utilitaristische Denken, das ist die Kontinuität zwischen damals und heute.
Grauduszus: Wissen Sie, durch solche historischen Vergleiche kann man seine politische Karriere beenden. Es ist auf jeden Fall so, daß wenn ökonomische Überlegungen im Vordergrund stehen, und das tun sie heute schon bei uns, dann werden wir eine unmenschliche Behandlung und Versorgung unserer Mitmenschen bekommen, die wir uns überhaupt nicht vorstellen können.
HZL: Haben Sie sonst noch etwas, was sie uns gerne mitteilen möchten?
Grauduszus: Ich glaube, daß die wohnortnahe Versorgung durch Fachärzte in ihrer sogenannten Freiberuflichkeit - und das bedeutet wirtschaftliche Unabhängigkeit und Unabhängigkeit von den Kostenträgern mit Verantwortung gegenüber den Patienten und nicht gegenüber den Institutionen -; daß das die Grundlage einer weltweit sehr guten Versorgung ist, die wir hier in den letzten Jahrzehnten aufgebaut haben; daß die Wertschätzung bei den politischen Entscheidungsträgern dafür fehlt, wenn in erster Linie ökonomische Maßstäbe vordergründig sein sollen, die dort jetzt zugrundegelegt werden; und daß deshalb eine derartige Versorgung, wenn man sie jetzt neustrukturiert, auf der Strecke bleibt. Wir bekommen dann eben Verhältnisse der Versorgung wie in England oder auch Amerika.
HZL: Vielen Dank.