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Neue Solidarität
Nr. 27, 1. Juli 2009

„Das Arzt-Patientenverhältnis wird auf dem Altar der Ökonomie geopfert“

Das folgende Interview mit dem Vorsitzenden der Freien Ärzteschaft, Dr. Martin Grauduszus, führte Helga Zepp-LaRouche am 26. Juni per Telefon. Wir drucken es in zwei Teilen ab.

Grauduszus: Wir haben ja schon im September letzten Jahres gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Versicherte und Patienten Demonstrationen gemacht, da waren auch die Parkinson-Liga oder Parkinson-Patienten mit Rollstuhl dabei, und wir haben damals schon gesagt, daß wir den Bundestagswahlkampf auch zu einem Gesundheitswahlkampf machen wollen, damit die Parteien Farbe bekennen, um das Thema Gesundheit mehr in die Öffentlichkeit zu transportieren.

Inzwischen ist das Thema schon in der Öffentlichkeit, aber eben noch nicht so, wie wir uns das wünschen, z.B. mit der Frage, die Sie gestellt haben: Wie soll die Gesundheitsversorgung weiterhin sichergestellt werden, woher kommt das Geld? Da gibt es auch keinen Kompromiß, und die großen Parteien sind sich uneinig, sie haben auch eigentlich kein Konzept für die Einnahmenseite für die Krankenversicherungen. Die Einnahmenseite kommt eigentlich hinterher. Das ist falsch. Man meint, Geld ausgeben zu können, ohne zu wissen, wieviel Geld man eigentlich hat, und wie Sie schon sagen, werden die Einnahmen nicht ausreichen.

Die bestehende Unterfinanzierung von Praxen und Krankenhäusern, wie wir sie heute erleben, hat aber mit dieser wirtschaftlichen Entwicklung nur indirekt etwas zu tun, das ist ja politisch gewollt, und nach meinem Dafürhalten steht da auch die Wirtschaftslobby dahinter, die diese Unterfinanzierung nutzt, um einen Wirtschaftszweig übernehmen zu können, der dann bei der älter werdenden Gesellschaft nicht nur ein demographisches Problem ist, sondern auch einen zahlungskräftigen Kundenkreise für die Wirtschaft eröffnet.

Grauduszus: Sie meinen, das Wirtschaftssystem steht vor dem Kollaps? Die größte Wirtschaftskrise der Geschichte?

Grauduszus: Das hätte man zumindest ansprechen sollen. Ob aber so ein Ärztetag in der Lage ist, gute Vorschläge zu machen, ob das seine Aufgabe ist, da bin ich mir nicht ganz sicher. Auf jeden Fall hätte man auf das Problem aufmerksam machen müssen, das ist sicher richtig, aber es ist ja natürlich nicht nur in diesem Bereich, sondern auch in vielen anderen Bereichen, so, daß heute Probleme nicht mehr gelöst, sondern nur noch festgestellt werden.

Wenn der Ärztetag sich auch noch dahingehend öffentlichkeitsbefangen geäußert hätte, hätte man mit Sicherheit zumindest von politischer Seite her versucht, den Verantwortlichen der Ärztekammer, die ja auch eine Körperschaft des Öffentlichen Rechts ist, einen Maulkorb zu verpassen.

Grauduszus: Ich denke, wir haben heute und eigentlich schon lange mehrere Versorgungsklassen. Das Problem, was wir heute haben, ist nicht, daß Privatversicherte viel besser behandelt werden, sondern daß für gesetzlich Versicherte immer weniger Ressourcen zur Verfügung stehen und sie immer mehr selbst bezahlen müssen, aber die Beiträge immer weiter steigen für die Einzahler, und daß die gesetzlich Versicherten immer schlechter behandelt werden.

Das Problem läßt sich nicht lösen, indem man alle gleich behandelt, sondern man muß die Versorgung im gesetzlichen Bereich verbessern. Daß sich die Versorgung immer mehr verschlechtert, hat aber auch damit zu tun, daß man sich bei der Reform nicht wirklich um eine Verbesserung der Versorgung kümmert, sondern eigentlich einer Ideologie folgt.

Das sind zwei Ideologien, die da aufeinanderprallen. Auf der einen Seite sind die öffentlichen Institutionen - Ministerium, Krankenkassen, Kassenärztliche Vereinigung -, die den behandelnden Arzt immer mehr kontrollieren wollen, am liebsten hätte man noch angestellte Ärzte. Auf der anderen Seite stecken dahinter Lobbyisten der Wirtschaft, die bei der Gesamtsituation mit der Unterfinanzierung sicherlich auch sich dabei versprechen, mit angestellten Ärzten aus dem Patienten ein Renditeobjekt zu machen.

Die gesetzlichen Rahmenbedingungen sind jetzt so, daß auch Kapitalgesellschaften nicht nur stationäre Versorgung, sondern in Zukunft auch andere Arten der Versorgung etablieren können, und damit wird das, was wir traditionell kennen - das Arzt-Patienten-Verhältnis, was über lange Jahre aufgebaut wird mit Vertrauen und Kenntnis der individuellen und der familiären Situation -, zu einer Kultur, die auf dem Altar der Ökonomie geopfert wird.

Grauduszus: Das entscheidende Element des Gesundheitsfonds ist ja die Verteilung der Mittel unter den verschiedenen Krankenkassen, die jetzt nach den Morbiditätskriterien erfolgen soll. Das bedeutet: die Krankenkassen, die nachweisen, daß sie Versicherte mit speziellen Krankheitsbildern haben, diese Krankenkassen bekommen eben mehr Geld als eine Krankenkasse, die wenig Patienten mit solchen Krankheiten versichert. Diese Verteilung, dieser Risiko-Strukturausgleich, dieses Instrument wird aber hochkompliziert und er ist hochgradig manipulationsanfällig.

Wie Sie ja sicher schon gehört haben, gab es sowohl von Ärzteverbandseite wie auch gesetzlichen Krankenkassen wie etwa der AOK die Aufforderung, Diagnosen der Patienten zu optimieren, das heißt, man wollte im speziellen Fall - nicht auf betrügerische Art -, aber man wollte, daß die Diagnosen ganz spezialisiert auf die Krankenscheine geschrieben werden, damit die Krankenkassen, die diese Patienten versichern, mit diesen ausführlichen Diagnosen beim Risiko-Strukturausgleich besser dastehen als die Versicherungen, für die die Diagnosen nicht so genau in den Abrechnungen der Ärzte dargestellt werden.

Der Risiko-Strukturausgleich gründet sich ja auf die Daten aus der Vergangenheit, da gab es wenigstens eine gewisse durchschnittliche Genauigkeit der Diagnosen, und wenn man jetzt einen Teil der Versicherten und Patienten ganz genau kodiert, also jede Zusatzerkrankung, die ja früher gar nicht aufgenommen wurde, weil es zum Teil unerheblich ist, ob auf dem Krankenschein noch draufsteht, daß der Patient auch noch eine Nierenschwäche hat, die medikamentös nicht behandelt werden muß. So verbessert sich jetzt ein Teil der Versicherten und Krankenkassen, weil die Mitpatienten noch nicht optimiert sind.

Und das ist das Argument, daß das auf der einen Seite unsicher wird und auf der anderen Seite auch manipulationsanfällig. Deshalb ist der Gesundheitsfond damit auch gescheitert, weil die Verteilung unter den Krankenkassen nicht fair erfolgen kann. Es lief sogar in die Richtung, daß von den Krankenkassen Angestellte in die Praxen zu den Ärzten geschickt wurden, um mit den Ärzten zu gucken, ob nicht noch eine genauere Diagnosestellung möglich ist, um dann - wie diese spezielle AOK in Bayern - mehr Geld vom Risikostrukturausgleich zu bekommen. Wenn alle Krankenkassen das genauso machten, hätte man mehr Verwaltungsaufwand - und das Geld würde wieder genauso verteilt wie ursprünglich.

Grauduszus: Ja, die Sonderverträge bringen natürlich ein ziemliches Durcheinander in die Versorgungslandschaft, und das führt auf jeden Fall zu einer Verschiebung von Honoraren. Und diese Verschiebung von Honoraren ist auch relativ willkürlich. Diese Sonderverträge für spezielle Krankheitsbilder oder Therapieverfahren dienen ja auch den Krankenkassen für ihre Außendarstellung, ihr Marketing. Palliativversorgung wurde auch in der Vergangenheit durch die behandelnden Ärzte durchgeführt, und gar nicht so schlecht. Natürlich sind die neuesten Erkenntnisse nicht immer und überall angewendet worden, aber das ist immer so, und neue Techniken sind auch nicht immer so, daß sie nach fünf Jahren noch tatsächlich aktuell sind, manchmal haben die sich dann ja schon überlebt.

Die Sonderverträge führen dazu, daß das Geld anders verteilt wird. Wenn Sie jetzt von den Verbänden abgeschlossen werden, also von den Verbänden verhandelt werden für die Ärzte, wird das System der Kassenärztlichen Vereinigung geschwächt, und das ist nach meinem Dafürhalten auch die Idee bei diesem System: Man schwächt die Vereinigungen, verschiebt das Honorar in den Sonderverträgen so willkürlich und ohne Konzept, daß es schwierig wird zu sagen, wo ist denn nun der Wert einer Versorgung in dem bestehenden Honorargefüge. Und wenn ein wohlmeinender Verhandler der Kasse mit dem Ärzteverband verhandelt, dann wird eben mehr Geld für die Versorgung ausgehandelt, und ein nicht so wohlmeinender Angestellter in einer anderen Region und Kasse wird diese Versorgung vielleicht viel billiger einkaufen. Also es wird nicht zu einer einheitlichen Versorgung und Vergütung kommen, sondern zu einem mehr oder weniger großen Chaos, und einen bestimmten Wettbewerb, den man dort anstrebt, den wird es gar nicht geben, weil es gar nicht so viele Anbieter für solche Leistungen gibt und keine Gruppen, die sie einfordern, so daß unterm Strich also diese Selektivverträge, die jetzt im Paragraph 73 b und c vorgesehen sind, zu nichts anderem führen als zu einer Schwächung der Versorgungslandschaft - Kassenärztlichen Vereinigung und Verbände -, und die wahre Entwicklung weg von einer langen Tradition wird dadurch verschleiert.

Grauduszus: Ja, das ist ein riesengroßes Problem, daß heute in unserer Gesellschaft die Ökonomie wohl das einzige ist, was noch zählt. Aber sie können eben Gesundheit und Krankheit oder den Menschen schlechthin nicht nach ökonomischen Grundsätzen bewerten. Der Gesundheitsökonom würde dann ja zum Schluß entscheiden: Lohnt sich die Behandlung bei dem Patienten noch, oder nicht? Welche Kriterien sollen dann dort gelten?

Heute ist es so, daß Arzt und Patient gemeinsam überlegen, welche Maßnahme für den Patienten erforderlich und sinnvoll ist, und zwar in erster Linie nach Nutzen-Überlegungen, die ökonomischen Kriterien stehen eher im Hintergrund, das ist Grundlage für eine menschliche Versorgung. Ich weise schon seit Jahren darauf hin: Wenn man Reformen angehen will, das finde ich verständlich, aber wenn heute die Gesundheitsökonomen herangezogen werden, um den Nutzen einer Gesundheitsversorgung festzulegen, dann muß man sagen, das können die gar nicht, weil es keine ökonomischen Kriterien gibt, sondern da muß man die Menschen fragen, die behandelt werden, ob die Behandlung für sie auch einen entsprechenden Wert gehabt hat.

Grauduszus: Ja, auch das. Soweit ich das weiß, führt doch der Studiengang des Ökonomen zum Beruf des Kaufmanns. Der Kaufmann ist doch nicht derjenige, der alles preiswert abgeben will, sondern der Ökonom will Geld verdienen. Die einzigen Ökonomen, die  meinen, es kann alles billig sein und das einzige was zählt, ist, daß der Preis niedrig ist, das sind die Gesundheitsökonomen. In anderen Bereichen habe ich das noch nie gehört.

Grauduszus: Müssen wir nicht erst mal Fragen: Sind diese Werte überhaupt angemessen? Ich will mal sagen, die große Mehrzahl der Bevölkerung will das in Deutschland nicht so, und ich würde sagen, die Argumente, mit denen man meint, das herbeizuführen, sind in erster Linie die sogenannte Kostenexplosion im Gesundheitswesen und die Beitragssatzstabilität.

Eine Kostenexplosion im Gesundheitswesen haben wir nicht, die Ausgaben im gesetzlichen Krankenversicherungsbereich liegen seit vielen Jahren konstant bei 6,5 Prozent des BIP, und was die Beitragssatzstabilität anbelangt, da kommen wir auf die Eingangsfrage wieder zurück, die Einnahmensituation: Die Gelder, die für die Gesundheitsversorgung gebraucht werden. Dieser Einsatz muß auf stabile Füße gestellt werden.

Da ziehen sich die Politiker aus der Verpflichtung. Die verpflichten zwar die vielen Mitwirkenden - ob Ärzte, Krankenschwestern, Arzthelferinnen und Physiotherapeuten - zur Versorgung der Bevölkerung, aber sie überlegen sich nicht, ob sie ihre Kosten erreichen, sie sagen nur: Ihr müßt eben mit dem auskommen, was da ist. Da gibt es einen schönen Ausspruch von Ulla Schmid, die in Remscheid 2007 gesagt hat, die Ärzte müssen mit dem zufrieden sein, was die Kassen bereit zu zahlen sind.

Das ist natürlich nicht ein ökonomischer Grundsatz, wie er sonst immer angeführt wird, sondern genau das Gegenteil. Und um noch einmal auf die Ökonomie zurückzukommen: Es ist ja schon ganz interessant, daß man jetzt auf vielen einschlägigen Veranstaltungen die Gesundheitswirtschaft begrüßt und sich freut, daß sogar der wirtschaftliche Aufschwung auch im Bereich der Gesundheitswirtschaft generiert werden kann. Da muß man sich fragen: Wer bezahlt denn dann diesen wirtschaftlichen Aufschwung? Denn wenn ein Markt sich verdoppeln soll in wenigen Jahren, muß ja auch irgend jemand der Konsument sein. Dieser Konsument, das wird natürlich der Bürger sein und nicht irgendein Scheich in Arabien, und da sieht es doch so aus, daß wenn man in der Gesundheitswirtschaft für Leistungen, die man erbracht hat, höhere Einnahmen erzielen will, dann bedeutet das unterm Strich mehr Kosten für die Bürger.

Fortsetzung folgt

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„Heimliche Rationierung öffentlich machen!“
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