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Aus der Neuen Solidarität Nr. 23/2008 |
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Jetzt ist es für uns alle an der Zeit, zu mobilisieren und Dinge zu tun, die wir niemals zuvor in unserem Leben getan haben. Und dennoch - wie oft haben wir schon gehört: „Bevor ich etwas mache, brauche ich noch mehr Informationen…“ Und die gleiche Person sagt nach einigen Monaten immer noch: „Ich brauche mehr Informationen“, und die Zeit, sich mehr zu informieren, wird länger und länger und länger…
Menschen auf der ganzen Welt demonstrieren oder verbreiten Unruhen, weil die Lebensmittelregale leer sind. Die Hungersnot ergreift immer mehr Familien. Milliarden sollen leiden? Milliarden sollen sterben? Auch wenn wir die Möglichkeiten haben, dies alles zu stoppen?
Doch wir hören immer noch: „Ich brauche mehr Informationen“, „Ich muß erst einmal drüber nachdenken.“
Friedrich Schiller versuchte durch alles, was er tat, die Gesellschaft von dieser kaltherzigen Einstellung zu heilen, aber 200 Jahre nach seinem Tod ringen wir immer noch darum.
Als Schiller an der Universität in Jena Geschichte unterrichtete, zeigte er den Studenten zuerst auf, welche Art Gelehrter zu werden sie erstreben sollten und welche nicht: ein Brotgelehrter oder ein philosophischer Kopf. Auch wenn dies ein spezifischer Kontext war, gelten diese Prinzipien doch für alles andere und für uns alle heute, weil die Frage dieselbe bleibt: Welche Identität wollen wir haben?
Schiller sagte - in Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? - über den Brotgelehrten:
„…der nur darum die Kräfte seines Geistes in Bewegung setzt, um dadurch seinen sinnlichen Zustand zu verbessern und eine kleinliche Ruhmsucht zu befriedigen, ein solcher wird beim Eintritt in seine akademische Laufbahn keine wichtigere Angelegenheit haben, als die Wissenschaften, die er Brotstudien nennt, von allen übrigen, die den Geist nur als Geist vergnügen, auf das sorgfältigste abzusondern. Alle Zeit, die er diesen letztern widmete, würde er seinem künftigen Berufe zu entziehen glauben, und sich diesen Raub nie vergeben. ... nicht bei seinen Gedankenschätzen sucht er seinen Lohn, seinen Lohn erwartet er von fremder Anerkennung, von Ehrenstellen, von Versorgung. Schlägt ihm dieses fehl, wer ist unglücklicher als der Brotgelehrte? Er hat umsonst gelebt, gewagt, gearbeitet; er hat umsonst nach Wahrheit geforscht, wenn sich Wahrheit für ihn nicht in Gold, in Zeitungslob, in Fürstengunst verwandelt.“
Denken Sie nun an denjenigen, der nur zu dem Zwecke studiert, einen Abschluß, der ihm später ein gutes Gehalt verspricht, zu erhalten. Stellen Sie sich diesen Studenten in seinem späteren Leben vor, wie er z.B. die ungerechte Behandlung seiner Kollegen duldet, nur damit er Vorteile in seiner Firma hat. Denken Sie darüber nach, wenn er für einen Hedgefonds arbeitet, der Menschen verhungern läßt, weil er auf Lebensmittelpreise spekuliert - und er duldet es. Was, glauben Sie, hält er von globaler Preisregulierung? Oder einem Neuen Bretton-Wood-System?
„... jede wichtige Neuerung schreckt ihn auf, denn sie zerbricht die alte Schulform, die er sich so mühsam zu eigen machte, sie setzt ihn in Gefahr, die ganze Arbeit seines vorigen Lebens zu verlieren. Wer hat über Reformatoren mehr geschrieen, als der Haufe der Brotgelehrten? Wer hält den Fortgang nützlicher Revolutionen im Reich des Wissens mehr auf, als ebendiese? ... sie fechten mit Erbitterung, mit Heimtücke, mit Verzweiflung, weil sie bei dem Schulsystem, das sie verteidigen, zugleich für ihr ganzes Dasein fechten. Darum kein unversöhnlicherer Feind, kein neidischerer Amtsgehülfe, kein bereitwilligerer Ketzermacher, als der Brotgelehrte.“
Der Brotgelehrte, der sich bis jetzt im Wahn befindet, wird Sie einen Ketzer, respektlos und einen Tyrannen nennen, wenn Sie es wagen, den Unterschied zwischen seinem System und der Wahrheit offenzulegen. Er wird Ihnen vielleicht sogar sagen: „Es gibt sowieso keine Wahrheit“ oder „Wir können sowieso nichts ändern, warum sollten wir dann überhaupt darüber diskutieren?“ Selbst die ganze Aufregung und Rhetorik können nur schwer das kalte versteinerte Herz dieses „Brotbürgers“ verbergen.
Ich greife hier natürlich nicht das Ringen der meisten Menschen an, mit eigenen Mitteln bei einer immer schlimmeren wirtschaftlichen Situation auskommen müssen. Wir sind aber heute wieder mit der Frage konfrontiert, welche Bürger wir sein wollen. In einer Zeit, in der, wie heute mit dem EU-Vertrag, über eine Gesellschaft hergefallen wird, um ihr endgültiges Todesurteil zu fällen, nehmen wir entweder das Schicksal der ganzen Menschheit in unserem Herzen auf und kämpfen dafür, daß diese schmerzliche Krise zur Geburtsstunde eines viel helleren Tages wird, oder wir hängen einfach wie Brotbürger herum.
Traurig schaut Schiller auf diese zweite Wahl:
„Beklagenswerter Mensch, der mit dem edelsten aller Werkzeuge, mit Wissenschaft und Kunst, nichts Höheres will und ausrichtet, als der Taglöhner mit dem schlechtesten! der im Reiche der vollkommensten Freiheit eine Sklavenseele mit sich herumträgt!“
Vielleicht denken Sie, daß Sie keiner von den beiden, sondern irgendwie dazwischen sind.
Schiller spricht auch darüber:
„Noch beklagenswerter aber ist der junge Mann von Genie, dessen natürlich schöner Gang durch schädliche Lehren und Muster auf diesen traurigen Abweg verlenkt wird, der sich überreden ließ, für seinen künftigen Beruf mit dieser kümmerlichen Genauigkeit zu sammeln. Bald wird seine Berufswissenschaft als ein Stückwerk ihn anekeln; Wünsche werden in ihm aufwachen, die sie nicht zu befriedigen vermag, sein Genie wird sich gegen seine Bestimmung auflehnen. Als Bruchstück erscheint ihm jetzt alles, was er tut, er sieht keinen Zweck seines Wirkens, und doch kann er Zwecklosigkeit nicht ertragen. Das Mühselige, das Geringfügige in seinen Berufsgeschäften drückt ihn zu Boden, weil er ihm den frohen Mut nicht entgegensetzen kann, der nur die helle Einsicht, nur die geahnte Vollendung begleitet. Er fühlt sich abgeschnitten, herausgerissen aus dem Zusammenhang der Dinge, weil er unterlassen hat, seine Tätigkeit an das große Ganze der Welt anzuschließen.“
Aber Friedrich Schiller läßt uns an dieser Stelle nicht verzweifelt zurück! Er fährt fort und zeigt uns den zweiten Charakter, den philosophischen Kopf:
„Ebenso sorgfältig, wie der Brotgelehrte seine Wissenschaft von allen übrigen absondert, bestrebt sich jener, ihr Gebiet zu erweitern und ihren Bund mit den übrigen wieder herzustellen... Wo der Brotgelehrte trennt, vereinigt der philosophische Geist. Frühe hat er sich überzeugt, daß im Gebiete des Verstandes, wie in der Sinnenwelt, alles in einander greife, und sein reger Trieb nach Übereinstimmung kann sich mit Bruchstücken nicht begnügen.“
Er verschließt niemals die Augen vor Teilen der Gesellschaft. Für ihn ist alles sein. Niemals wird man den philosophischen Kopf sagen hören: „Ach, Politik ist nicht mein Ding!“ Und wenn er herausgefordert wird, sich zu verändern und die bequeme Nische, die er sich gebaut hat, zu verlassen, wird auch genau das geschehen:
„Neue Entdeckungen im Kreise seiner Tätigkeit, die den Brotgelehrten niederschlagen, entzücken den philosophischen Geist. Vielleicht füllen sie eine Lücke, die das werdende Ganze seiner Begriffe noch verunstaltet hatte, oder setzen den letzten noch fehlenden Stein an sein Ideengebäude, der es vollendet. Sollten sie es aber auch zertrümmern, sollte eine neue Gedankenreihe, eine neue Naturerscheinung, ein neu entdecktes Gesetz in der Körperwelt den ganzen Bau seiner Wissenschaft umstürzen: so hat er die Wahrheit immer mehr geliebt als sein System; und gerne wird er die alte mangelhafte Form mit einer neuern und schönern vertauschen. Ja, wenn kein Streich von außen sein Ideengebäude erschüttert, so ist er selbst, von einem ewig wirksamen Trieb nach Verbesserung gezwungen, er selbst ist der erste, der es unbefriedigt auseinanderlegt, um es vollkommener wiederherzustellen.“
Er wird weiter vorwärts gehen, wenn die Weltgeschehnisse ihm zeigen, daß er sein Wissen erweitern muß, oder ihm sogar zeigen, daß er alles verändern muß, was er mit seinem Leben macht, wenn Wahrheit und Gerechtigkeit verteidigt werden müssen, wenn die vergessenen Männer und Frauen, die hungrigen Kinder nicht mehr Vergessene sein sollen! Er wird es in die Tat umsetzen, auch wenn es bedeutet, daß er alles, was er sich aufgebaut hat, zurücklassen muß!
Diesen freudigen Mut zu bewahren, hilft Schiller uns auch nach 200 Jahren.
Er beendete seine Vorlesung in einer Art und Weise, in der er heute, 200 Jahre später, immer noch zu uns in diesem Raum spricht:
Den Gang der Welt „möchte man mit einem ununterbrochen fortfließenden Strom vergleichen, wovon aber in der Weltgeschichte nur hie und da eine Welle beleuchtet wird.
... Jetzt also kommt ihr der philosophische Verstand zu Hülfe, und, indem er diese Bruchstücke durch künstliche Bindungsglieder verkettet, erhebt er das Aggregat zum System, zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen.
... Je öfter also und mit je glücklicherm Erfolge er den Versuch erneuert, das Vergangene mit dem Gegenwärtigen zu verknüpfen: desto mehr wird er geneigt, was er als Ursache und Wirkung ineinandergreifen sieht, als Mittel und Absicht zu verbinden.
... er bringt einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt, und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte. ... Er sieht es durch tausend beistimmende Fakta bestätigt, und durch ebenso viele andre widerlegt; ...[So] erklärt er die Frage für unentschieden, und diejenige Meinung siegt, welche dem Verstande die höhere Befriedigung, und dem Herzen die größte Glückseligkeit anzubieten hat.
Und auf solche Art behandelt, meine Herren, wird das Studium der Weltgeschichte... Ihren Geist von der gemeinen und kleinlichen Ansicht moralischer Dinge entwöhnen, und, indem sie vor Ihren Augen das große Gemälde der Zeiten und Völker auseinanderbreitet, wird sie die vorschnellen Entscheidungen des Augenblicks, und die beschränkten Urteile der Selbstsucht verbessern. Indem sie den Menschen gewöhnt, sich mit der ganzen Vergangenheit zusammenzufassen, und mit seinen Schlüssen in die ferne Zukunft vorauszueilen: so verbirgt sie die Grenzen von Geburt und Tod, die das Leben des Menschen so eng und so drückend umschließen, so breitet sie optisch täuschend sein kurzes Dasein in einen unendlichen Raum aus, und führt das Individuum unvermerkt in die Gattung hinüber. […]
Unser menschliches Jahrhundert herbeizuführen haben sich - ohne es zu wissen oder zu erzielen - alle vorhergehenden Zeitalter angestrengt. Unser sind alle Schätze, welche Fleiß und Genie, Vernunft und Erfahrung im langen Alter der Welt endlich heimgebracht haben. Aus der Geschichte erst werden Sie lernen, einen Wert auf die Güter zu legen, denen Gewohnheit und unangefochtener Besitz so gern unsre Dankbarkeit rauben: kostbare, teure Güter, an denen das Blut der Besten und Edelsten klebt, die durch die schwere Arbeit so vieler Generationen haben errungen werden müssen! Und welcher unter Ihnen, bei dem sich ein heller Geist mit einem empfindenden Herzen gattet, könnte dieser hohen Verpflichtung eingedenk sein, ohne daß sich ein stiller Wunsch in ihm regte, an das kommende Geschlecht die Schuld zu entrichten, die er dem vergangenen nicht mehr abtragen kann? Ein edles Verlangen muß in uns entglühen, zu dem reichen Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit, das wir von der Vorwelt überkamen und reich vermehrt an die Folgewelt wieder abgeben müssen, auch aus unsern Mitteln einen Beitrag zu legen, und an dieser unvergänglichen Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet, unser fliehendes Dasein zu befestigen. Wie verschieden auch die Bestimmung sei, die in der bürgerlichen Gesellschaft Sie erwartet - etwas dazusteuern können Sie alle! Jedem Verdienst ist eine Bahn zur Unsterblichkeit aufgetan, zu der wahren Unsterblichkeit meine ich, wo die Tat lebt und weitereilt, wenn auch der Name ihres Urhebers hinter ihr zurückbleiben sollte.“
Elodie Viennot
Lesen Sie hierzu bitte auch: Man muß Staatsbürger sein, um Weltbürger zu werden - Was Schiller aus dem Deutschen machte - Neue Solidarität Nr. 23/2008 Schillers Kriegserklärung an das „Ich kann ja doch nichts machen“! - Neue Solidarität Nr. 21/2008 Deutschland braucht die Ideen Schillers, um zukunftsfähig zu werden! - Neue Solidarität Nr. 21/2008 Nun kommt die Schillerzeit! Feier zu Schillers 248. Geburtstag in Frankfurt - Neue Solidarität Nr. 47/2007 Schiller lebt! - Internetseite des Schiller-Instituts |
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