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Von Helga Zepp-LaRouche
Der folgende Aufsatz wurde verfaßt als Einleitung für eine Broschüre mit dem Arbeitstitel „Stoppt die McCarthyistische Hexenjagd gegen China und Präsident Trump“, die derzeit in den Vereinigten Staaten vorbereitet wird.
Anstatt den Aufstieg Chinas als Bedrohung zu sehen, sollten wir im Westen die enorme Bereicherung für die Menschheit erkennen, die in dem beispiellosen Wirtschaftswunder liegt, das China in den letzten 40 Jahren vollbracht hat. Leider haben die meisten Menschen in den USA und Europa sehr wenig Wissen über China und seine über 5000 Jahre alte Kultur, was es den geopolitisch motivierten Mainstream-Medien und Vertretern der Anti-China-Lobby relativ einfach macht, ein völlig verzerrtes Bild über dieses Land zu zeichnen.
Tatsächlich hat China ein neues, total begeisterndes Kapitel der Universalgeschichte aufgeschlagen, indem es für alle anderen Entwicklungsländer ein unwiderlegbares Beispiel aufgestellt hat, wie es möglich ist, in relativ kurzer Zeit die Armut zu überwinden und für einen immer größeren Teil der Gesellschaft einen guten Lebensstandard zu schaffen. In den vergangenen 40 Jahren hat China das größte Armutsbekämpfungsprogramm verwirklicht, das es jemals in der Geschichte der Menschheit gegeben hat, und dabei 850 Millionen seiner eigenen Bürger aus der Armut befreit und dadurch 70 Prozent zur weltweiten Armutsbekämpfung beigetragen. Das durchschnittliche Wirtschaftswachstum von 1978 bis 2018 betrug dabei beeindruckende 9,5 Prozent pro Jahr, und selbst das aufgrund verschiedener Faktoren auf über 6 Prozent zurückgefahrene Wachstum für dieses Jahr stellt ein Niveau dar, von dem europäische Nationen oder die USA nur träumen können. Laut Statistiken der Weltbank ist China seit 2018 die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, was das BIP betrifft, aber bereits die größte Wirtschaft bezüglich der Kaufkraft seiner Bürger. Seit 2015 hat China die größte Mittelklasse der Welt, und Präsident Xi Jinping hat es gewissermaßen zur Chefsache gemacht, bis 2020 auch die noch rund 4 Millionen in extremer Armut lebenden Chinesen aus diesem Zustand zu befreien. Weder in Europa mit rund 90 Millionen Menschen, die in Armut leben, noch in den USA, in denen rund 40 Millionen Menschen als arm gelten, gibt es ein vergleichbares Programm.
Entgegen der irrigen Auffassung derer in den USA, die China als „strategischen und wirtschaftlichen Konkurrenten“ betrachten, gibt es ein riesiges Potential für diese beiden Länder, in vielen Bereichen zusammenzuarbeiten, in denen selbst die besten Ressourcen eines einzelnen Landes nicht ausreichen, um die großen Herausforderungen in Wissenschaft und Technologie zu bewältigen, mit denen die Menschheit konfrontiert ist - dafür sind Weltraumforschung und Raumfahrt nur ein gutes Beispiel. Präsident Xi Jinping hat den USA wiederholt angeboten, mit der Belt and Road Initiative (BRI) zusammenzuarbeiten. Präsident Trump seinerseits hat Präsident Xi als seinen guten Freund bezeichnet und die Größe der chinesischen Kultur gewürdigt. Dieses Potential einer guten Beziehung zwischen den Ländern muß nun durch konkrete Projekte realisiert werden, beispielsweise durch Investitionen Chinas in die dringend notwendige Erneuerung der US-Infrastruktur und durch die Beteiligung der USA am wirtschaftlichen Wiederaufbau Südwestasiens und der Industrialisierung Afrikas.
Wenn man heute auf einer der Strecken des 30.000 Kilometer umfassenden chinesischen Schnellbahnnetzes fährt, in denen pünktliche Züge bei 350 Kilometer Stundengeschwindigkeit leise durch die Landschaften fliegen, die moderne, gut organisierte Bahnhöfe mit sauberen Marmorböden verbinden, oder die Region Shenzen-Guangzhou-Zhuhai-Macao – den Wirtschaftsmotor der Belt and Road Inititive – besucht, dann kann man sich kaum vorstellen, wie arm und unterentwickelt China vor seiner enormen Transformation einst gewesen ist. Aber bevor Deng Xiaoping die Reform- und Öffnungspolitik einführte, waren die Menschen sehr arm, sie hatten oftmals nicht genug zu essen und waren technologisch rückständig. Das Straßenbild wurde von Hunderten von Fahrrädern beherrscht, Straßen selbst zwischen vielen Städten bestanden im wesentlichen aus Feldwegen, Autos waren eine Seltenheit, die Landwirtschaft war nicht mechanisiert. Das chinesische Volk hatte mehr als ein Jahrhundert enormer Nöte und Entbehrungen hinter sich – von den Opiumkriegen und territorialen Besatzungen über den Bürgerkrieg und die enormen ökonomischen Anfangsschwierigkeiten der Volksrepublik bis hin zu den Schrecken der Herrschaft der Viererbande während der Kulturrevolution.
Deng Xiaoping hat mit seinen Reformen ein Wirtschaftswunder in Gang gesetzt, bei dem die gesamte Bevölkerung einschließlich der zwei seitdem geborenen Generationen einen kontinuierlichen Aufschwung erlebt haben, durch den es einem immer größeren Teil der Gesellschaft immer besser geht.
Eine vergleichbare Aufwärtsentwicklung gab es in Deutschland beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg in den 50er und 60er Jahren, dem deutschen Wirtschaftswunder, die dort allerdings durch eine ganze Reihe von Faktoren, wie z.B. der Herausbildung der technologiefeindlichen grünen Bewegung, beendet und in die entgegengesetzte Richtung, nämlich einer heute drohenden Deindustrialisierung, getrieben worden ist.
In China hingegen ist mit der Erfahrung dieser Verbesserung des eigenen Lebensstandards, dem Fortschritt der Gesellschaft und dem massiven Anstieg des Ansehens des Landes vor allem bei den Entwicklungsländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas ein grundlegender Kulturoptimismus entstanden, wie er z.B. in den USA für die Zeit von Roosevelts New Deal bis zur Ermordung von John F. Kennedy und dann noch für die Zeit des Apollo-Programms charakteristisch war.
Bei dieser Entwicklung war China einer ganzen Reihe von Problemen ausgesetzt. Deng Xiaoping beschreibt, wie das Ausland in der Anfangsphase seiner Reformen immer noch von der Vorstellung der Kolonialherren dominiert war, die versuchten, die Entwicklung Chinas und der anderen Entwicklungsländer zu unterdrücken. So akzeptierte China zunächst in den Wirtschaftssonderzonen der Küstenregion ausländische Investitionen in Bereiche der Billigproduktion, was zumindest etwas Kapital ins Land brachte. Chinas war dabei gewissermaßen die Hauptzielscheibe der zunehmenden Deregulierung und Monetarisierung des transatlantischen Wirtschaftssystems, das die vormals in den USA und Westeuropa angesiedelten produktiven Kapazitäten nach China und andere Entwicklungsländer auslagerte. Dahinter stand die Profitgier der City of London, der Wall Street und von Firmen wie Walmart, K-Mart, Target, etc. China bezahlte dafür mit enormen Umweltproblemen wie verunreinigtem Grundwasser und belasteter Luft, die die Regierung seit geraumer Zeit mit enormem Aufwand rückgängig zu machen sucht.
Gleichzeitig versuchte Deng, Zugang zu internationalem Kapital und fortgeschrittenen Technologien aus dem Ausland zu erlangen, indem er dafür sorgte, daß Wissenschaftler eingeladen und Studenten zum Studium in andere Länder geschickt wurden. Aber angesichts der Haltung des Westens, der wirklich fortschrittliche Technologien immer mit dem Argument des sog. „dual use“ verweigerte, und der zunehmend feindlichen Haltung der Sowjetunion seit Chruschtschow, betonte er die absolute Notwendigkeit, daß China sich primär auf seine eigene Kraft verlassen müsse. Und das ist etwas, was nur wenige im Westen verstehen – daß nämlich China ohne den enormen Aufbauwillen der chinesischen Bevölkerung und die Tugenden, für die früher einmal Deutschland bekannt war, nämlich Fleiß, Zuverlässigkeit, Leistungswille, Effizienz und Kreativität, niemals das Wirtschaftswunder hätte vollbringen können, das wegen seines Umfangs und seiner Zukunftsvision beispiellos in der Geschichte ist.
Diverse Denkfabriken, Mainstream-Medien und Politiker versuchen, das Bild Chinas zu schwärzen, als ob der Aufstieg Chinas nur das Resultat des Diebstahls des geistigen Eigentums des Westens gewesen sei. Nun ist nicht auszuschließen, daß es bei einem inzwischen auf 1,4 Milliarden angewachsenen Volk genauso zu Industriespionage gekommen ist, wie dies für jede Industrienation der Welt der Fall war und ist. Die amerikanische Regierung selbst ermutigte solches Piratentum wiederholt. So rief Alexander Hamilton in seinem Bericht über die Manufakturen an den Kongreß von 1791 die Regierung dazu auf, diejenigen zu belohnen, „die uns Verbesserungen und Geheimnisse von außergewöhnlichem Wert“ aus dem Ausland brächten. Da ihm natürlich bekannt war, daß in den meisten Nationen der Export von Maschinen unter der Androhung von schweren Strafen verboten war, sah er in dem staatlich geförderten Schmuggel von Technologien offensichtlich ein legitimes Mittel für den Aufbau der USA.1
Wie aber kommt es dann, daß China inzwischen in einigen Bereichen die Marktführung übernommen hat, also z.B. das bei weitem beste und größte Schnellbahnsystem der Welt von inzwischen 30.000 km gebaut hat, oder als einziges Land auf der erdabgewandten Seite des Mondes gelandet ist? Von wem soll China das abgekupfert haben?
Eine weitere Spitze gegen China ist der Vorwurf, das sog. „Sozialkreditsystem“ sei der Beweis dafür, daß China der totale Überwachungsstaat sei – als hätte es Edward Snowden nie gegeben. Ganz offensichtlich projizieren die Vertreter des Geheimdienstapparats und der Medien, die diesen Vorwurf erheben, ihr eigenes Wissen über den Überwachungsapparat im Westen auf China. Zwar ist die Anwendung von künstlicher Intelligenz, einschließlich Gesichtserkennung und Digitalisierung vieler Lebensbereiche, dort weiter fortgeschritten als in den USA und Europa, aber bei diesen Vorwürfe wird völlig übersehen, daß China ein ganz anderes soziales System hat, nämlich eine Meritokratie, die sich über mehrere Jahrtausende aus dem imperialen Prüfungssystem seit der Qin-Dynastie (221-206 v.Chr.) und der Han-Dynastie (206-220 n.Chr.) und der konfuzianischen Tradition entwickelt hat.
Einer der wesentlichsten Unterschiede zwischen der Kultur nicht nur Chinas, sondern generell Asiens und derjenigen im Westen besteht in der Priorität, die das Gemeinwohl der Gesellschaft dort seit Jahrtausenden vor den Rechten des Individuums hat. Dahinter verbirgt sich die Überzeugung, daß es dem einzelnen und der Familie nur dann gut gehen kann, wenn es dem Staat als ganzen gut geht.
Dem gegenüber tritt die herausragende Bedeutung der Individualität, wie sie sich positiv aus der Renaissance und dem europäischen Humanismus und negativ aus der Ideologie des extremen Liberalismus – des „Alles ist erlaubt“ – entwickelt hat, in China gehörig zurück.
In diesem historischen kulturellen Unterschied, der tief in der asiatischen Tradition verwurzelt ist, liegt der wesentliche Grund, warum die Vorstellung, daß China automatisch mit seiner Aufnahme in die Welthandelsorganisation WTO auch das System der westlichen Demokratie übernehmen würde, von vornherein ein Illusion war. Aus dem gleichen Grund stehen die meisten Chinesen dem System des sozialen Kredits positiv gegenüber, weil es sich mit ihrer Überzeugung deckt, daß die Menschen, die zum Gemeinwohl beitragen, belohnt werden sollen, und daß diejenigen, die im Zugabteil betrunken randalieren, eben beim nächsten Mal keine Fahrkarte bekommen sollen.
Diese Sichtweise steht natürlich vollkommen konträr zum liberalen Zeitgeist bei uns, aber ob wir uns im Westen mit der Dekriminalisierung von Drogen und der Enttabuisierung von allem einen so großen Gefallen tun, bleibt noch zu sehen. Denjenigen, die das chinesische System als die große Herausforderung für die westliche „Werteordnung“ sehen, sei versichert: Dank grüner Ideologie in einigen Ländern, dekadenter Unterhaltungs-Unkultur und sinkender Lebenserwartung in anderen schafft sich Westen seit geraumer Zeit selber ab!
Die anti-chinesische Propagandakampagne ist dabei keineswegs etwas neues, sondern entstammt bewußt geschürten Ressentiments seitens der europäischen Kolonialmächte. Das Pejorativum „die gelbe Gefahr“ erschien um die Wende zum 20. Jahrhundert in einer ganzen Reihe von Büchern, Kurzgeschichten, Skizzen und Karikaturen, in denen auf perfide Art Bedrohungsängste gegenüber den asiatischen Völkern geschürt wurden, weil die Geopolitker des Britischen Empire befürchten, daß ihre Weltmachtstellung durch die Entwicklung Ostasiens gebrochen werden könnte.
Dem gleichen Denkmuster folgten Samuel Huntington mit seinem vor Ignoranz nur so triefenden Buch Kampf der Kulturen und kürzlich die ehemalige Direktorin für politische Planung im US-Außenministerium, Kiron Skinner, die sich zu der rassistischen Aussage verstieg, die USA seien zum erstenmal mit einer konkurrierenden Großmacht konfrontiert, die nicht „kaukasisch“ sei.
Immer mehr Menschen in den USA und Europa haben in den letzten Jahren ein gesundes Mißtrauen gegenüber den Mainstream-Medien und den von ihnen verbreiteten fake news entwickelt. Es wäre also angebracht, dieselbe Vorsicht bezüglich der Berichterstattung über China walten zu lassen und sich stattdessen selber ein eigenes Bild zu verschaffen. Dafür ist es auf jeden Fall empfehlenswert, sich die in viele Sprachen übersetzten Reden von Xi Jinping durchzulesen, die in bisher zwei Bänden mit dem Titel China regieren erschienen sind. Bei der Lektüre erhält der Leser einen Eindruck der philosophischen Tiefe und der Breite des politischen Spektrums des chinesischen Präsidenten, sein Wissen über die chinesische Geschichte und fremde Kulturen. Es wird auch deutlich, daß es ihm zwar um die Erneuerung Chinas geht, aber eben nicht auf Kosten anderer Nationen, sondern daß er ein wirklich neues Paradigma des Zusammenlebens anstrebt, nämlich die „Gemeinschaft einer gemeinsamen Zukunft der Menschheit“.
Wenn man Xi Jinping vom Standpunkt der Moral Benjamin Franklins, der Gründerväter der USA oder des europäischen Humanismus aus betrachtet, dann findet man die Ausrichtung seiner Politik lobenswert, betrachtet man sie allerdings vom Standpunkt von Locke, Hobbes oder der Rolling Stones, dann sieht man darin nur die Unterdrückung der individuellen Rechte, alles zu tun, wonach einem gerade ist. Es ist im Westen eben absolut nicht üblich, daß sich die politischen Führungspersönlichkeiten um die moralische und kulturelle Erziehung der Bevölkerung kümmern. Aber genau dies tut Xi Jinping, wenn er z.B. eine Renaissance des Konfuzianismus auf allen Ebenen der Gesellschaft befördert.
In einem Dialog mit Professoren der chinesischen Akademie der schönen Künste betonte er die außergewöhnliche Bedeutung der ästhetischen Erziehung für die Jugend Chinas, weil sie die Voraussetzung für die Entwicklung eines schönen Geistes und die Schaffung neuer großer Kunstwerke sei. Er betont die Rolle der Literatur und der bildenden Kunst, weil sie die Bevölkerung für das „Wahre, Schöne und Gute“ sensibilisiere und in die Lage versetze, dasjenige abzulehnen, was „falsch, böse und häßlich“ sei. Ohne diese moralische und ästhetische Ausbildung könnten selbst die Personen, die ansonsten stark seien, auf der Seite der schlechten Angewohnheiten oder des Lasters enden.
Natürlich geht das völlig gegen den Zeitgeist in den USA und Europa. Aber anstatt China zu der großen Bedrohung aufzubauen, die es nicht ist, sollten wir uns lieber fragen, ob diese konfuzianische Orientierung auf die moralische Verbesserung der Gesellschaft nicht doch etwas mit dem außerordentlichen Erfolg des chinesischen Modells zu tun hat. Es soll auch gar nicht behauptet werden, daß alles und jedes in China perfekt ist, und auch nicht, daß der Westen dieses Modell übernehmen sollte. Aber um die Qualität einer Gesellschaft zu beurteilen, sollte man die Richtung der Entwicklung betrachten, und die ist seit vier Jahrzehnten in China aufwärts, und das Resultat ist, daß der absolut größere Teil der Bevölkerung optimistisch in die Zukunft blickt.
Wenn man sich von Vorurteilen und Unkenntnis über China befreit und statt dessen mit Neugier versucht, China kennenzulernen und die andere Kultur zu verstehen, kommt man mit großer Wahrscheinlichkeit zu der gleichen Sicht wie der große deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz, der das enorme Potential der Zusammenarbeit mit dieser Kultur erkannte, daß wenn die damals entwickeltsten Kulturen – Europa und China – sich die Hände reichten, sie alle dazwischen liegenden Nationen auf ein höheres Niveau bringen könnten.
Das gleiche gilt heute emphatisch für die USA und China: Wenn die beiden größten Volkswirtschaften der Welt zusammenarbeiten – bei der Überwindung der Armut in der Welt, bei der Verwirklichung von neuen Spitzentechnologien wie der Kernfusion und der Kooperation bei der Raumfahrt –, dann wird die gesamte Menschheit für alle Zukunft davon profitieren.
Anmerkung
1. https://www.newyorker.com/magazine/2014/06/09/spy-vs-spy-3