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Neue Solidarität
Nr. 27, 1. Juli 2009

Kosten-Nutzen-Propagandisten stoßen auf Widerspruch

Bei einer Konferenz im Dresdener Hygienemuseum stand die Frage im Mittelpunkt: „Welches Leben ist mehr wert?“ Aber der Versuch, die Kosten-Nutzen-Analyse im medizinischen Sektor zu propagieren, stieß auf Widerstand.

„Welches Leben ist mehr wert?“ Man möchte meinen, daß solch eine Frage spätestens seit der Nazizeit der Vergangenheit angehören müßte, aber nichtsdestotrotz war sie vor knapp zwei Wochen das offizielle Leitthema einer Tagung im Dresdner Hygienemuseum mit dem Untertitel „Wie knappe Güter im Medizinsystem gerecht zu verteilen sind“.

Vorab muß folgendes gesagt werden: Ob die anwesenden Redner es nun wußten oder nicht, ihre Vorschläge sind allesamt Auswüchse ein und derselben Stoßrichtung, bei der die Weltbevölkerung in dieser wohl beispiellosen Wirtschafts- und Finanzkrise auf ein „annehmbares Maß“ von unter 2 Milliarden Menschen reduziert werden soll. Für solche Ideen steht der Gemahl der britischen Königin Elisabeth II., Prinz Philip, der mit seiner Umweltschutzorganisation WWF für die Erhaltung der vom Aussterben bedrohten Spezies Oligarchie kämpft.1

Anders läßt sich die derzeitige Politik nahezu aller westlichen Regierungen nicht erklären, denn in einer Weltlage, in der die Schweinegrippe von der WHO nun offiziell als Pandemie eingestuft wird, wäre nichts angemessener, dies als eine Gefahr der nationalen Sicherheit zu betrachten und folglich die bestehenden Kapazitäten des Gesundheitssystems massiv auszuweiten. Stattdessen werden Sparmaßnahmen lanciert, die wie die von Präsident Obama jüngst angekündigte Kürzung der staatlichen Hilfsprogramme für Kinder, Arme und Rentner2 in Höhe von knapp 1.000 Milliarden Dollar3, mehr kosten werden, als uns lieb ist, nämlich Menschenleben.

Auf der anderen Seite werden jedoch Summen, die jeder Vorstellung entbehren, für wertlose Schrottpapiere der Banken bereitgestellt: Soeben pumpte die Europäische Zentralbank an einem Tag mal wieder eine knappe halbe Billion Euros ins marode Finanzsystem, also fast doppelt soviel wie die jährlichen Ausgaben für das gesamte Gesundheitssystem Deutschlands.

Letztendlich stellt sich somit die entscheidende Frage: Finanzinteressen oder Bürgerrechte? Geld oder Leben?

Das ist die eigentliche Thematik, die bei der Dresdner Tagung hätte diskutiert werden sollen, denn hinter all dem statistischen Hokuspokus um Pflegequalität, Kostenoptimierung und evidenzbasierter Medizin verbirgt sich außer dem bereits Gesagten noch die grundfalsche und gefährliche Annahme, der Wert eines menschlichen Lebens sei mit leblosen, empirischen Methoden quantifizierbar, wenn doch die dem Arztberuf eigentlich zugrundeliegende Motivation sich vorerst in der Liebe zur Menschheit begründet, die uns vom Tier unterscheidet. Im Reich der Tiere findet sich kein Gesundheitswesen, denn dort herrscht das Recht des Stärkeren, der kultivierte Mensch hingegen stützt die Schwachen, eben weil der Mensch nicht auf seine biologische Hülle reduziert ist, wie Beispiele stark behinderter, aber dennoch hochgradig aktiver Persönlichkeiten wie Helen Keller (blind und taubstumm) und Beethoven (taub) uns in bewegender Weise deutlich machen. Dieses in jedem Menschen schlummernde Potential gilt es also gegen bestialische Ideologien aller Art, einschließlich des verderblichen Kosten-Nutzen-Denkens, kompromißlos zu verteidigen.

Aus diesem Grund sahen sich Vertreter der Neuen Solidarität und der BüSo während besagter Tagung des Dresdner Hygienemuseums des öfteren genötigt, gezielt einzuschreiten.

Nachdem sich die etwa 50 bunt gemischten Teilnehmer im Saal eingefunden hatten, fing schon der erste Redner, Prof. Dr. Schröder, damit an, die Anwesenden mit Zahlen und Fakten über das Ausmaß der Gesundheitskosten zu bombardieren, und beendete seinen Vortrag mit einem nicht so versteckten Plädoyer für einen neuen Club of Rome, da in Zeiten knapper Güter eine Priorisierung oder gar Rationierung nicht auszuschließen sei.

Dieses Thema wurde von Frau Dr. phil. Lübbe vom deutschen Ethikrat fortgeführt, die in der eiskalten Manier eines Buchhalters die Zuhörenden mit ihrer Spieltheorie malträtierte: Wenn man entscheiden müsse, ob zwei Menschen, wovon der erste eine Leber, der zweite ein Herz benötige, oder ein Einzelner, der beides zugleich benötige, den Vorrang erhalten solle, stelle sich die Frage, ob zwei Menschenleben wertvoller als eines wären. Heutzutage nähme man eben auch den Einzelnen mit auf die Warteliste. Ein anderes Beispiel: Woher weiß ich in Zeiten knapper Kassen, ob ich den Patienten mit Gehirntumor oder den mit Schlaganfall bevorzugen soll?4

Selbst als diese Gedankengänge im weiteren Verlauf der Tagung von einem ihrer Kollegen aus dem Ethikrat als absolut zu vermeidende Umstände deklariert wurden, ergriff Frau Lübbe das Wort und meinte lapidar, das könne man nicht ausschließen. In ihren Ausführungen bekräftigte sie außerdem, daß das für die Erstellung von Kosten-Nutzen-Bewertungen für Arzneimittel beauftragte Regierungsinstitut „IQWiG“5 kein „Gerechtigkeitsinstitut“ sei. Und selbst wenn die in Großbritannien gängige Methode zur Wertbestimmung eines Lebensjahres ihre Probleme hätte und daher auch nicht unumstritten sei, müsse man sie eben besser machen, anstatt seinen Kopf in den Sand zu stecken, so Lübbe.

Warum diese Methode namens QALY (qualitätsgewichtetes Lebensjahr) so umstritten ist, wurde im nachfolgenden Vortrag des Gesundheitsökonomen Schlander deutlich. Der Professor gab offen zu, daß es für eine genaue Bestimmung des Lebenswertes keine wissenschaftliche Grundlage gäbe. Hinzu käme außerdem, daß der Großteil der Menschen eher an moralisch-ethischen Werten orientiert sei, als utilitaristisch zu handeln (d.h. Streben nach maximalem Wohlbehagen bei gleichzeitiger Vermeidung von Schmerz). Da das QALY-System hingegen „wertfrei“ sei und auf jenem Utilitarismus aufbaue, bräche die Logik des ganzen Systems an diesem Punkt zusammen und mache QALY zu einem „potentiell massiv fehlleitenden Konzept“, so Schlander.

Glücklicherweise ließen sich die eingeladenen Vertreter aus der medizinischen Praxis, Pflegeleiterin Lange und Chefärztin Stöckel, gar nicht erst auf die theoretische Debatte ein, sondern ergriffen die Flucht nach vorn und erklärten einstimmig, diese Theorie sei mit der Praxis unvereinbar, da Lebensqualität nicht in Begriffen der Effizienz gemessen werden könne. Zu einem späteren Zeitpunkt der Tagung griff ein Chefarzt diese Theorie mit der Begründung an, es seien gerade bei alten und sterbenden Patienten zuviele Variablen im Spiel, so daß evidenzbasierte (sprich statistische) Medizin hier nicht den Tagesablauf des Arztes bestimmen könne. Die Kostenoptimierungsfanatiker waren hiermit sichtlich überfordert und scheiterten kläglich, das zertrümmerte Theoriengebäude wiederaufzurichten.

Die noch viel fataleren Implikationen des Kosten-Nutzen-Denkens kamen aber erst beim öffentlichen Vortrag am Abend zur Sprache, wo sich der Verfasser zu Wort meldete und darlegte, daß es die Nazis waren, die das Kosten-Nutzen-Denken auf die Spitze getrieben hatten, was ich mit einem Beispiel aus der damals gängigen Propaganda illustrierte. Eben jenes Denken sei es gewesen, das damals den Grundstein für das erst Jahre später durchgeführte Euthanasieprogramm T4 gelegt hätte, und sich heute erneut in der Gesundheitspolitik Barack Obamas widerspiegele.

Nachdem der vortragende Rettungsdienstleiter diese Stellungnahme zur Kenntnis genommen hatte, wurde er von BüSo-Mitglied Elke Fimmen gefragt, ob denn von Seiten der Ärzte genügend Druck auf die Politik ausgeübt werde, die fehlende Infrastruktur im Gesundheitswesen bereitzustellen, was er schlicht verneinte.

In der abschließenden Diskussion des zweiten Tages trat dann die häßliche Wahrheit hinter den Theorien offen zutage. Herr Wunder vom Deutschen Ethikrat erwiderte auf den Einwand von Frau Lübbe bezüglich der horizontalen Priorisierung (siehe Fußnote 4), daß dies mit demokratischen Mitteln nicht umgesetzt werden könne. Auf meine Frage hin, ob es nicht gefährlich sei, wenn sich mit dem Vorschlag von Jay Rockefeller im amerikanischen Senat, nach dem das medizinische Beratungsgremium MedPAC der Aufsichtskontrolle des Kongresses entzogen und direkt der Exekutive unterstellt werden solle, eben solche undemokratischen Entwicklungen anbahnten, antwortete mir der IQWiG-Chef Sawicki mit einer längeren Erklärung dieses doch „wünschenswerten“ Vorschlags.

Ich erwiderte wie folgt: „Aber diese Leute behaupten ja, daß 30% der Gesundheitskosten Verschwendung seien. Und die meinen nicht die Verwaltung, nicht die Profite, die meinen tatsächlich die Fürsorge und reden ganz offen davon, gerade die Kosten am Ende des Lebens zu minimieren.“ Daraufhin ließ Sawicki die Katze aus dem Sack: „Ja dann... daß... daß... daß Geld verschwendet wird im Gesundheitssystem, ist ja ein offenes Geheimnis überall.“

Karsten Werner


Anmerkungen

1. Z.B. sieht das visionäre Großprojekt PHLINO vor, die Wasservorkommen Mexikos mittels neugebauten Kanälen aus dem oft überschwemmten, spärlich besiedelten Süden in den trockenen, aber dicht besiedelten Norden zu lenken und die Bevölkerung somit aus dem Joch von Hunger, Elend und finanzieller Abhängigkeit von Drogenkartellen zu befreien. Der WWF jedoch bekämpft das Projekt, mit der haarsträubenden Begründung, das Projekt gefährde die Vampirfledermaus. (Hat Prinz Philip vielleicht Vorfahren in Transsylvanien?)

2. Medicare und Medicaid

3. Ansprache des US-Präsidenten vom 13.6.2009, zu finden unter www.whitehouse.gov/weekly_address.

4. Der Fachbegriff für diesen Vorgang lautet horizontale Priorisierung.

5. Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen.