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Neue Solidarität
Nr. 7, 15. Februar 2024

Südafrikas Klage gegen Israel wegen Völkermordes in Gaza

Von Daniel Platt

Aufgrund ihrer herausragenden Bedeutung dokumentieren wir wesentliche Punkte von Südafrikas Klage gegen Israel vor dem IGH wegen Völkermords an der palästinensischen Bevölkerung.

Dokumente zum Verfahren im Internet

Am 11. und 12. Januar hörte der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag die Argumente beider Parteien zu der Klage Südafrikas, die Israel vorwirft, durch die Angriffe auf die Zivilbevölkerung im Gazastreifen die Völkermordkonvention von 1948 zu verletzen.

Viele Länder des Globalen Südens – u.a. Kolumbien, Brasilien, Pakistan, Bolivien, Jordanien, die Türkei, Malaysia, die Malediven, Namibia sowie die Arabische Liga und die Organisation für Islamische Zusammenarbeit – unterstützen Südafrika dabei. Südafrika fühlt sich zu seinem Schritt durch die Worte und Taten seines Gründungsvaters Nelson Mandela verpflichtet. Dieser große Mann beendete nach langer Zeit auf friedliche Weise ein bösartiges Apartheidsystem, das gegen die Genfer Konventionen verstieß, aber er schenkte auch der Gefangenschaft des palästinensischen Volkes in einem vergleichbaren System große Aufmerksamkeit.

Die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich und Deutschland mit Außenministerin Annalena Baerbock haben das Verfahren kategorisch abgelehnt. Die meisten Länder der Europäischen Union äußerten sich nicht zu dem Fall.

Südafrika trägt seinen Fall vor

Die südafrikanische Menschenrechtsanwältin und ehemalige amtierende Richterin am südafrikanischen Obersten Gerichtshof, Adila Hassim, legte am 11. Januar vor dem IGH den Fall ihres Landes dar: Israels Krieg gegen den Gazastreifen beinhalte „Handlungen, die unter die Genfer Konvention gegen Völkermord fallen können“. Das ist der Maßstab, der zu beurteilen ist: Nicht, ob Israel einen Völkermord begangen hat (in dem Fall käme die Anrufung des Weltgerichtshofs zu spät), sondern ob seine Handlungen möglicherweise einen Völkermord bewirken, wenn sie nicht rechtzeitig gestoppt werden.

© IGH
Am ersten Tag der Anhörungen vor dem Internationalen Gerichtshof erhob Südafrika den Vorwurf, Israel verstoße mit seinem Krieg in Gaza gegen die Völkermordkonvention von 1948. Das südafrikanische Anwaltsteam wurde von Justizminister Ronald Lamola geleitet. Der leitende Jurist war der hochangesehene John Dugard, ein südafrikanischer Professor für internationales Recht, der gegen die Apartheid kämpfte und sich dann für das palästinensische Volk einsetzte (hier sitzend in orangefarbener Robe).

Andere Mitglieder des süd­afrikanischen Teams stellten weitere Aspekte des Falles vor, darunter die zu erwar­ten­den völkermörderischen Auswirkungen (durch die Ausbreitung von Krankheiten und das Abschneiden der Versorgung mit Nahrung, Wasser und Medikamenten) sowie Äußerungen der israelischen Staatsführung, die eine Absicht erkennen lassen, die Zivilbevölkerung zu vernichten und das Land zu zerstören.

Hassim erläuterte zunächst, daß Israel die vollständige Kontrolle über den Gaza­streifen hat, „seine Hoheitsgewässer, Landübergänge, Wasser, Elektrizität, elektromagnetische Sphäre und zivile Infrastruktur im Gazastreifen sowie die wichtigsten Regierungsfunktionen“, und daß Israel alle Zugänge in den und aus dem Gazastreifen streng kontrolliert. Dann beschrieb sie „die schwersten konventionellen Bombenangriffe in der Geschichte der modernen Kriegsführung“, bei denen in 13 Wochen mehr als 22.000 Palästinenser getötet wurden, sowie

© ICJ
© ICJ
Südafrika forderte vorläufige Maß­nah­men zum Schutz der Palästinenser, während der Fall weiter geprüft wird, darunter die Einstellung der Militär­aktionen in Gaza. Prof. Vaughan Lowe (King's Council), ein englischer Anwalt für internationales Recht, stellte die vorge­schla­ge­nen Maßnahmen dar [oben].
Dr. Adila Hassim (Senior Council), ehe­ma­lige amtierende Richterin am Obersten Gerichtshof Südafrikas, legte dar, daß Israels Krieg gegen Gaza „Handlungen beinhaltet, die unter die Genfer Konven­tion gegen Völkermord fallen können“, um zu zeigen, daß vorläufige Maß­nahmen des Gerichts­hofs gerechtfertigt sind.

Hassim beschrieb vier Stufen des Völker­mords:

Absichtserklärungen der israelischen Regierung

Der vielleicht schockierendste Teil des 84-seitigen Antrags Südafrikas an den IGH ist die Dokumentation der Äußerungen von Mitgliedern der israelischen Staatsführung, in denen sie zur völligen Zerstörung des Gazastreifens aufrufen und Palästinenser als Untermenschen beschreiben. Der zweite Sprecher des südafrikanischen Anwaltsteams, Tembeka Ngcukaitobi (Senior Council), hatte die Aufgabe, wie er es ausdrückte, die offenen Äußerungen völkermörderischer Absichten israelischer Beamter zusammenzufassen, vom Premierminister und Staatspräsidenten über die Minister für Verteidigung, nationale Sicherheit und Energie sowie Knesset-Abgeordnete bis hin zu Frontsoldaten.

© IGH
Tembeka Ngcukaitobi (Senior Council) ging auf die Frage der völ­kermörderischen Ab­sicht ein und zitierte aus zahl­reichen ex­pli­ziten Absichtserklä­rungen israelischer Offizieller.

„Die Absicht, den Gazastreifen zu zerstören, wurde auf höchster staatlicher Ebene gehegt und gepflegt“, sagte Ngcukaitobi. Premierminister Netanjahu bezeichnete den Kampf gegen die Hamas nach dem 7. Oktober als „Kampf zwischen den Kindern des Lichts und den Kindern der Finsternis, zwischen Menschlichkeit und dem Gesetz des Dschungels“ und „Krieg zwischen den Söhnen des Lichts und den Söhnen der Finsternis“.

 

Ende Oktober und nochmals in einem Brief an israelische Soldaten vom 3. November bezog sich Netanjahu auf die biblische Geschichte der Vernichtung Amaleks durch die Israeliten. Der Ministerpräsident sagte: „Ihr müßt euch daran erinnern, was Amalek euch angetan hat, sagt unsere heilige Schrift. Und wir erinnern uns.“

Der Hinweis auf Amalek bezieht sich auf 1. Samuel 15,3: „Und nun geht hin und schlagt Amalek und vernichtet alles, was sie haben, und verschont sie nicht; sondern tötet Mann und Weib, Kind und Säugling, Ochs und Schaf, Kamel und Esel.“

Am 12. Oktober sagte Staatspräsident Jitzchak Herzog: „Es ist ein ganzes Volk da draußen, das verantwortlich ist. Es ist nicht wahr, daß Zivilisten nichts wissen und nicht beteiligt sind. Es ist absolut nicht wahr... und wir werden kämpfen, bis wir ihnen das Rückgrat brechen.“

Am 10. November sagte der Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir: „Wenn wir sagen, daß die Hamas vernichtet werden sollte, bedeutet das auch, daß diejenigen, die feiern, diejenigen, die unterstützen, und diejenigen, die Süßigkeiten verteilen – daß sie alle Terroristen sind und ebenfalls vernichtet werden sollten.“

Der südafrikanische Bericht zitiert auch eine Aussage des israelischen Ministers für Kulturerbe, Amihai Eliyahu, am 1. November auf Facebook: „Der Norden des Gazastreifens, schöner als je zuvor. Alles ist in die Luft gesprengt und dem Erdboden gleich gemacht, einfach nur ein Augenschmaus.“1

Langfristige Auswirkungen

© IGH
Die irische Anwältin Blinne Ní Ghrálaigh (King's Council) beschrieb die länger­fristigen völkermörderischen Folgen von Israels Vorgehen.
Blinne Ní Ghrálaigh zeigte bei der Anhö­rung am IGH diese weiße Tafel aus dem Al-Awda-Krankenhaus in Gaza, vor und nach der Bombardierung durch die israe­lischen Streitkräfte:
„Wer bis zum Ende bleibt, wird die Geschichte erzählen. Wir haben getan, was wir konnten. *Remember us* 20.10.2023.“
Der Autor, Dr. Mahmoud Abu Nujaila, war einer der Ärzte, die bei der Bombardie­rung des Krankenhauses am 21. Novem­ber umkamen [unten].
© ICJ

Ein irisches Mitglied des südafrikanischen Anwaltsteams, Frau Blinne Ní Ghrálaigh (King's Council), befaßte sich mit den längerfristigen völkermörderischen Folgen, die in Gang gesetzt wurden. Sie betonte, man müsse davon ausgehen, daß es mehr Tote durch Krankheiten und Hunger geben wird als durch Beschuß und Bombardierungen. Besonders bemerkenswert war jedoch ihr mora­lischer Appell an den Gerichtshof.

Sie zeigte ein Foto einer Wandtafel in einem Krankenhaus in Gaza, die der Planung von Operationen diente. Die Tafel war leer, weil keine chirurgischen Eingriffe mehr möglich waren, dort stand nur noch eine handschriftliche Nachricht eines Arztes von Ärzte ohne Grenzen: „Wer bis zum Ende bleibt, wird die Geschichte erzählen. Wir haben getan, was wir konnten. Vergeßt uns nicht.“

Wie Ní Ghrálaigh erklärte, starb der Autor dieser Zeilen, Dr. Mahmoud Abu Nujaila, bei der israelischen Bombardierung des Krankenhauses am 21. November.

Anschließend zitierte sie aus der Weihnachtspredigt von Pfarrer Dr. Munther Isaac, Pastor der evangelisch-lutherischen Weihnachtskirche in Bethlehem: „Gaza, wie wir es kennen, existiert nicht mehr. Das ist eine Vernichtung. Es ist ein Völkermord... Nach diesem Völkermord gibt es keine Entschuldigung mehr. Was geschehen ist, ist geschehen.“ Und an die ganze Welt und besonders die Christen gerichtet: „Ich möchte, daß Sie in den Spiegel schauen und sich fragen: Wo war ich, als in Gaza ein Völkermord stattfand?“

Sie schloß: „Südafrika steht hier vor diesem Gericht... Es hat getan, was es konnte. Es tut, was es kann, indem es dieses Verfahren einleitet. Wir fordern dieses ehrenwerte Gericht auf, zu tun, was in seiner Macht steht. Die Hoffnungen [des Gazastreifens] – einschließlich der Hoffnung auf das nackte Überleben – ruhen nun auf diesem Gericht.“

Die israelische Antwort vor dem IGH

Dr. Tal Becker, Rechtsberater des israelischen Außenministeriums, versuchte, Israels Großangriff auf Gaza als rein defensiv darzustellen. Er bestand darauf, daß nicht Israel, sondern die Hamas des Völkermordes angeklagt werden sollte. Wenn es Akte des Völkermordes gab, „dann wurden sie gegen Israel verübt“. Die Hamas führe ihre militärischen Operationen im Gazastreifen „systematisch und rechtswidrig“ in und unter zivilen Wohngebieten durch.

Ein großer Teil der israelischen Argumentation bestand aus einer detaillierten Beschreibung mit Foto- und Videopräsentationen der Greueltaten, die angeblich von der Hamas während der Angriffe am 7. Oktober begangen wurden. Dies sollte nahelegen, daß die Grausamkeit der Angriffe an diesem Tag die Grausamkeit der monatelangen Reaktion der militärisch unendlich mächtigeren israelischen Verteidigungskräfte (IDF) rechtfertige und daß die Massentötungen eine leider notwendige Abschreckung gegen zukünftige Angriffe dieser Art wären.

© IGH
Am 12. Januar antwortete Israel auf die Anklage Südafrikas wegen Völkermordes. Dr. Tal Becker, Rechtsberater des israelischen Außenministeriums, versuchte, Israels massiven Angriff auf Gaza als rein defensiv darzustellen.

Doch das Völkerrecht kennt keine recht­liche Rechtfertigung für Völkermord, auch nicht als präventive Selbstverteidigung. (Führende Nazis hatten vor dem Nürn­berger Tribunal erfolglos versucht, dieses Argument zu verwenden.)

Becker behauptete weiter, Südafrikas Klage sei ein Mißbrauch der Völker­mord­konvention: „Die Völkermordkonvention ist nicht dafür gedacht, die brutalen Auswir­kungen intensiver Feindseligkeiten auf die Zivilbevölkerung zu bekämpfen, selbst wenn die Anwendung von Gewalt ,sehr ernste Fragen des Völkerrechts aufwirft und enormes Leid und anhaltende Verluste an Menschenleben mit sich bringt‘.

Die Konvention wurde geschaffen, um ein bösartiges Verbrechen von außerordentlicher Schwere zu bekämpfen. Der Versuch, den Begriff ,Völkermord‘ als Waffe gegen Israel einzusetzen, bedeutet mehr, als dem Gericht eine grob verzerrte Geschichte zu erzählen. Er untergräbt Ziel und Zweck der Konvention selbst, mit Folgen für alle Staaten, die versuchen, sich gegen diejenigen zu verteidigen, die völlige Verachtung für das Leben und das Gesetz an den Tag legen.“

Becker vertrat die Ansicht, der Begriff „Völkermord“ sei nicht auf das Vorgehen der IDF in Gaza, sondern eher auf die „Sprache der Vernichtung“ der Hamas anzuwenden.

Malcolm Shaw (King's Council), ein britischer Professor für internationales Recht, bemühte sich, die von Südafrika vorgelegten Beweise für eine völkermörderische Absicht zurückzuweisen: „Was die Taten in diesem Fall betrifft, gibt es wenig, was über zufällige Behauptungen hinausgeht, um zu beweisen, daß Israel die konkrete Absicht hat oder hatte, das palästinensische Volk ganz oder teilweise zu vernichten.“

Er argumentierte weiter, Netanjahus Bezug auf Amalek sei aus dem Zusammenhang gerissen, und Netanjahu habe nur zur Zerstörung der Hamas, aber nicht der Palästinenser im allgemeinen aufgerufen.

Gilad Noam, Israels stellvertretender Generalstaatsanwalt für internationales Recht, behauptete, die israelischen Streitkräfte seien sorgfältig bemüht, den Schaden für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen so gering wie möglich zu halten. „Sollte es der Fall sein – was wir bestreiten –, daß die israelischen Streitkräfte gegen einige der Konfliktregeln verstoßen haben, dann würde diese Angelegenheit zu gegebener Zeit von Israels fähigem und unabhängigem Rechtssystem behandelt werden.“

Ein wichtiges Element der israelischen Verteidigungsstrategie bestand darin, Südafrika anzugreifen und seine Motive für die Klage in Zweifel zu ziehen. Becker behauptete, die südafrikanische Regierung hätte „lange stolze Verbindungen zu Hamas-Figuren“ gehabt. Lior Haiat, Sprecher des israelischen Außenministeriums, nannte Südafrika den „juristischen Arm der Hamas“.

© X/PalMissionUK
Palästinenser versammelten sich am 11. Januar auf dem Mandela-Platz in Ramallah, um Südafrika dafür zu danken, daß es Palästina vor dem Internationalen Gerichtshof verteidigt. Ein Ad-hoc-Orchester spielte die südafrikanische Nationalhymne und der Bürgermeister hielt eine Rede. Die Südafrikaner hatten unter Nelson Mandelas Führung die Apartheid beendet, erkannten aber die gleiche Form der Unterdrückung in Palästina und kämpften gegen sie.

Beobachtern in aller Welt ist allerdings klar, daß Südafrika als das Land, das die Apartheid überwunden hat, eine gewisse moralische Autorität genießt. In vielen Teilen der Welt wird Israel vorgeworfen, Apartheid gegen die Palästinenser zu praktizieren, wie Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa kürzlich betonte. Apart­heid ist zwar in dem Gerichts­ver­fahren kein Thema, sie gilt aber als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs strafbar ist. Associated Press merkte in einem Artikel über den Fall vor dem IGH an:

David Shavin, Carl Osgood, Dennis Small und Jason Ross haben zu diesem Artikel beigetragen.


Anmerkung

1. Das sind nur einige der Zitate, die im Antrag Südafrikas zu finden sind. Eine umfangreiche Datenbank mit ähnlichen Zitaten findet sich auf der Webseite israelquotes.com.