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Von Prof. Zhang Weiwei
Zhang Weiwei ist Professor für Internationale Beziehungen an der Fudan Universität in China.
Vielen Dank, Frau Helga Zepp-LaRouche, für Ihre freundliche Einladung, auf dieser wichtigen Konferenz zum 40-jährigen Jubiläum des Schiller-Instituts zu sprechen. Sie haben in den letzten Jahrzehnten so viel für die Förderung des Friedens durch Entwicklung und den Dialog zwischen den Zivilisationen getan.
Tatsächlich ist die Welt mit vielen Krisen und Herausforderungen konfrontiert. Nichts beschreibt die allgemeine Stimmung heute besser als der Bericht der Münchner Sicherheitskonferenz für das Jahr 2024 mit dem Titel „Lose-Lose“, der darauf hindeutet, daß der Optimismus nach dem Kalten Krieg in Bezug auf Sicherheit und Entwicklung verflogen ist und ein Großteil der Welt mit einer Situation konfrontiert ist, in der alle verlieren. Gibt es eine Möglichkeit, eine Win-Win-Situation für alle zu erreichen, statt einer Lose-Lose-Situation für alle? Ich möchte mit dieser kurzen Präsentation einen Vergleich zwischen Europas „Lose-Lose-Wegen“ und aus meiner Sicht Asiens „Win-Win-Wegen“ ziehen, um hoffentlich etwas Licht in dieses äußerst wichtige Thema zu bringen, mit dem die Menschheit heute konfrontiert ist.
Was Europa betrifft, so hat die Ukraine-Krise so viel menschliches Leid und Zerstörung sowie tiefe Ängste in ganz Europa verursacht; von Inflation bis hin zu Migration, von Energiekrisen bis hin zu wirtschaftlichen Rezessionen und mehr. Und vor allem der Verlust des Friedens für Europa; selbst die Aussicht auf einen Atomkrieg ist für viele Menschen in Europa heute eine realistische und beunruhigende Sorge.
Im Gegensatz dazu, was Asien betrifft – insbesondere den von mir so genannten China-ASEAN-Raum mit 2 Milliarden Menschen, was der dreifachen Bevölkerung Europas entspricht: Dieser Raum genießt seit fast fünf Jahrzehnten Frieden, Entwicklung und Wohlstand. Eine bemerkenswerte Win-Win-Situation in der heutigen Weltgeschichte.
Angesichts der Lose-Lose-Szenarien, mit denen ein Großteil Europas heute konfrontiert ist, kann man zumindest aus chinesischer Sicht nur eine einfache, ehrliche Frage stellen: Ob China und der China-ASEAN-Raum richtig gehandelt haben und, wenn man dies auf Europa überträgt, wo es möglicherweise falsch gelaufen ist, und daraus einige Lehren für die Welt als Ganzes zu ziehen?
Meiner Meinung nach ist dieser China-ASEAN-Raum, ihr Win-Win-Ergebnis, auf das zurückzuführen, was ich 3 + 1 nenne, oder drei Strukturen plus einen Schlüsselfaktor. Nämlich eine Entwicklungsstruktur, eine politische Sicherheitsstruktur und eine kulturelle zivilisatorische Struktur; und einen Faktor, den China-Faktor.
Lassen Sie mich mit der Entwicklungsstruktur beginnen. Anders als in Europa, dessen Wirtschaftsstruktur stark politisiert ist, hat die Entwicklung an sich im China-ASEAN-Raum oberste Priorität, da sie als unabdingbare Voraussetzung für Stabilität, Sicherheit und Entwicklung angesehen wird. Zu dieser Entwicklungsstruktur gehören die gut institutionalisierte China-ASEAN-Freihandelszone und RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership), die weltweit größte Freihandelszone im Rahmen der von China geführten Belt and Road Initiative (BRI) und vieles mehr. Dieser Raum ist mittlerweile zu einem Epizentrum des Weltwirtschaftswachstums geworden. China allein trägt seit fast einem Jahrzehnt mehr als 30% zum Weltwirtschaftswachstum bei. Europa ist das erste Land der Welt, das mit viel Getöse einen Green Deal verkündet hat; doch wie viele Menschen erinnern sich noch daran, daß China seinen Green Deal im Gegensatz dazu innerhalb eines Jahrzehnts durch seine eigene bodenständige Entwicklungsmethode abgeschlossen hat. Und ASEAN ist sein wichtigster externer Nutznießer. Bill Clinton könnte also Recht haben, wenn er sagt: „Es geht um die Wirtschaft, Dummkopf!“
Zweitens die politische Sicherheitsstruktur. ASEAN hat das berühmte ASEAN-Zentralitätsprinzip etabliert, das eine bündnisfreie Haltung beibehält, sich nicht auf eine Seite schlägt, die regionale Integration aktiv fördert und eine Reihe von Dialogmechanismen für Großmächte wie 10+1, 10+3, 10+8 und mehr schafft. Ebenso unterstützt China, das selbst äußerst unabhängig ist, nachdrücklich das Prinzip der zentralen Bedeutung der ASEAN. China war das erste Land, das dem Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit in Südostasien beitrat, um eine strategische Partnerschaft zu begründen, und das das Protokoll des Vertrags über die kernwaffenfreie Zone Südostasiens unterzeichnete.
Drittens die kulturelle Zivilisationsstruktur. China und ASEAN sind beide der Schönheit verpflichtet; die China-ASEAN-Gemeinschaft des gemeinsamen Schicksals mit Schwerpunkt auf kulturellem und zivilisatorischem Austausch über das, was als ASEAN- oder asiatische Weisheit bezeichnet wird, einschließlich strategischer Geduld, Verhandlungslösungen für territoriale und andere Streitigkeiten, das Gesetz der informellen Diplomatie, zwei Schritte vorwärts, einen zurück, unter Einhaltung der fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz – gegenseitiger Respekt für territoriale Integrität und Souveränität und Nichtangriff, Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des jeweils anderen, Gleichheit und gegenseitiger Nutzen und friedliche Koexistenz. Diese Region – Asien plus ASEAN, China plus ASEAN – lehnt die sogenannte liberale Hegemonie oder die Expansion der NATO nach Asien in jeglicher Form kategorisch ab.
Dank der drei Strukturen hat sich Südostasien, das oft als Balkan Asiens bezeichnet wird, mit all seiner Vielfalt in Bezug auf Rasse, Ethnizität, Ideologie und politische Systeme und mit dem sogenannten Fluch der Geographie, zu einem Segen der Geographie entwickelt. Dieser positive Trend weitet sich nun auch auf Zentralasien aus, und auch hier wird der sogenannte Fluch der Geographie dank der BRI in einen Segen der Geographie verwandelt, da diese Binnenregion nun an das Festland angebunden ist und zu einer unverzichtbaren Brücke zwischen Asien und Europa wird.
Infolgedessen verwandelt sich das geopolitische Dilemma, das in diesem Raum seit Jahrhunderten besteht, nun in eine Art neue Geo-Zivilisation. Anstatt sich gegenseitig auszuspielen, teilen die Menschen hier mehr von der chinesischen BRI-Philosophie, d. h. gemeinsam diskutieren, gemeinsam aufbauen und gemeinsam profitieren.
In diesem Zusammenhang kann man die drei globalen Initiativen des chinesischen Staatschefs Xi Jinping für Entwicklung, Sicherheit und Zivilisation besser verstehen, die auf den erfolgreichen Erfahrungen Chinas, der ASEAN und anderer basieren und viele andere Länder und Völker inspirieren werden.
Was den einen Schlüsselfaktor betrifft, den wir in Anlehnung an die NATO als „entscheidenden Ermöglicher“ bezeichnen, so ist dies nicht im Sinne der NATO zu verstehen, die China beschuldigt, der entscheidende Ermöglicher der Ukraine-Krise zu sein, was lächerlich und unsinnig ist. Sondern im Sinne von China als entscheidendem Ermöglicher einer Win-Win-Situation für den China-ASEAN-Raum und darüber hinaus.
Hier möchte ich einen kurzen Vergleich zwischen China und den Vereinigten Staaten anstellen und ihre unterschiedlichen Denk- und Verhaltensweisen als Großmächte aufzeigen.
Erstens behandeln die USA andere Länder entweder als Freund oder als Feind, während China, das schon viel länger ein zivilisierter Staat ist, andere als Freund oder potentiellen Freund betrachtet.
Zweitens hat China nicht die messianische Tradition, andere zu bekehren, oder eine militaristische Tradition der Eroberung, wie die Vereinigten Staaten oder die früheren europäischen Mächte. Das Fehlen von Religionskriegen in der langen Geschichte Chinas war eine Inspirationsquelle für viele europäische Aufklärer wie Voltaire, Leibniz und Spinoza.
Es erinnerte mich an meine Debatte mit Professor Fukuyama, dem Autor der These vom Ende der Geschichte. Die Debatte fand im Arabischen Frühling 2011 auf Haiti statt. Er sagte voraus, daß China seine eigene Version des Arabischen Frühlings erleben würde. Ich sagte: „Keine Chance; und der Arabische Frühling wird bald zum Arabischen Winter werden.“ Tatsächlich wurde er bald zum Arabischen Winter, und wenn Europa das Konzept chinesischer Gelehrter wie mich beherzigt hätte, hätte Europa vielleicht diese tragische Flüchtlingskrise, die Krise der menschlichen Migration, vermeiden können.
Drittens hat China von allen Großmächten die höchste Schwelle für den Einsatz von Gewalt. Dies ist eine große Tradition aus der Antike Chinas, aus der Zeit von Sun vor 2500 Jahren. Als China 1964 seinen ersten Nuklearsprengsatz testete, erklärte China, daß es niemals als erstes Land Atomwaffen einsetzen werde; ebensowenig würde es Atomwaffen gegen Nicht-Atomwaffenstaaten einsetzen. Wenn alle Nuklearmächte China nacheifern, besteht keine Gefahr eines Atomkriegs auf der Welt.
Ein zivilisierter Staat ist jedoch in erster Linie ein moderner Staat mit starken Verteidigungsfähigkeiten. China hat sehr klare rote Linien, die kein anderes Land überschreiten darf. Während des Kalten Krieges gab es keine heißen Kriege zwischen den Vereinigten Staaten und der UdSSR. Leider gab es jedoch zwei heiße Kriege zwischen China und den Vereinigten Staaten – den Koreakrieg in den 1950er Jahren und den Vietnamkrieg in den 1960er und 1970er Jahren. Vor nicht allzu langer Zeit hat China seine Interkontinentalrakete getestet, um diesen schießwütigen Kriegstreibern eine deutliche Warnung zu senden.
Ich selbst habe vor langer Zeit ein Konzept namens „Mutually Assured Prosperity“ (gegenseitig zugesicherte Prosperität, MAP) für die chinesisch-amerikanischen Beziehungen entwickelt, um das veraltete Konzept des Kalten Krieges der „Mutually Assured Destruction“ (gegenseitig zugesicherte Zerstörung, MAD) zu ersetzen. Jetzt haben wir alle Voraussetzungen dafür.
Viertens hat China eine globale Vision für die Welt, die sich stark von der der Vereinigten Staaten unterscheidet. China steht für „vereinen und gedeihen“ und nicht für „teilen und zerstören“. China steht für eine menschliche Gemeinschaft und lehnt die amerikanische Philosophie „Entweder am Tisch oder auf der Speisekarte“ kategorisch ab.
Das Schiller-Institut hat viele großartige Projekte wie den Oasen-Plan für den Nahen Osten ins Leben gerufen, um unter anderem viele Krisen wie die der illegalen Flüchtlinge zu überwinden. Technologisch gesehen beherrscht China heute eine ganze Reihe grüner Technologien, um Wüsten für die Erzeugung erneuerbarer Energien zum Nutzen der Menschheit zu nutzen.
Aber es ist notwendig, daß die betroffenen Regionen genügend politischen Willen entwickeln, um einen sinnvollen Frieden und eine sinnvolle Entwicklung zu erreichen. Oder noch besser, um Mechanismen zu entwickeln, die den drei Entwicklungsstrukturen ähneln, die ich gerade für China-ASEAN für Entwicklung, politische Sicherheit und kulturelle zivilisatorische Dialoge beschrieben habe. Und für diesen einen entscheidenden Faktor, nämlich die Vision und Unterstützung durch eine oder zwei Großmächte, ist es von entscheidender Bedeutung, daß diese Art von Projekten erfolgreich ist.
Ich weiß, daß dies alles andere als einfach ist, aber ich bin zuversichtlich, daß diese großartige Vision, die für die Menschheit besser ist, eines Tages Wirklichkeit wird. Mit diesem optimistischen Gedanken beende ich meine heutige Rede. Nochmals vielen Dank für Ihre Geduld. Vielen Dank.