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Neue Solidarität
Nr. 43, 24. Oktober 2024

Krieg an einer anderen Front?

Ein Interview mit der ehemaligen lettischen Europaabgeordneten Tatjana Zdanoka

Tatjana Zdanoka war zwanzig Jahre lang, von 2004 bis 2024, Mitglied des Europäischen Parlaments. Während ihrer Amtszeit hat sie sich für die Rechte der russischsprachigen Minderheiten in der EU – neun Millionen Menschen – eingesetzt, insbesondere in ihrem Heimatland Lettland und den beiden anderen baltischen Republiken, wo sie von nationalistischen Regimes bedroht sind. Seit dem Beginn der russischen Militäroperation in der Ukraine verschärfte sich die Unterdrückung dieser Minderheiten und ihre Vertreter wurden verfolgt. Letztendlich wurde Tatjana ihres passiven Wahlrechts beraubt und konnte nicht erneut für das Europäische Parlament kandidieren. In diesem Jahr wurde sie beschuldigt, Handlungen im Interesse der Russischen Föderation durchgeführt zu haben. Sie lebt derzeit in Brüssel und kehrt nicht in ihr Land zurück, wo sie verhaftet würde. Neue Solidarität hat sie im Oktober interviewt.

Zdanoka: Ich habe mich vier Wahlperioden lang im Europäischen Parlament für die Interessen der russischsprachigen Minderheiten eingesetzt. Der Name der Partei, von der ich 2004 gewählt wurde, lautete „Für Menschenrechte im vereinten Lettland“. Damals bestand die Hoffnung, daß Lettland den Empfehlungen internationaler Organisationen im Bereich der Menschenrechte folgen und ein vereintes Land werden würde. In seiner Entschließung vom 11. März 2004 zum Stand der Beitrittsvorbereitungen von zehn Ländern ermutigt das Europäische Parlament „die lettischen Behörden, die bestehende Spaltung der Gesellschaft zu überwinden und die echte Integration von ‚Nichtbürgern‘ zu fördern, indem sie gleiche Wettbewerbschancen in Bildung und Arbeit gewährleisten; ... empfiehlt den lettischen Behörden, das Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten rasch zu ratifizieren“.

Tatsächlich ist Lettland dann der EU beigetreten, obwohl es 450.000 Menschen ohne Staatsbürgerschaft (20% der Bevölkerung) gibt und ein Programm zur Abschaffung der Sekundarschulbildung in Minderheitensprachen umgesetzt wird. Das zweite Land mit einer ähnlichen Kategorie von „Nicht-Staatsbürgern“ ist das Nachbarland Estland. Diese Menschen waren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Arbeitskräfte aus anderen Sowjetrepubliken ins Baltikum eingewandert. Ein Großteil der heutigen Minderheitenbevölkerung, hauptsächlich ethnische Russen, Weißrussen, Polen und Juden, lebte jedoch schon seit Jahrhunderten in diesen Gebieten.

Zdanoka: Heute, nach 20 Jahren, können wir sagen, daß Lettland die offiziellen Empfehlungen des Europäischen Parlaments nicht umgesetzt hat. Obwohl das Rahmenübereinkommen ratifiziert wurde, werden alle seine Bestimmungen ignoriert. Die aktuelle Gesetzgebung sieht aus, als wäre Lettland ein einsprachiges Land, obwohl das nie der Fall war.

Nur ein Beispiel zur Veranschaulichung der Situation: Das offizielle Informationsportal für Ausländer in Lettland bietet keine Informationen über die ethnische und sprachliche Zusammensetzung der Bevölkerung Lettlands. Die Tatsache, daß Lettland nie ein monoethnisches Land war, wird nur durch die Namen weltweit bekannter Letten deutlich, die erwähnt werden: Sergei Eisenstein, Mark Rothko, Mikhail Baryshnikov, Uljana Semjonova, Sergei Žoltok. Was die Sprachen betrifft, so sollten die Leser sehr überrascht sein, daß 96% unserer Einwohner mindestens zwei Sprachen sprechen. Das offizielle Informationsportal Lettlands für Ausländer erklärt nicht, daß wir tatsächlich ein zweisprachiges Land sind, in dem ein Drittel der Menschen zu Hause Russisch spricht.

Zdanoka: Meine Antwort lautet, daß die EU-Institutionen anscheinend mehr an geopolitischen Überlegungen interessiert sind als an den Grundwerten und -prinzipien, auf denen die Europäische Union beruht. Die Probleme der russischsprachigen Muttersprachler werden von der EU hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt des Wettbewerbs mit Rußland um den Einfluß im Baltikum behandelt.

Zdanoka: Nach den Ereignissen in der Ukraine im Jahr 2014 begannen westliche Medien, ähnliche Szenarien für die drei baltischen Staaten – Estland, Lettland und Litauen – zu präsentieren. Ich muß nur an den berüchtigten BBC-Film Latvia Invasion erinnern, der 2016 unter dem Titel WWIII – Inside The War Room Premiere hatte.1

Vor kurzem wurden uns sogar der Zeitpunkt und der genaue Ort genannt. Laut dem Forschungsanalysten Vasily Gatov vom Unternehmen FilterLabs aus Massachusetts, der in einem Artikel von The Daily Beast vom 30. August zitiert wird,2 werden „aus den Spekulationen, die prorussische Kräfte in den baltischen Staaten verarbeiten, … angebliche Pläne Rußlands, die estnische Stadt Narva an einem bestimmten Datum im November 2024 anzugreifen“.

Es ist interessant, daß nach Meinung dieses „Analysten“ all dies auf Initiative einiger „prorussischer Kräfte“ geschehen wird. Beachten Sie, daß er mit solchen Mächten russischsprachige Muttersprachler meint, die im Baltikum leben.

Ein weiterer in diesem Artikel zitierter „Analyst“, Pavel Marinich, ein weißrussischer Politiker, der tatsächlich in Vilnius lebt, liefert eine abfällige Beschreibung dieser Menschen: „In Litauen gibt es eine ganze Reihe sogenannter ,Watniki‘, die in sowjetischen Fabriken gearbeitet haben, und obwohl es hier kein russisches Fernsehen gibt, schauen sie sich russische Propaganda auf YouTube und in den sozialen Medien von Telegram an.“

Zdanoka: Das russische Wort „Watniki“ bezeichnet die einfache, aber warme Arbeitskleidung, den Vorgänger der Steppmäntel und -jacken, die heute in ganz Europa getragen werden. Dieses Wort wurde ursprünglich als abwertende Bezeichnung für russischsprachige Menschen in der Ukraine erfunden, und dann hat sich die geographische Verwendung des Wortes ausgeweitet.

Tatsächlich ist jedoch keine Propaganda nötig, um diese Menschen in dem zu indoktrinieren, was sie täglich erleben: eine abfällige Haltung der herrschenden Elite der drei baltischen Staaten gegenüber ihrer Kultur, Sprache und ihrem historischen Gedächtnis. Eine solche Haltung kam insbesondere in den letzten zehn Jahren mit einer Politik der Ausgrenzung auf.

Zdanoka: Wenn ein Problem nicht gelöst werden soll, bringt man diejenigen zum Schweigen, die es ansprechen. Mitte Juli 2024, zwei Tage nachdem mein Mandat als Europaabgeordnete ausgelaufen war, erhob der lettische Staatssicherheitsdienst offiziell Anklage gegen mich wegen einer Straftat.

Durch diese Maßnahme ist der genannte Dienst nun in die Strafverfolgung nicht nur von Journalisten, Studenten und Aktivisten der Zivilgesellschaft, sondern auch eines ehemaligen Mitglieds des Europäischen Parlaments involviert. Wegen angeblicher Verbrechen gegen den Staat.

Diese angeblichen Straftaten wurden in den letzten zwölf Jahren in das Strafrecht aufgenommen. Ihre vage Formulierung läßt eine sehr breite Auslegung und selektive Anwendung zu. Zum Beispiel gefällt dem Staatssicherheitsdienst meine Arbeit zur Konsolidierung und Selbstorganisation der russischsprachigen Gemeinschaft in Lettland nicht. Ein weiteres angebliches Verbrechen: Menschen in Rußland über die Situation ihrer in Lettland lebenden Landsleute zu informieren. Insgesamt könnten diese meine Aktivitäten nach Ansicht des Dienstes Rußland bei Aktionen gegen die Republik Lettland unterstützen.

Ich bin bereit zu beweisen, daß alle Anschuldigungen völlig unbegründet sind. Der Kampf für die Erfüllung staatlicher Verpflichtungen gegenüber Minderheiten, für eine angemessene Bildung für alle Kinder und eine respektvolle Haltung gegenüber allen älteren Menschen ist kein Verbrechen gegen den lettischen Staat.

Zdanoka: Hier stehen wir vor dem Problem des Begriffs „Rechtsstaatlichkeit“. Tatsächlich wurden die Begriffe ausgetauscht: Anstelle von Menschenrechten spricht die EU nun hauptsächlich von Rechtsstaatlichkeit. Es ist interessant, die Erklärung des lettischen Präsidenten Edgars Rinkēvičs auf der 79. Sitzung der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 24. September 2024 unter diesem Gesichtspunkt zu analysieren.3 Seine mehrfachen Verweise auf die „regelbasierte Ordnung“ und die „Rechtsstaatlichkeit“ überschatteten die Verweise auf die Menschenrechte (die nur von einigen ausländischen Staaten verletzt würden).

Aber wenn sich unsere regierenden Politiker auf der internationalen Bühne immer noch dunkel an alte Vorstellungen erinnern, so sind diese zu Hause völlig aus dem Wortschatz verschwunden. Denn es ist viel bequemer, über das Gesetz und besonders über die Anwendung des Gesetzes zu sprechen, als über Menschen und ihre Rechte.

In unserer Region gibt es ein bekanntes Sprichwort: „Unser Gesetz ist wie ein Pferd. So wie man es reitet, so läuft es.“ Tatsächlich reitet unser Präsident vor allem diejenigen, die im Namen des Gesetzes sprechen – die Richter.

Zdanoka: In einer Reihe seiner öffentlichen Reden in diesem Jahr wies der lettische Präsident Edgar Rinkēvičs auf folgende ungelöste Probleme hin: unzureichende Sicherheitskapazitäten, zu tolerante Gerichte und der Kampf gegen Propaganda. Es ist erwähnenswert, daß der Präsident seine Ansprache vor Menschen, die Mitte des letzten Jahrhunderts auf dem Gebiet des heutigen Lettlands politisch unterdrückt wurden, nicht als kontrovers empfand. Hier ist ein Auszug aus dieser Rede,4 der auf dem offiziellen Portal des Präsidenten veröffentlicht wurde: „Wir haben viele Aufgaben, die wir gemeinsam mit Verbündeten bewältigen... Unsere Freunde werden hier immer mehr, aber wir haben auch viele Aufgaben und Hausaufgaben zu erledigen... Unsere Gerichte sind immer noch sehr nachsichtig gegenüber Kriminellen, die härter und strenger bestraft werden sollten, insbesondere für Verbrechen, die gegen die nationale Sicherheit und Unabhängigkeit begangen wurden.“

Zdanoka: Hier ist ein Charakterprofil dieser schrecklichen Kriminellen, die der Präsident (gefolgt vom Generalstaatsanwalt) vorschlägt, härter zu bestrafen.

Am 10. Juli 2024 verurteilte das Gericht in Riga Jelena Kreile gemäß dem Abschnitt des Strafgesetzbuches über die öffentliche Verherrlichung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen gegen den Frieden oder Kriegsverbrechen zu drei Jahren Haft.

Das Gericht befand, daß die Installationen in den Farben der russischen Trikolore in ihrem Wohnungsfenster eine Rechtfertigung für Aggression, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen. Auf dem Bild sind Jelena und ihre Installation zu sehen. Sie verwendet als Elemente die kleinen Flaggen sowohl Rußlands als auch Lettlands sowie einiger anderer Länder. Das Fenster blickt in den Hof hinter dem alten Holzhaus.

Die äußerst beliebte lettische Sprachplattform Pietiek.com veröffentlichte den Aufsatz eines anderen politischen Gefangenen, Vladimir Linderman, über den Fall.5 Der Autor kommt zu dem Schluß: „Für jeden unparteiischen Betrachter ist es offensichtlich: Sowohl die besagte Installation von Kreile als auch andere enthalten eine einfache Botschaft – wie in den Filmen über Katze Leopold –, laßt uns freundschaftlich leben! Oder, um es in einem akademischeren Geist auszudrücken: Kreile setzt sich für gute nachbarschaftliche Beziehungen zwischen Lettland und Rußland ein. Man kann ihre politische Naivität ironisieren, aber Naivität ist kein Verbrechen.“

Zdanoka: Ich würde ihnen sagen: Meine Lebenserfahrung sagt mir: Wenn eine Minderheit behauptet, diskriminiert zu werden, sollte man niemals der Mehrheit glauben, die diese Anschuldigung zurückweist. Es ist notwendig, das Problem an der Wurzel zu packen und es zu beseitigen, anstatt zu versuchen, die Pflanze zu vertuschen, die aus dieser Wurzel wächst.


Quellen

1. BBC-Film WWIII – Inside The War Room von 2016: https://www.dailymotion.com/video/x3q8go9

2. Artikel in The Daily Beast vom 30. August: https://www.thedailybeast.com/street-thug-putin-and-his-allies-considering-invasion-of-3-more-countries/

3. Erklärung von Präsident Edgars Rinkēvičs vor den Vereinten Nationen: https://www.president.lv/en/article/statement-edgars-rinkevics-president-republic-latvia-79th-session-united-nations-general-assembly

4. Rede von Edgars Rinkēvičs vor politisch Verfolgten: https://www.president.lv/en/article/address-president-latvia-edgars-rinkevics-25th-annual-convention-politically-repressed-latvia-ikskile

5. Artikel von Vladimirs Lindermans: https://m.pietiek.com/raksti/jelenas_kreiles_naivas_instalacijas_tiesa_noverteja_ar_tris_gadiem_ieslodzijuma/