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Neue Solidarität
Nr. 39, 26. September 2024

Wie China Demokratie versteht

Weißbuch des chinesischen Staatsrates

Von Dr. rer. publ. Werner Wüthrich

Vorbemerkung

US-Präsident Biden hat 2023 den zweiten sogenannten „Gipfel für Demokratie“ mit ausgewählten Ländern einberufen. Bundeskanzler Olaf Scholz war per Videoschaltung dabei. Er wandte sich direkt an den US-Präsidenten: „Vielen Dank! Joe, einen ganz besonderen Dank für diese wichtige und ermutigende Initiative. Die Demokratie hält, was sie den Menschen verspricht, und daher gehört die Zukunft der Demokratie.“ Beim ersten Gipfel 2022 war auch Taiwan dabei. Die chinesische Regierung hat scharf reagiert. Die Ausrichtung des Gipfels stelle einen gefährlichen Versuch dar, die Mentalität des Kalten Krieges wieder aufleben zu lassen.

Wer bestimmt, was Demokratie ist? Auch China beansprucht für sich, eine Demokratie zu sein. Der chinesische Staatsrat hat 2021 ein Weißbuch veröffentlicht, China: Democracy That Works, mit der Kernaussage: Die kommunistische Partei KPCh besitze zwar das Monopol der Macht, mit der Hauptaufgabe, das Riesenland mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern zusammenzuhalten (Xinhuanet 4.12.2021). Auf den tieferen politischen Ebenen habe jedoch jeder einzelne Bürger viele Möglichkeiten, sich einzubringen und mitzureden. Die chinesische Art von Demokratie habe das Land geeint und in den letzten Jahrzehnten zur beeindruckenden wirtschaftlichen Entwicklung geführt. Die Zustimmungswerte in den aktuellen Umfragen seien hoch.

Zentrale Punkte aus diesem Weißbuch sollen den westlichen Medienberichten gegenübergestellt werden, die oft allzuschnell und leichtfertig zwischen „guten“ Demokratien und „schlechten“ Autokratien unterscheiden und entsprechende Belehrungen oder gar „Empfehlungen“ aussprechen.

* * *

Der Titel der 50seitigen Broschüre des chinesischen Staatsrates lautet übersetzt: China – eine Demokratie, die funktioniert. Sie fand zum Beispiel bei Kathrin Büchenbacher, der Chinakorrespondentin der Neuen Zürcher Zeitung, keine Gnade: „Natürlich ist das Blödsinn“, schreibt sie, „China ist eine sozialistische Einparteiendiktatur“ (Neue Zürcher Zeitung vom 27. Dezember 2021). Solche Anwürfe reizen, die Broschüre etwas genauer anzuschauen:

China mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern versteht die Demokratie als „lebendigen Gesamtprozeß“, in dem die Rolle der kommunistischen Partei nicht für sich allein betrachtet werden kann. Politisch ist China eingeteilt in fünf politische Ebenen. (In der Schweiz sind es drei politische Ebenen: die Gemeinden, die Kantone und der Bund.) Es gibt in China 23 Provinzen, 333 Bezirke, 2860 Kreise und 41.040 Gemeinden mit einer Million Dörfern. Sie alle haben Parlamente – in China sind es Volkskongresse, deren Abgeordnete gewählt werden.

Im multiethnischen China gibt es 56 ethnisch autonome Gebiete. Das bedeutet zum Beispiel, daß alle Gouverneure, Präfektur-Kommissare und Leiter der einzelnen Landkreise zur dort lebenden ethnischen Gruppe gehören.

Politische Strukturen

Der Nationale Volkskongreß ist das höchste Organ der Staatsmacht. Er erläßt Gesetze und Verordnungen und ernennt hohe Beamte oder beruft sie wieder ab. Er trifft wichtige Entscheidungen und übt die Aufsicht über das politische Geschehen aus. Die in den Provinzen gewählten Abgeordneten (heute etwa 2600) treffen sich jedes Jahr für drei Wochen. Es versteht sich von selbst, daß sie in dieser kurzen Zeit die anstehenden Geschäfte nicht gründlich erledigen können. Deshalb wählen sie einen ständigen Ausschuß von 200 Abgeordneten, die das ganze Jahr arbeiten und die anstehenden Geschäfte vorbereiten, die dann vom Gesamtkongreß besprochen, abgeändert und angenommen oder verworfen werden.

Gewählte Volkskongresse gibt es auch auf den unteren politischen Ebenen in den einzelnen Provinzen, Bezirken und Kreisen. Alle Verwaltungs-, Aufsichts- und Justizorgane wurden von den Volkskongressen geschaffen. Ende 2020 dienten etwa 2,6 Millionen Abgeordnete in den zahlreichen Volkskongressen – etwa 95 Prozent in den Kongressen der Kreise und Gemeinden. Sie bringen die Vorschläge aus dem Volk direkt ein.

Am lebendigsten ist die Demokratie auf der Ebene der 41.000 Gemeinden, zu denen ungefähr eine Million Dörfer gehören. Hier finden wir neben den Wahlen auch direktdemokratische Entscheide. Dorfvorsteher und die Vorsteher der städtischen Einwohnerkomitees werden direkt gewählt. Über Sachentscheide wird abgestimmt – zum Beispiel, ob ein bestimmtes Schulhaus oder die Umfahrungsstraße gebaut werden soll.

Mitarbeiterkongresse in großen Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen

Gemäß Weißbuch bestimmen 150 Millionen Unternehmen ihre Geschäftspolitik weitgehend selbständig. 95 Prozent davon sind Privatunternehmen. Sie beschäftigen über 700 Millionen Menschen. Ungefähr 3 Millionen größere Unternehmen und auch öffentliche Einrichtungen haben Mitarbeiterkongresse eingerichtet.

Welche Rolle haben die Parteien?

Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) ist die weitaus größte Partei mit über 90 Millionen Mitgliedern. Es gibt acht weitere Parteien, die aber alle weniger als eine Million Mitglieder haben. Die kommunistische Partei ist kein monolithischer Block. In ihren Reihen gibt es unterschiedliche Stimmen, Strömungen und Interessen. Die KPCh ist die Regierungspartei, und die anderen acht Parteien akzeptieren ihre Führung. Mit mehrparteienübergreifender Zusammenarbeit und politischen Konsultationen werden die Interessen einer größtmöglichen Anzahl von Menschen erfaßt.

Die KPCh führt intern eine Vielzahl von Wahlen durch und entscheidet in Sachabstimmungen. Sie verbessert und verfeinert diese demokratischen Verfahren ständig, um herausragende Persönlichkeiten für die anstehenden Aufgaben zu finden. Ihre Mitglieder wählen die ungefähr 2300 Delegierten für den Parteikongreß. Diese wählen die 350 Mitglieder des Zentralkomitees, das wiederum die 25 Mitglieder des Politbüros wählt. Dieses Gremium wählt den Generalsekretär – heute Xi Jinping. Diese Wahldemokratie soll aus den 90 Millionen Mitgliedern die Fähigsten herauskristallisieren, die das Land im Sinne des Gesamtwohls zusammenhalten und nach außen führen.

Es ist keine leichte Aufgabe, die Bedürfnisse und Sorgen der 1,4 Milliarden Einwohner aus zahlreichen Ethnien im Auge zu haben. Es braucht dazu eine robuste und zentralisierte Führung – so das Weißbuch –, die die Richtung vorgibt und die politischen Kräfte koordiniert. Was früher die Aufgabe des Kaisers mit seiner Beamtenschaft war, übt heute Xi Jinping ganz ähnlich mit der heutigen Verwaltung aus. Es ist absolut undenkbar, daß nur ein kleiner Kreis oder gar eine einzelne Person die vielfältigen Aufgaben erfolgreich erfüllen kann. Will die Regierung wirklich Erfolg haben, bezieht sie die Bevölkerung möglichst in den Gesamtprozeß ein. Dazu gehört eine besondere Institution:

Die Politische Konsultativkonferenz (PKKCV) des chinesischen Volkes

Ärzte, Unternehmer, Handwerker, Lehrer, Professoren, NGOs … und auch Künstler und Sportler werden in die Politischen Konsultativkonferenzen gewählt. Im Jahr 2019 nahmen an der ersten Sitzung des 13. Komitees der PKKCV 2100 Delegierte teil, von denen 60 Prozent nicht Mitglied der KPCh waren.

Wenn ein Rechtsakt zur Debatte steht, werden die Leute der Konsultativkonferenz aktiv. Sie ziehen Fachleute bei, sie organisieren Anhörungen, veranstalten Seminare, führen über das Internet Meinungsumfragen durch, informieren die Bevölkerung und vieles mehr. Ein Beispiel: Als es um den aktuellen Fünfjahresplan ging, veranstaltete die Politische Konsultativkonferenz in der Region des Yangtze ein Symposium – im Beisein von Generalsekretär Xi Jinping – mit Unternehmern, Wissenschaftlern, Wirtschaftsexperten und Fachleuten für Erziehung und Gesundheit.

In den Politischen Konsultativkonferenzen ist die Vernehmlassung institutionalisiert und ausgebaut. Die Konferenzen auf allen politischen Ebenen bilden mit ihrer Arbeit einen Kompetenzpool, der eine Brücke von der Bevölkerung zur Verwaltung und zur Regierung schlägt.

Die Konsultativkonferenzen sind feste Gremien, die die Interessen und Anliegen der Bevölkerung aktiv sammeln und in die Politik einbringen. Und wie schon gesagt, die kommunistische Partei hat in diesen Gremien nicht die Mehrheit. Die Politischen Konsultativkonferenzen gab es schon vor der Gründung der Volksrepublik China. Han Suyin berichtet in ihrem Buch Die Morgenflut – Mao Zedong – ein Leben für die Revolution bereits im Jahr 1928 von der „Politischen Konsultativkonferenz“, die sich aus mehreren Parteien und Gruppierungen zusammensetzte. Als die Volksrepublik China im Jahr 1949 gegründet wurde, gab es noch keine Verfassung. Am 9. September trat die bereits bestehende Politische Konsultativkonferenz in Peking zusammen. Sie bestand aus dreiundzwanzig verschiedenen Organisationen, Gruppen und Parteien, und sie erhielt den Auftrag, die Verfassung der Volksrepublik China zu entwerfen (die 1954 in Kraft trat).

Entstehung von landwirtschaftlichen Genossenschaften

Interessant ist der Bericht aus einem chinesischen Dorf des Schweden Jan Myrdal. Mao hatte den Bauern nach der Staatsgründung empfohlen, ihr Leben freiheitlich in Genossenschaften einzurichten. Myrdal besuchte damals für einige Wochen das Dorf Liu Ling in der chinesischen Provinz Shensi. Die Bewohner errichteten ihre Häuser noch in Höhlen. Sie erzählten ihre Erlebnisse und Schicksale aus der Revolutionszeit und berichteten über ihre Erfahrungen in den ersten Jahren der Volksrepublik.

Die Bauern gründeten zahlreiche kleinere und größere landwirtschaftliche Genossenschaften, was eine Vielzahl von Wahlen und Sachabstimmungen zur Folge hatte. Die großen Volkskommunen wurden erst später errichtet und nach dem Tod von Mao in der Zeit von Deng Xiaoping wieder aufgelöst. Diese genossenschaftliche Schulung in Demokratie war sicher hilfreich für die wechselvollen Ereignisse in den späteren Jahrzehnten. Es wäre interessant, Liu Ling heute zu besuchen.

Chinas Weg zur Demokratie – so das Weißbuch – war steinig und gewunden. Er hat mehrfach den Weg des Experimentierens und der Auswahl durchlaufen. Es war nicht einfach, einen Weg zu finden, der für ein so riesiges Land mit 1,4 Milliarden Einwohnern paßte. Als Beispiel nennt das Weißbuch die unruhigen und konfliktreichen Jahre der Kulturrevolution. Es war eine Katastrophe für das chinesische Volk – aber es war nicht das Ende. China entwickelte seine Gesellschaft und Demokratie weiter, experimentierte und wählte die beste Lösung aus – ganz im Sinne von Konfuzius, für den das Lernen die höchste Priorität hatte. China baute seine zentralisierte Planwirtschaft nach und nach in eine vitale, sozialistische Marktwirtschaft nach chinesischer Prägung um. Zudem öffnete sich das Land gegenüber dem Ausland, was zu einem Wirtschaftswunder historischen Ausmaßes führte. – Heute zeigen Umfragen, daß die Zufriedenheit der Menschen mit der chinesischen Regierung seit vielen Jahren bei über 90 Prozent liegt.

Gesamtwürdigung des chinesischen Staatsrats

Im Westen ist das politische Leben oft einzig auf Wahlen fokussiert. Verschiedene Parteien ringen um die Macht, was nicht selten eskaliert, so daß der Respekt vor dem politischen Gegner verlorengeht und das Land sich in einander feindlich gesinnte Lager spaltet (was heute ausgeprägt in den USA der Fall ist). Oder es kommt vor, daß die dominierenden Parteien versuchen, ganze Wählergruppen auszuschalten, was in Deutschland zum Beispiel mit der AfD zu beobachten ist. Solche Tendenzen nehmen eher zu. In China ist die Macht vorgegeben, so daß sich die Politik und die demokratischen Verfahren stärker auf die Kooperation ausrichten (und weniger auf das Ringen um die Macht). Das kann sich im internationalen Wettbewerb durchaus als Vorteil erweisen.

Das chinesische Volk zeigt – so die Autoren des Weißbuches – ein zunehmendes Interesse an demokratischer Partizipation. Sie nimmt an Umfang und Tiefe ständig zu. Auf diese Weise beteiligt sich das Volk an der Verwaltung der Staatsangelegenheiten, an den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Angelegenheiten. Es entwickelt Vorschläge für lokale Themen oder auch für die nationalen Entwicklungspläne auf höchster Ebene. Angefangen hat diese demokratische Praxis ganz einfach. – Weil in den Anfängen der Republik die überwiegende Mehrheit der Bauern Analphabeten waren, wurden Wahlen nach dem „Bohnenprinzip“ abgehalten: Ein Wähler mußte lediglich eine Bohne in die Schale des Kandidaten einlegen, den er bevorzugte.

Beeindruckende gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung

China besteht aus einem Fünftel der Weltbevölkerung. Aber sein Ressourcenverbrauch pro Kopf ist gering. Der heutige Erfolg wäre nicht möglich gewesen ohne eine „weise“ politische Führung, die ein „Mandat des Himmels“ erhalten hat, um ein Bild von Konfuzius zu verwenden. In nur wenigen Jahrzehnten hat China eine industrielle Entwicklung durchlaufen, für die westliche Industrieländer etliche Jahrhunderte gebraucht haben. Trotz des dramatischen gesellschaftlichen Wandels ist es weitgehend gelungen, die Gesellschaft stabil zu erhalten und große soziale Unruhen zu vermeiden.

In China hat sich die persönliche Freiheit in einem Maße entwickelt, wie es dies in mehreren tausend Jahren Geschichte nie gegeben hat. Heute reisen die Chinesen frei durch das Land, 16.000 Unternehmen werden jedes Jahr neu gegründet, eine Milliarde Menschen surfen im Internet und kommunizieren miteinander.

Gegen hegemoniales Denken

Es gibt nicht den einen Weg zur Demokratie und nicht ein einziges Modell. Problematisch wird es, schreiben die Autoren des Weißbuches, wenn westliche Regierungen glauben, daß jeder, der mit mir nicht einverstanden ist, falsch liegt. Die Schwierigkeit liegt nicht in den Unterschieden der verschiedenen Demokratiemodelle, sondern in den Vorurteilen und der Feindseligkeit gegenüber den Versuchen anderer Länder, ihren eigenen demokratischen Weg zu finden. Sie mischen sich mit dem Vorwand, „Demokratie“ zu bringen, in die inneren Angelegenheiten eines Landes ein und verletzen seine Souveränität – um letztlich ihre eigenen hegemonialen Interessen durchzusetzen.

China ist mit seinen Modernisierungsbestrebungen nicht dem etablierten Weg der westlichen Länder gefolgt. Es hat ihre Modelle nicht kopiert, sondern hat etwas Eigenes geschaffen. Um den menschlichen Fortschritt voranzubringen, müssen alle Länder ihren eigenen Weg finden.

Offen für Zusammenarbeit

Das chinesische Volk – so die Autoren des Weißbuches – ist bereit, mit allen andern Völkern der Welt zusammenzuarbeiten, um die gemeinsamen Werte der Menschheit wie Frieden, Entwicklung, Respekt, Fairneß, Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit zu pflegen und voranzubringen. Im Geist des gegenseitigen Respekts werden wir, so heißt es dort, der Welt neue Elemente hinzufügen und auf dem Weg zu einer globalen Gemeinschaft voranschreiten.

Eingebettet in einer Jahrtausende alten Kultur

China schöpft seine Weisheit und Stärke aus seiner 5000 Jahre alten Kultur und seinen Traditionen. Die heutige Welt erlebt Veränderungen, die sie seit Jahrhunderten nicht mehr erlebt hat. Alle Wege zur Demokratie, die von den Völkern selbst gewählt werden, verdienen – so die Schlußempfehlung des Staatsrates – gebührend Respekt!

(Dieser Aufsatz erschien ursprünglich in der Zeitschrift Zeit-Fragen, Nr. 3, 6.2.2024, wir drucken ihn hier mit freundlicher Genehmigung des Autoren ab.)


Literatur