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Neue Solidarität
Nr. 38, 19. September 2024

„Raketenstationierung ist eine außerordentlich gefährliche Sache“

Ein Interview mit Botschafter a.D. Jack Matlock

Botschafter a.D. Jack Matlock ist einer der angesehensten pensionierten US-Diplomaten. Der Experte für russische Geschichte und Kultur wurde 1961 nach Moskau entsandt und blieb für den größten Teil des Kalten Krieges Washingtons Mann vor Ort. 1987 wählte Präsident Reagan ihn für den wichtigen Posten des Botschafters in der Sowjetunion aus, den er bis zu seiner Pensionierung 1991 innehatte.

Am 3. September gab Matlock, der heute 94 Jahre alt ist, Mike Billington von EIR und dem Schiller-Institut ein ausführliches Interview. Da er an vielen der Ereignisse, auf die der gegenwärtige Konflikt in der Ukraine zurückgeht, persönlich beteiligt war, bietet das Interview einen faszinierenden historischen Einblick. Er beantwortet in dem Interview auch eine Reihe von Fragen zur Lage in Deutschland.

Wir bringen im folgenden Auszüge aus diesem Interview, die Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion hinzugefügt. Den Videomitschnitt und die vollständige Mitschrift des Interviews im englischen Original finden Sie auf der Internetseite des Schiller-Instituts.

* * *

Jack Matlock: Offensichtlich sind wir in eine sehr gefährliche Phase eingetreten, denn Rußland betrachtet die Aktionen der Vereinigten Staaten und ihrer NATO-Verbündeten als aggressive Handlungen, die seine nationale Sicherheit bedrohen. Rußland ist eine atomar bewaffnete Macht mit einem Atomwaffenarsenal, das mindestens ebenso groß, wenn nicht sogar größer ist als das der Vereinigten Staaten, und viel größer als das unserer NATO-Verbündeten Frankreich und Großbritannien. Ich halte es für äußerst gefährlich, einen nicht erklärten Krieg gegen eine atomar bewaffnete Macht zu führen, die – zu Recht oder zu Unrecht – ihre Souveränität und sogar ihre politische Existenz bedroht sieht.

Ich glaube also, daß es eine gefährliche Situation ist. Nicht so sehr, daß eine der beiden Seiten einen Einsatz von Atomwaffen vorhat. Aber ich denke, eine solche Situation kann leicht durch Fehler zu einem nuklearen Schlagabtausch führen. Wenn beide Seiten erst einmal in Stellung gegangen sind und ihre Atomwaffen in Alarmbereitschaft versetzt haben, können Signale sehr leicht falsch verstanden werden. Das ist während des Kalten Krieges mehrmals passiert, und wir hatten Glück, daß nicht entsprechend reagiert wurde.

Ich würde auch sagen, daß wir in unserem derzeitigen unerklärten Krieg gegen Rußland übersehen, daß Rußland über viele andere Mittel verfügt, um uns anzugreifen, die nur sehr schwer zu tolerieren wären. Zum Beispiel sind seine Fähigkeiten in der Cyber-Kriegsführung denen der Vereinigten Staaten oder eines NATO-Mitgliedslands durchaus ebenbürtig. Zudem sind diese Angriffe auf eine Art und Weise möglich, bei denen nicht klar ist, wie sie zustande kamen. Zweitens ist Rußland zweifellos in der Lage, die Kommunikationssatelliten auszuschalten, die für einen Großteil der heutigen Kriegsführung unerläßlich sind. Ich halte es für äußerst leichtsinnig, das Risiko einer solchen Aktion einzugehen…

Rußland war nie eine Bedrohung

Matlock: Ich glaube, daß das so ist. Wir haben anfangs eine Partnerschaft für den Frieden mit den Ländern Osteuropas vorgeschlagen, auch mit Rußland und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Hätten wir diesen Kurs beibehalten – auch wenn wir die NATO in ihrer jetzigen Form beibehalten hätten, aber im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden in Zusammenarbeit mit den anderen –, dann hätte das meiner Meinung nach die Schaffung einer umfassenderen europäischen Sicherheitsstruktur ermöglicht. Das fand nicht statt. Und es hat nicht stattgefunden, weil sich die Vereinigten Staaten anstelle der Partnerschaft für den Frieden letztlich für die NATO-Osterweiterung entschieden haben. Ich halte das für einen großen Fehler.

Ich habe damals vor dem Senatsausschuß – der zu der Zeit von Senator Joseph Biden geleitet wurde – ausgesagt und mich entschieden dagegen ausgesprochen. Denn ich war der Meinung, daß Osteuropa und Rußland eine friedliche Beziehung zu Europa und eine zunehmende Integration ihrer Volkswirtschaften auf der Grundlage des freien Unternehmertums und des westlichen Systems brauchten. Ich wußte, daß der Übergang in der ehemaligen Sowjetunion äußerst schwierig sein würde, ähnlich wie in Osteuropa, aber noch schwieriger. Und mein Eindruck, wenn man anfangen würde, die NATO zu erweitern: Die NATO war eigentlich ein Verteidigungsbündnis, um eine sowjetische Invasion in Westeuropa zu verhindern, als die Sowjetunion Osteuropa beherrschte. Aber jetzt beherrschten sie Osteuropa nicht mehr, die Sowjetunion war zusammengebrochen, und Rußland hatte nur noch die Hälfte der Bevölkerung der Sowjetunion und ein Militär, das in völliger Auflösung begriffen war. Es konnte keine Bedrohung darstellen. Wenn man also anfängt, die NATO zu erweitern, bedeutet das, daß es eine Bedrohung durch andere Völker gibt. Und mir war klar, daß ein demokratischeres System in Rußland unmöglich wäre, wenn Rußland das Gefühl hatte, daß die Vereinigten Staaten in einer Weise vorgehen, die eine militärische Bedrohung darstellte, indem sie in Gebiete vorstießen und sich mit Ländern und Gebieten verbündeten, die traditionell von Rußland beherrscht wurden.

Ich würde sagen, die russischen Präsidenten haben das anfangs widerwillig akzeptiert, aber deutlich gemacht, daß es nicht so weitergehen dürfte, besonders nicht auf dem Balkan. Es ging weniger um die Existenz einer Garantie der Vereinigten Staaten, daß sie jeden Angriff auf ein NATO-Mitglied als Angriff auf sich selbst betrachten würden, das hat sie nicht sonderlich beunruhigt. Der russische Botschafter sagte mir damals. „Wissen Sie, wir werden diese Länder nicht bedrohen. Es ist uns egal, ob Sie ihnen diese Garantie geben. Die heikle Sache ist die Einrichtung von Militärstützpunkten dort; das können wir nicht akzeptieren.“ Aber genau das ist passiert. Und obwohl der Vertrag zur Wiedervereinigung Deutschlands vorsah, daß es auf dem Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik keine ausländischen Stützpunkte und auch keine Atomwaffen geben sollte, wurden später Pläne zur Stationierung von Stützpunkten in den osteuropäischen Ländern geschmiedet.

Besonders heikel war die Stationierung von Basen für ballistische Raketen in Polen und Rumänien. Es wurde behauptet, daß wir diese Stützpunkte dort brauchen, um uns vor möglichen Raketenangriffen aus dem Iran zu schützen. Aber schauen Sie: Damals hatte der Iran gar keine Raketen, die dazu in der Lage gewesen wären, und er hatte auch keinen Ärger mit unseren westeuropäischen Verbündeten. Es war also eine ziemlich absurde Begründung.

Und zweitens könnten die Raketen, die tatsächlich eingesetzt werden, mit einer Änderung der Software offensiv sein. So kam es auch, als die Vereinigten Staaten einseitig aus den meisten Rüstungskontroll- und Abrüstungsabkommen ausstiegen, die wir mit der Sowjetunion während der Reagan- und der ersten Bush-Regierung ausgehandelt hatten. Wir stiegen also aus ebenjenen Abkommen aus, die es uns ermöglicht hatten, den Kalten Krieg zu beenden, und das aus meiner Sicht ohne jeden guten Grund.

Ich denke, daß diese Politik von der Sowjetunion zwangsläufig als Provokation empfunden wurde, ganz besonders was die Frage der NATO-Mitgliedschaft ehemaliger Sowjetrepubliken wie Georgien und der Ukraine anging, die nach den üblichen Kriterien nicht für eine NATO-Mitgliedschaft in Frage kamen. Als die Vereinigten Staaten ihre NATO-Verbündeten davon überzeugten, zu erklären, daß Georgien und die Ukraine letztendlich NATO-Mitglieder werden würden, das war 2008, wollten – so würde ich sagen – zwei Drittel der ukrainischen Bevölkerung gar nicht der NATO angehören. Und es war mir immer ein Rätsel, warum wir ein Land in die NATO aufnehmen wollten, wenn zwei Drittel der Bevölkerung das nicht wollten.

Gleichzeitig bemühten sich jedoch sowohl die Vereinigten Staaten als auch die Mitglieder der Europäischen Union zunehmend darum, die Ukraine und Georgien von Rußland wegzulocken. Nun, diese Gebiete waren jahrhundertelang Teil von Rußland gewesen. Rußland hatte ihre Befreiung von der Sowjetunion angeführt – der russische Präsident Jelzin. Damals ging man davon aus, daß sie zwar unabhängig, aber in einer kooperativen Beziehung zu Rußland leben würden. Und ich denke, daß der Versuch, insbesondere die Ukraine von Rußland loszulösen, ein grundlegender Fehler der Vereinigten Staaten und ihrer NATO-Verbündeten war.

„Keinen Zoll nach Osten“

Matlock: Tatsächlich haben Präsident Bush und sein Außenminister dem sowjetischen Führer Gorbatschow definitiv zugesichert, daß es keine Änderung der NATO-Zuständigkeit im Osten geben würde, wenn er der deutschen Wiedervereinigung zustimmte – „nicht einen Zoll“. Die gleichen Zusicherungen erhielt Gorbatschow vom damaligen deutschen Außenminister [Hans-Dietrich Genscher] und von der britischen Premierministerin [Margaret Thatcher].

Diese Zusicherungen wurden jedoch nie in einem formellen Vertrag formuliert. Sie waren Teil der Verhandlungen, und zu diesem Zeitpunkt gab es keine Absicht, sie zu erweitern. Und als der Vertrag, der die Wiedervereinigung Deutschlands ermöglichte, ausgehandelt wurde, gab es eine Bestimmung, daß dort keine ausländischen Truppen stationiert und keine Atomwaffen eingesetzt werden sollten.

Das ist immer noch ein gültiger Vertrag: daß diese Waffen nicht auf dem Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik stationiert werden dürfen. Aber wir haben damit begonnen, diese Waffen in noch weiter östlich gelegenen NATO-Ländern zu stationieren. Ich würde sagen, das ist ein eklatanter Verstoß gegen die Zusicherungen, die mehrere westliche Regierungen im Vorfeld der deutschen Wiedervereinigung gegeben haben. Ich war bei einer Reihe dieser [Verhandlungen] anwesend, als die Zusicherungen gemacht wurden. Und jetzt, da die Unterlagen freigegeben wurden und offen zugänglich sind, kann man aus den historischen Dokumenten ersehen, daß es diese Zusicherungen gab.

Matlock: Ich denke, die Stationierung von Atomwaffen auf deutschem Territorium war nicht Teil der Vereinbarung zu Deutschlands Wiedervereinigung. Wenn diese Stationierung in anderen Teilen Deutschlands als der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik stattfände, würde sie nicht ausdrücklich gegen den Einigungsvertrag verstoßen, weil er nichts darüber aussagt, was von den anderen Teilen Deutschlands getan werden könnte. Und natürlich gab es damals amerikanische Stützpunkte und gibt es sie auch heute noch.

Dennoch glaube ich, daß das eine außerordentlich gefährliche Sache ist. Es mag legal sein, aber es ist gefährlich. Und ich frage mich, wie zurechnungsfähig eine deutsche Regierung ist, die das akzeptieren würde. Denn wenn diese Waffen jemals eingesetzt werden, wer wird darunter leiden? Deutschland, um Himmels willen – nicht die Vereinigten Staaten!

Wir haben in der Vergangenheit das ganze Problem der Stationierung dieser Raketen durchgespielt, um Rußland dazu zu bringen, seine Mittelstreckenraketen, die Deutschland und unsere anderen europäischen Verbündeten treffen könnten, abzuziehen. Und das ist uns gelungen. Das war einer der großen Erfolge des Kalten Krieges. Aber seither sind die Vereinigten Staaten aus diesem Vertrag ausgestiegen – er ist also nicht mehr gültig. Das ganze Problem ist jedoch, daß die Stationierung und der mögliche Einsatz von Atomwaffen in Mittel- und Osteuropa für Deutschland eine viel größere Gefahr darstellt als für die Vereinigten Staaten. Warum eine deutsche Regierung das akzeptieren sollte, ist mir unbegreiflich.

Matlock: Offensichtlich ist die Diplomatie verschwunden. Jetzt drohen wir öffentlich mit einem Krieg, der sich für die Ukraine als katastrophal erweist, und das ist mehr als nur eine Drohung. Und ich sage Ihnen, im Gegensatz zu den meisten Leuten, die sich zu diesem Thema äußern, kenne ich die Ukraine sehr gut. Ich spreche nicht nur fließend Russisch, sondern ich kann auch Ukrainisch verstehen und lesen, und ich war schon oft dort. Ich war ein großer Befürworter der Bewahrung des ukrainischen Erbes. Jedes Mal, wenn ich Botschafter war und öffentliche Reden in der Ukraine hielt, las ich sie auf Ukrainisch und nicht auf Russisch vor.

Ukraine auf „Selbstmordkurs“

Die derzeitige ukrainische Regierung ist aber auf einem Selbstmordkurs, wenn sie ihre Feindseligkeit gegenüber Rußland fortsetzt. Der Einmarsch in die Ukraine hätte nie stattfinden dürfen und hätte auch nicht stattgefunden, wenn die Vereinigten Staaten und die NATO rechtlich bindend zugesichert hätten, daß die Ukraine nicht in die NATO aufgenommen wird. Diese Zusicherung hätte man von Anfang an geben müssen.

Die Menschen vergessen dabei, wie Länder auf ein aus ihrer Sicht feindliches Militärbündnis an ihrer Grenze reagieren. Die Vereinigten Staaten traten in den Ersten Weltkrieg gegen Deutschland ein, weil Deutschland [1917] versuchte, einen Vertrag mit Mexiko zu schließen, der feindlich gegen die Vereinigten Staaten war. Wir betrachteten das als einen Kriegsgrund. Warum verstehen wir nicht, daß der Versuch, die Ukraine dem russischen Einfluß zu entziehen und dort Militärbasen einzurichten, aus ihrer Sicht absolut inakzeptabel und Grund zur Verteidigung wäre? Der Schaden für die Ukraine wird immer größer, und je länger dieser Krieg andauert, desto größer wird er sein.

Die Menschen müssen verstehen, daß wir die Entwicklungen in der Ukraine nicht verfolgt haben – die Art und Weise, wie die Ukraine mit westlicher Ermutigung zunehmend feindselig gegenüber den russischsprachigen Menschen in ihrem Osten war. Russischsprachige Menschen machten 45% der ukrainischen Bevölkerung aus, als das Land seine Unabhängigkeit erlangte. Und als es die Unabhängigkeit erlangte, garantierte die ukrainische Verfassung gleiche Rechte für russisch und ukrainisch sprechende Menschen sowie für Menschen mit anderen Minderheitensprachen.

Diese Rechte wurden nach und nach abgebaut, und es gab immer mehr Vorstöße, die für die Menschen im Osten beleidigend waren. Und dann kam es 2014 zu einem Staatsstreich, der von den Vereinigten Staaten und Vertretern der Europäischen Union unterstützt wurde, gegen den gewählten Präsidenten der Ukraine. Für jeden russischen Staatschef, nicht nur für Wladimir Putin, wäre das natürlich ein absolut unmöglicher, feindseliger Akt, auf den er reagieren muß. Und vor allem wollten sie nicht ihren Marinestützpunkt auf der Krim verlieren.

Außerdem dürfen wir nicht vergessen, daß diese Grenzen, die die Ukrainer nach eigenem Bekunden „wiederherstellen“ wollen, nicht von der Natur geschaffen wurden, sondern durch die Entscheidung von zwei Männern: Adolf Hitler und Joseph Stalin. Die einzige Ausnahme war die Krim, die Krim wurde von Nikita Chruschtschow, einem kommunistischen Führer der Sowjetunion, hinzugefügt, was damals praktisch keinen Unterschied machte. Es handelt sich also nicht um klare historische Grenzen.

Und die Ironie ist nun, daß bei den Ukrainern, vor allem im Westen des Landes, das Denken von Neonazis vorherrscht – wir neigen dazu, das zu ignorieren, oder wenn Putin darauf hinweist, sagen wir, er lügt. Er lügt nicht. Und die Sache ist die, daß es viele Gründe gab, warum Rußland sich militärisch wehrte, als es die zunehmende Einmischung der Vereinigten Staaten und des Westens in die Innenpolitik der Ukraine sah, wie sie versuchten, die Ukraine vollständig von jeglichem russischen Einfluß zu säubern. Es ist eine Tragödie für die Ukraine, daß es so weit gekommen ist.

Außerdem möchte ich sagen, daß Wirtschaftssanktionen, wie sie die Vereinigten Staaten und die EU gegen Rußland verhängt haben, normalerweise nur im Kriegszustand verhängt werden. Und nach der Verfassung der Vereinigten Staaten kann nur der Kongreß einen Krieg erklären. Der Kongreß hat den Krieg nicht erklärt, trotzdem hat der Präsident wiederholt Handlungen vorgenommen, die normalerweise nach internationalem Recht nur im Kriegsfall zulässig sind.

Zudem würde ich sagen, daß die Wirtschaftssanktionen gegen Rußland nicht das bewirken, was sie eigentlich bewirken sollten. Sie zielten darauf ab, die russische Wirtschaft zu ruinieren, aber das tun sie nicht. Sie haben die russische Wirtschaft nur noch autonomer gemacht und sie dazu gebracht, sich China, dem Iran und sogar Nordkorea zuzuwenden – und zwar in den Bereichen, in denen sie zuvor mit dem Westen kooperiert hatte. Das ist etwas, was auf lange Sicht sehr nachteilig für die Vereinigten Staaten und für Westeuropa sein wird.

Auch hier verstehe ich nicht, warum die derzeitigen Staatsführungen das nicht auch so sehen. Ich habe unsere Politik als kurzsichtig und als „Tunnelblick“ beschrieben – und genauso würde ich auch die Politik unserer NATO-Verbündeten in Europa beschreiben. Kurzsichtig, weil sie nicht in die Vergangenheit blickt, und mit einem Tunnelblick, weil sie alle Fakten ausblendet, die dem aktuellen Narrativ, mit dem sie hausieren geht, widersprechen würden. Manchmal habe ich auch gesagt, daß sie genau aus diesem Grund „autistisch“ ist. Sie konzentriert sich auf bestimmte Dinge und ignoriert andere. Und ich glaube, daß das für die Vereinigten Staaten oder ihre militärischen Verbündeten nicht gut ausgehen wird.

Das Dilemma unserer Zeit

Matlock: Ich kann nicht verstehen, warum die deutsche Führung eine solche Politik verfolgt, wie sie es tut. Ich verstehe es einfach nicht, denn ich glaube nicht, daß es im Interesse Deutschlands ist. Und natürlich, was wir hören und was die amerikanische Öffentlichkeit hört: „Oh, wir haben die Pflicht, die Demokratie in der Ukraine zu verteidigen“ – das ist absurd! Die Ukraine ist alles andere als eine Demokratie. Sie hat eine Regierung, die das Ergebnis eines Staatsstreichs war. Sie hat eine Regierung, die wichtige Vereinbarungen wie die Minsker Vereinbarungen, die den Krieg verhindert und den Donbaß in der Ukraine gehalten hätten, nicht eingehalten hat. Sie hat ständig gegen diese Vereinbarungen verstoßen.

Gleichzeitig sind die Vereinigten Staaten von den Rüstungskontrollabkommen abgerückt, die wir in den 1980er und 1990er Jahren geschlossen haben und die Deutschland tatsächlich geschützt haben. Die Vereinigten Staaten haben plötzlich einen Kreuzzug begonnen, um sich in einen Familienstreit zwischen Ostslawen einzumischen, bei dem es um die Frage geht, wo die Grenze zwischen der Ukraine und Rußland verläuft, was nie die geringste Auswirkung auf die Sicherheit Deutschlands oder der Vereinigten Staaten oder der anderen NATO-Verbündeten hatte. Jetzt sagen die Leute: „Oh, wenn Putin in der Ukraine Erfolg hat, wird er danach sofort die baltischen Staaten und Polen angreifen.“ Völlig absurd! Dafür gibt es überhaupt keine Beweise. Das ist einfach nur eine falsche Behauptung, würde ich sagen.

Aber wenn man sich das Grundsätzliche anschaut, dann sieht man die gegenwärtigen Bemühungen, die – zu Recht oder zu Unrecht – darauf abzielen, die von Hitler, Stalin und Chruschtschow vorgegebenen Grenzen der Ukraine wiederherzustellen, bei denen es damals darum ging, die Ukraine zu unterjochen, nicht sie zu befreien. Der Versuch, diese Grenzen wiederherzustellen, ist nicht nur unmöglich, sondern das zu einem Ziel zu machen und mit Waffen zu unterstützen, die nicht nur in der Ukraine, sondern jetzt auch zunehmend gegen Rußland eingesetzt werden, das grenzt in meinen Augen an Wahnsinn, wie auch für jeden, der sich ernsthaft mit der Vergangenheit und dem Wesen dieser Nationen auseinandersetzt.

Lassen Sie mich noch hinzufügen, daß ich glaube, das amerikanische Volk unterstützt die Waffenlieferungen an die Ukraine immer noch, es wird ihm aber ein völlig falsches Bild der Lage vermittelt. Es heißt: „Oh, wir müssen einem demokratischen Land gegen Unterdrückung helfen.“ Die Ukraine ist kein demokratisches Land, und es ist für eine ausländische Macht unmöglich, in einem anderen Land Demokratie zu schaffen. Das ist einfach irrational.

Aber die meisten Menschen in den Vereinigten Staaten und auch in Europa denken natürlich nicht viel über die Geschichte und die Vorgänge in diesen anderen Teilen der Welt nach. Sie ziehen ihre Schlüsse aus groben Verallgemeinerungen, die bei näherer Betrachtung keine wirkliche faktische Grundlage haben. Das ist, glaube ich, das Dilemma unserer Zeit. Wir haben Regierungen, die, offen gesagt, eine falsche Sichtweise dieser Dinge fördern. Und das halte ich für unglaublich gefährlich. (…)