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Von Alexander Hartmann
Der dreitägige NATO-Gipfel in Washington in der vergangenen Woche fand unter den düsteren Vorzeichen des sich deutlich abzeichnenden Scheiterns statt. Aber trotz aller Mißerfolge und Rückschläge bekannten sich die versammelten westlichen Staats- und Regierungschefs zu einer noch umfassenderen Kriegspolitik. Drei Tage lang versicherten sie sich gegenseitig, man könne mit zig Milliarden Dollar an Rüstungsgütern – so diese überhaupt produziert werden können – Rußland in den Ruin treiben und möglichst in Stücke schlagen. Aber was passiert, wenn das Land mit der größten Anzahl von Atomwaffen zerbricht? Darüber kann man sich später den Kopf zerbrechen...
Das Treffen begann mit einer pathetischen Rede des scheidenden Generalsekretärs Jens Stoltenberg, in der er das lange Bestehen und enorme Wachstum der NATO in den letzten 75 Jahren rühmte. Die NATO existiere inzwischen länger als der Delische Bund im antiken Griechenland, der bisher als das am längsten bestehende Bündnis (74 Jahre) galt. Eine recht merkwürdige und ominöse Anspielung, denn der Delische Bund hatte bereits nach 24 Jahren seine ursprüngliche Mission aufgegeben und wurde zum imperialen Rammbock, der einige der längsten und bösartigsten Machtkämpfe der Geschichte auslöste. Um ihre Vorherrschaft zu erhalten, führte die dominierende Macht Athen Krieg gegen eigene Verbündete und neutrale Staaten, bis es schließlich von Sparta besiegt wurde und der den Verbündeten aufgezwungene Attische Bund auseinanderbrach.
US-Präsident Joe Biden wiederholte die Litanei, die Ukraine müsse unbedingt gewinnen und Putin eine Niederlage erleiden, vor seinem bewundernden, aber auch ängstlichen Publikum, das sich fragte, ob er den Auftritt ohne peinliche Aussetzer durchsteht. Biden behauptete, Präsident Putin wolle die Ukraine von der Landkarte tilgen und „wird dann nicht haltmachen“. Er beteuerte: „Machen Sie sich nichts vor, die Ukraine kann und wird Putin stoppen.“ Heute seien 100.000 US-Soldaten in Europa stationiert und es habe eine enorme Aufstockung von Ausrüstung und Waffen gegeben, rühmte er sich. Die USA und ihre Verbündeten schickten Dutzende Panzer, Schützenpanzer, Luftabwehrsysteme und Langstreckenraketen in die Ukraine.
Es wurde bekanntgegeben, daß die Verlegung von F-16-Kampfflugzeugen in die Ukraine bereits läuft, und in der Erklärung des Washingtoner Gipfels ist die Rede von einem „unumkehrbaren Weg“ für den NATO-Beitritt der Ukraine. Gleichzeitig weitet die NATO ihren Aktionsradius auf den asiatisch-pazifischen Raum aus, um sich auch auf eine Konfrontation mit China vorzubereiten.
Wie Moskau seit Jahren immer wieder öffentlich erklärt und bekräftigt hat, ist ein NATO-Beitritt der Ukraine für Rußland eine ganz klare rote Linie, und eine solche Entscheidung würde die Welt noch näher an den Dritten Weltkrieg bringen. Offenbar war Joe Biden nicht der einzige Teilnehmer, dessen Geisteszustand hinterfragt werden sollte. Man könnte fast meinen, alle diese Schritte seien eine Art Trotzreaktion auf die zunehmende Fragmentierung des Westens und den Zusammenbruch seines so oft wiederholten Narrativs.
Die Gründerin des Schiller-Instituts, Helga Zepp-LaRouche, kommentierte in ihrem wöchentlichen Internetforum am 10. Juli: „Diese Arroganz des kollektiven Westens ist das Problem. Denn es ist diese Arroganz, die diese Leute daran hindert, die Welt so zu sehen, wie sie ist. Sie glauben, daß sie die Welt weiter als unipolares System regieren können, indem sie alle anderen Länder und Völker als minderwertig behandeln.“
Obwohl die NATO sich „nordatlantisch“ nenne, expandiere sie jetzt in den Pazifik, fuhr Zepp-LaRouche fort. „Warum bleiben sie nicht zu Hause? Was haben sie davon, wenn sie versuchen, sich zu einem globalen System über die ganze Welt auszudehnen, um Rußland und China einzudämmen? Wenn die Länder des Globalen Südens damit nicht einverstanden sind und darauf bestehen, ihr eigenes System aufzubauen, ist das sehr rational, sehr verständlich und legitim. Niemand hat das Recht, der Mehrheit der Weltbevölkerung seinen Willen aufzuzwingen.“
Sie betonte: „Die NATO ist in einer alles andere als starken Position, und wenn es bei diesen Leuten einen Funken Vernunft gäbe, würden sie die Initiative des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán aufgreifen, der bewiesen hat, daß man verhandeln kann.“
Orbán hatte den Vertretern des „permanenten Krieges“ in der Woche vor dem NATO-Gipfel einen dreifachen Schock versetzt: unmittelbar nach Übernahme der Präsidentschaft des EU-Rats am 1. Juli besuchte er erst die Ukraine und dann Rußland, und dann unmittelbar vor dem Washingtoner Gipfel auch Peking. Er und der chinesische Präsident Xi Jinping stellten nach ihren Gesprächen fest, daß ihre Friedensoffensiven sich gegenseitig stärken.
Am 5. Juli, dem Tag seines Treffens mit Präsident Putin, veröffentlichte Orbán im traditionsreichen US-Magazin Newsweek einen Gastkommentar mit dem Titel „Der Zweck der NATO ist Frieden, nicht endloser Krieg“. Darin erinnerte er an die ursprüngliche Aufgabe der NATO:
„Die NATO steht an einem Wendepunkt. Es lohnt sich, daran zu erinnern, daß das erfolgreichste Militärbündnis der Weltgeschichte als Friedensprojekt begann und daß sein künftiger Erfolg von seiner Fähigkeit abhängt, den Frieden zu bewahren. Doch heute steht nicht mehr der Frieden, sondern der Krieg auf der Tagesordnung, nicht mehr die Verteidigung, sondern der Angriff. All dies steht im Widerspruch zu den Gründungswerten der NATO… Heute muß es darum gehen, das Bündnis als Friedensprojekt zu erhalten.“
Nach einem Rückblick auf das ernsthafte Engagement Ungarns in den letzten 25 Jahren, die NATO zu einer nicht offensiven Streitmacht zu entwickeln, fuhr er fort:
„Heute mehren sich in der NATO die Stimmen, die eine militärische Konfrontation mit den anderen geopolitischen Machtzentren der Welt für notwendig, ja unvermeidlich halten. Diese Wahrnehmung einer unvermeidlichen Konfrontation gleicht einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Je mehr die Staats- und Regierungschefs der NATO einen Konflikt für unvermeidlich halten, desto größer wird ihre Rolle bei dessen Auslösung.“
Dieser Charakter der sich selbst erfüllenden Prophezeiung einer Konfrontation werde heute immer deutlicher, „wenn man hört, daß die Vorbereitungen für eine mögliche NATO-Operation in der Ukraine begonnen haben – und sogar hochrangige Berichte, daß sich Truppen aus NATO-Mitgliedsstaaten bereits in der Nähe der ukrainischen Grenze befinden“.
„Zivilisationen sterben durch Selbstmord, nicht durch Mord“, zitierte Orbán den Historiker Arnold Toynbee, und fuhr fort: „Als das stärkste Militärbündnis, das die Welt je gesehen hat, sollten wir keine Angst vor einer Niederlage durch einen äußeren Feind haben. Ein äußerer Feind, wenn er vernünftig ist, wird es nicht wagen, einen NATO-Staat anzugreifen. Aber wir sollten uns sehr davor fürchten, daß wir selbst die Werte ablehnen, aus denen unser Bündnis entstanden ist. Die NATO wurde gegründet, um den Frieden im Interesse einer stabilen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklung zu sichern. Die NATO erfüllt ihren Zweck, wenn sie den Frieden gewinnt und nicht den Krieg. Wenn sie Konflikt statt Kooperation und Krieg statt Frieden wählt, begeht sie Selbstmord.“
In einem Interview mit der Schweizer Weltwoche, das am 6. Juli erschien, erläuterte Orbán das Prinzip seiner Initiativen:
„Was wir tun können, ist das, was immer die Aufgabe der [EU-Rats-]Präsidentschaft ist: Vorschläge auf den Tisch legen. Wir werden also nicht entscheiden, aber wir werden den 27 Ministerpräsidenten helfen, zu entscheiden. Wir werden an allen Orten sein, die für Europa wichtig sind, wir werden alle Situationen erkunden... Diese Führung ist nicht bürokratisch. Natürlich gibt es diese Dossiers und Überlegungen, aber es muß auch eine politische Form der Energie geben: eine Initiative, die keine Entscheidung ist, sondern eine klare Beschreibung der Lage auf den Tisch legt – die möglichen Lösungen. So werden wir vorgehen. Wenn Sie oder Ihre Zuschauer in den nächsten Tagen überraschende Nachrichten von überraschenden Orten hören, dann ist das die Arbeitsweise, die dahinter steckt.“
Der Unterschied zwischen einer „präsidialen“ und einer „bürokratischen“ Denkweise ist unabhängig von der Regierungsform das, was manchmal als „Voluntarismus“ bezeichnet wird. Das „präsidiale Prinzip“, auf das sich Orbán bezieht, auf das er zugreift und das er anwendet, ist nicht an sein spezielles Amt gebunden. Vielmehr erfordert die monumentale Aufgabe, die es zu bewältigen gilt, daß die Person, die die Verantwortung für die Erfüllung der Aufgabe übernimmt, andere davon überzeugen muß, sich für die Erfüllung dieser Aufgabe einzusetzen. Eine solche Führungspersönlichkeit kann eine Vorgehensweise nur vorschlagen, aber nicht vorschreiben, und sie muß mit der Kraft der Vernunft andere davon überzeugen, richtig zu handeln, auch wenn sie stark abgeneigt sind.
In diesem Sinne demonstriert Orbán seinen NATO-Kollegen, was eine verantwortungsbewußte Führung auszeichnet: die Bereitschaft und Entschlossenheit, die Stimme der Vernunft zu erheben und entsprechend zu handeln, wenn niemand anderes es wagt, dem Wahnsinn des Zeitgeistes zu widersprechen, und so auch andere dazu zu inspirieren, einen Weg aus der Krise zu ebnen. Es ist zu hoffen, daß es ihm auf diese Weise gelingt, den derzeitigen Konsens der NATO-Staaten, der uns in den atomaren Selbstmord zu treiben droht, aufzubrechen und eine Neuausrichtung der westlichen Politik zu katalysieren.