|
|
Von Michele Geraci
Michele Geraci war Unterstaatssekretär im italienischen Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung und hat derzeit eine Gastprofessur für Finanzen und Wirtschaft an der New York University in Shanghai. Im zweiten Abschnitt der Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 15.-16.6. sagte er folgendes (Übersetzung aus dem Englischen, Zwischenüberschriften wurden hinzugefügt.)
Ich danke Ihnen vielmals. Ich grüße Sie aus Shanghai, wo ich heute bin. Ich danke dem Schiller-Institut und allen Teilnehmern für ihre Anwesenheit und für die Einladung. Ich werde mich relativ kurz fassen, ich möchte Ihnen einige wichtige Punkte nennen, die Sie vielleicht aus meiner kurzen Rede mitnehmen können.
Der erste wichtige Punkt ist, daß es eine Alternative gibt: Es gibt einen besseren Weg für die Länder der Welt, miteinander zu interagieren.
Wenn wir von einer unipolaren Welt zu einer multipolaren Welt übergehen, wenn also der Westen seine relative Stärke, die von den USA ausgeht, verliert und der Globale Süden aufsteigt, dann führt diese tektonische Verschiebung zu natürlichen Spannungen. Bei diesen natürlichen Spannungen handelt es sich im wesentlichen um einen Konflikt zwischen zweierlei Denken über Wirtschaft.
Das eine basiert auf dem Nullsummenspiel, dem Denken, das sich die westlichen Länder bisher zu eigen gemacht haben. „Wenn ich gewinne, verlierst du; wenn du verlierst, gewinne ich.“ Dieses Denken wird bekanntlich von China und den Ländern der Neuen Seidenstraße, den BRICS-Staaten usw. in Frage gestellt. Ich verwende dafür im allgemeinen den Begriff des Globalen Südens, Sie werden mir verzeihen, wenn ich verallgemeinere, ich tue das der Einfachheit halber.
Die alternative Sicht ist eine „Win-Win-Situation“, in der „euer Wohlstand auch zu meinem eigenen Wohlstand beiträgt“ und mein Wohlstand auch für euren Wohlstand von Bedeutung ist. Natürlich sind die Dinge nicht ganz so simpel, in der Realität kann es Abweichungen von diesem idealen Win-Win-Ansatz geben. Aber im Durchschnitt gilt dieses Denken, und wenn man von Ausnahmen absieht – wie z.B. Reibungen im System, die diese Win-Win-Situation nicht wirklich realisieren –, dann sollte dieses Denken die Tür für eine Diskussion über Kooperation anstelle von Konkurrenz öffnen.
Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, ist der, daß beim Nullsummenspiel der Wettbewerb im Mittelpunkt steht, während es beim Win-Win-Spiel die Zusammenarbeit ist. Wir sehen Aktivitäten der europäischen Länder und der Europäischen Union, die China in der Beziehung zu ihm manchmal als einen systemischen Rivalen sehen, manchmal als Partner, manchmal als Konkurrenten. Wir alle hier wollen versuchen, diesen Ansatz zu ändern und uns mehr auf den kooperativen Weg zu konzentrieren.
Die Europäische Union muß verstehen, was die Wirtschaftsgeschichte der letzten 2000 Jahre zeigt: daß die Wirtschaft der Welt 1800 Jahre lang von den asiatischen Ländern, von Indien und China, dominiert wurde. Das änderte sich Ende des 17. Jahrhunderts, als die Briten nach Indien und China kamen. Der Aufstieg und die Vorherrschaft des Westens, der heutigen amerikanisch-europäischen Hegemonie, war also in der Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten zwei Jahrtausende nur ein kleiner „Ausrutscher“.
Dementsprechend müssen wir erkennen, daß der Aufstieg des Globalen Südens keine Herausforderung ist. Er ist nicht nur etwas, bei dem wir Gewinn machen können, es ist auch ein fast schon natürliches und notwendiges Ergebnis, indem das Gleichgewicht auf der Welt wieder dahin gelangt, wo es schon immer war. Es ist fast schon eine Art Anziehungskraft zu einer Rückkehr zum Durchschnitt, der uns schon seit langem begleitet.
Ich würde daher statt vom Aufstieg Chinas und des Globalen Südens und Indiens eher davon sprechen, daß sie wieder die Position erhalten, die ihnen bisher zustand. Die führenden Länder sind dabei natürlich China und Indien, andere, kleinere Länder waren nie dominant, aber auch die kommen jetzt im Gefolge Indiens und Chinas wieder zurück.
Über dieses „Win-Win-Spiel contra Nullsummenspiel“ hinaus können wir daher versuchen, einen alternativen Weg zu finden, wie ich eingangs sagte: Geschäfte, Handel und Investitionen zu entwickeln, bei denen man „Hand in Hand“ geht. Das ist etwas anderes als das „Hand in Hand“, das unsere amerikanischen Freunde als einzigen Weg zum Erfolg sehen, nach amerikanischer Auffassung bedeutet das nämlich, daß wirtschaftliche Dominanz Hand in Hand mit militärischer Dominanz einhergehen muß. Das eine gilt als entscheidend für den Erfolg des anderen. Statt dessen sollten wir versuchen, diese Kopplung von wirtschaftlicher und militärischer Dominanz durch eine rein wirtschaftliche Zusammenarbeit zu überwinden.
Es ist sehr merkwürdig, wenn ich in Asien mit anderen Wissenschaftlern und Regierungsmitgliedern spreche, fragen sie immer danach. Die USA befinden sich geographisch gesehen wirklich in einer ganz einzigartigen, optimalen Position. Sie sind ein Land, das durch zwei große Ozeane isoliert ist. Im Norden grenzt es an ein befreundetes Land, und im Süden grenzt es an ein relativ befreundetes Land, das nicht wirklich eine militärische Bedrohung darstellt. Vielleicht sind die Migranten das einzige Problem. Aber letzten Endes könnten die USA schon allein aufgrund ihrer optimalen geographischen Lage in einer sicheren Umgebung leben. Und ja, die USA haben wirtschaftliche Interessen in anderen Teilen der Welt, aber das haben Frankreich und Deutschland, Großbritannien und selbst China auch. Diese wirtschaftlichen Interessen sind auch außerhalb ihres eigenen Territoriums erfolgreich, ohne daß sie auf diese „zweite Hand“ einer militärischen Dominanz angewiesen sind.
Ich denke also, daß der Erfolg Chinas in anderen Ländern – Gürtel und Straße, die Investitionen in Afrika und anderen asiatischen und zentralasiatischen Ländern –, der ohne Notwendigkeit einer militärischen Hegemonie in diesen Ländern auskommt (hoffentlich wird das noch einige Zeit so bleiben), den Weg zeigt, den auch die USA einschlagen könnten. Sie könnten ihre wirtschaftlichen Interessen weit weg von der schützenden Geographie der Vereinigten Staaten ohne Notwendigkeit militärischer Intervention verfolgen.
Die USA sollten den Erfolg Chinas auf wirtschaftlichem Gebiet, der nicht mit militärischen Aktionen einhergeht, positiv sehen. Denn das gibt ihnen einen Anhaltspunkt dafür, wie sie hoffentlich dieses „Hand in Hand“ der militärischen und wirtschaftlichen Hegemonie aufbrechen können und in ihrem eigenen Interesse ihre Zeit und ihre finanziellen Ressourcen besser für die vielen gefährlichen und wachsenden Probleme nutzen können, mit denen sie im Inland konfrontiert sind.
Mein alter Wirtschaftsprofessor, Rudi Dornbusch, hat mir immer gesagt: „Michele, studieren Sie Geographie und Demographie“ – also, wo das Land liegt, und die Menschen, die dort leben – „um die wirtschaftliche Dynamik zu verstehen.“ Ich denke also, es ist eine relativ einfache Lösung für ein komplexes Problem. Natürlich vereinfache ich hier ein bißchen.
Die Neue Seidenstraße ist für mich ein Erfolgsbeispiel für eine prosperierende wirtschaftliche Entwicklung in den Landgebieten Asiens und Afrikas. Ich bin froh, daß ich vorhin die visionäre Rede von Lyndon LaRouche gehört habe, der schon vor 25 Jahren, 2001, 10-12 Jahre bevor Präsident Xi Jinping zum ersten Mal Gürtel und Straße erwähnte, die Vorteile der Entwicklung von Landrouten als Alternative zu den Seewegen vor Augen hatte: eine sehr aufschlußreiche und visionäre wirtschaftliche Analyse, die davon ausging, daß der Nebeneffekt dieses Transits nicht nur an den Endpunkten, sondern auch entlang der Route wirtschaftliche Vorteile bringen würde, so daß die Kosten für den Bau der Infrastruktur quasi subventioniert würden. Der Warentransport wäre im Grunde genommen zum Nulltarif zu haben, weil man den positiven Effekt dieser Entwicklung hat, was beim Meer natürlich nicht der Fall ist.
Das ist einer der Gründe, warum ich Ihnen sehr dafür danke, daß Sie mich als eine der treibenden Kräfte für den Beitritt Italiens zur Gürtel- und Straßen-Initiative erwähnt haben, denn ich habe genau diesen Punkt angesprochen: daß die Neue Seidenstraße im Grunde keine Angelegenheit zwischen Italien und China ist. Es geht nicht nur um den Export von Waren zwischen Italien und China usw., oder auch um Investitionen zwischen diesen beiden Ländern, meinem und China, sondern es geht auch um die Zusammenarbeit und Entwicklung aller Länder, die dazwischen liegen, also aller asiatischen und afrikanischen Länder und eines Teils der europäischen Länder. Ich bin mir also völlig sicher, daß die Neue Seidenstraße keine Initiative von einem Punkt zum anderen ist, sondern eine von vielen Punkten zu vielen anderen Punkten.
Gibt es dabei Probleme und Herausforderungen? Ja. Gibt es Projekte, die scheitern? Ja, natürlich, das kommt in der realen Welt nun mal vor. Aber die Mißerfolgsquote, die „Schuldenfalle“, liegt noch im Rahmen der normalen internationalen Standards. Ich habe früher im Bankmanagement gearbeitet und mich mit Fusionen und Übernahmen befaßt, und glauben Sie mir, wenn wir bei gewissen Projekten eine Mißerfolgsquote von nur 10% oder selbst von 15% und einen Erfolg von 85% gehabt hätten, dann hätten wir diese Statistik mit unserem Blut unterschrieben.
Ich möchte damit nur sagen, daß man die Kritik an der Gürtel- und Straßen-Initiative in den Kontext der anderen Risiken stellen sollte, die mit der Entwicklung von Schwellenländern verbunden sind. Ja, es gibt Probleme, aber das sind keine Gründe, diese Projekte nicht durchzuführen. Vielmehr sind sie ein Grund, mehr Ressourcen zu investieren, um die Qualität der Investitionen weiter zu verbessern.
Und der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist: Es gibt wirklich Platz für alle. Wir haben sechs Milliarden Menschen, die einen Bedarf an Infrastrukturentwicklung haben: Wasser, sanitäre Anlagen, landwirtschaftliche Entwicklung, was auch immer. Europa und die USA müssen nicht mit China und der Neuen Seidenstraße konkurrieren. Das hier ist wirklich ein Beispiel dafür, wie wir alle zusammenarbeiten und uns gegenseitig ergänzen können.
Das Gateway-Programm der Europäischen Union für die Entwicklung Afrikas, ist das eine Konkurrenz für Gürtel und Straße? Nein! Es ist komplementär. China begrüßt die Infrastruktur-Initiative der Vereinigten Staaten, Global Gateway der EU und alles andere, den Nahost-Korridor usw., es gibt wirklich Platz für alle.
Und wir müssen uns von der Denkweise verabschieden, daß wir in Europa das Global Gateway brauchen, um mit der Neuen Seidenstraße zu konkurrieren oder ihren Fortschritt zu bremsen. Es sind zwei Initiativen, das Global Gateway der EU und die Neue Seidenstraße sollten und müssen für die Entwicklung Afrikas Hand in Hand gehen, anstatt in Konkurrenz zueinander zu stehen. Es gibt Platz und Bedarf für beides.
Außerdem müssen China und Europa zusammenarbeiten, um Informationen, Erfahrungen und Erkenntnisse auszutauschen, damit beide gewinnen. Es geht nicht um einen Wettbewerb um ein neues Projekt, sondern darum, daß China gewinnt und erfolgreich ist. Das ist eine gute Neuigkeit für unser europäisches Vorhaben, denn es kann daraus lernen und vermeiden, woanders die gleichen Fehler zu machen. Insofern wäre Chinas Gewinn auch ein Gewinn für die Europäer in diesem Kontext von Gürtel und Straße.
Ich höre hier auf und gebe nur ein Versprechen ab: In dem Augenblick, in dem es in Italien wieder einen Regierungswechsel gibt, wird eine der Aufgaben auf meiner politischen Agenda darin bestehen, Italien wieder in die Neue Seidenstraße einzubinden, so daß wir diesen Prozeß neu starten und unsere Initiative anderen europäischen Ländern zur Verfügung stellen können, damit auch sie sorgfältig darüber nachdenken und sich hoffentlich wieder anschließen können – nicht als Alternative oder als Konkurrenz, sondern als ergänzende Initiative zu den Projekten unserer eigenen europäischen Einzelstaaten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.