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Neue Solidarität
Nr. 26, 27. Juni 2024

„Es ist an der Zeit, das diplomatische Erbe wiederzuentdecken“

Von Botschafter Chas Freeman

Chas Freeman ist US-Botschafter a.D. und Experte für die USA-China-Beziehungen.

Meine Damen und Herren!

Es ist mir eine Ehre, mit dem Schiller-Institut an der heutigen Konferenz teilzunehmen. Jemand muß sich für den Frieden einsetzen. Jemand muß Diplomatie statt Krieg als Antwort auf die Spannungen, die Europa derzeit plagen, befürworten und organisieren. Ich unterstütze das Schiller-Institut und seine Gründerin und Leiterin Helga Zepp-LaRouche darin, sich offen zu äußern und uns zusammenzubringen.

Wir sind hier, um Alarm zu schlagen, wohin der Kreislauf von Eskalation und Gegeneskalation zwischen der NATO und der Russischen Föderation Europa, Rußland und Amerika führt, und zu überlegen, was wir dagegen tun können. Rote Linien wurden gezogen und dann wiederholt überschritten. Jede Seite hat gesagt, daß sie dies oder jenes nicht tun wird, und dann hat sie es doch getan. Jetzt, da die NATO direkte ukrainische Angriffe auf Ziele tief auf russischem Territorium unterstützt, schlägt Rußland nicht nur auf strategische Ziele in der Ukraine zurück, sondern droht auch mit Vergeltung an anderer Stelle. Was bisher ein Stellvertreterkrieg war, droht nun zu einem direkten Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten, der NATO und der Russischen Föderation zu werden.

Die gute Nachricht ist, daß Präsident Putin erklärt hat, daß er vorerst nicht vorhat, die Eskalation der Angriffe des Westens auf sein Heimatland mit seinem enormen Atomwaffenarsenal zu vergelten. Aber es ist ein Zeichen dafür, wie gefährlich dieser Moment ist, daß er angekündigt hat, stattdessen die Feinde der Vereinigten Staaten und anderer NATO-Länder, die an Angriffen auf Rußland beteiligt sind, zu bewaffnen. Es ist unklar, ob er diesen Vergeltungsschlag auf Staaten beschränken will oder ob er auch nichtstaatliche Akteure einbeziehen will. Das ist schon schlimm genug, aber angesichts der kurzen Halbwertszeit jeder roten Linie, die die Ukraine betrifft, könnte sein nächster Vergeltungsschritt durchaus nuklear sein.

Manchmal ist die Geschichte das Ergebnis strategischer Planung, manchmal von Fehlkalkulationen und Fehlern. Der Frieden, der durch das Konzert Europas erreicht wurde, war ein Artefakt der Staatskunst. Der Erste Weltkrieg war ein Unglück, das fast ein halbes Jahrhundert ruinöser Unruhen einleitete. Bretton Woods und die Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Schöpfungen von Staatsmännern. Wir leben in einem Zeitalter irrationaler Antagonismen, die aus strategischen Fehleinschätzungen und Stümperei entstanden sind. Ein gefährlicher Anfang ist gemacht.

Zwischen den Großmächten in Europa herrscht wieder Krieg, und zwischen den Vereinigten Staaten und China herrscht offene Feindschaft. Es ist müßig zu fragen, wer die Schuld daran trägt. Künftige Generationen von Historikern werden darüber ein Urteil fällen, das über unsere gegenwärtigen Interessen hinausgeht.

Der Stellvertreterkrieg war ein Fehlschlag

Das internationale System, in dem wir zusammengearbeitet haben und in dem es uns gut ging, löst sich auf. 73 Jahre lang – von 1944 bis 2017 – wurde die Welt hauptsächlich durch international vereinbarte Normen, Verpflichtungen und Konventionen geregelt, die in der Charta der Vereinten Nationen verankert sind. Dieses System wurde ursprünglich von Washington befürwortet, auch wenn es nicht unbedingt immer von Washington respektiert wurde. Es funktionierte gut für die Vereinigten Staaten, bis viele Amerikaner der Meinung waren, daß es das nicht tat. Dann wählte ein verärgertes amerikanisches Wahlvolk eine populistische Regierung, die voller Groll über die Zwänge der internationalen Ordnung, in Staatskunst ungebildet, wirtschaftlich nationalistisch und gegenüber kritischen ausländischen Meinungen gleichgültig war.

Die derzeitige US-Regierung hat den auf die nationale Sicherheit ausgerichteten Protektionismus ihres Vorgängers und die wirtschaftliche Kriegsführung gegen vermeintliche Feinde noch verstärkt. Und sie versucht hartnäckig, die amerikanische Einflußsphäre in Europa bis an die Grenzen Rußlands auszudehnen, während sie Moskaus Einwände übergeht und sich weigert, dessen strategische Bedenken anzuerkennen, geschweige denn darauf einzugehen. Rußland schlägt immer wieder Verhandlungen über eine Sicherheitsarchitektur in Europa vor, in der es sich nicht von den Vereinigten Staaten und seinen europäischen Verbündeten bedroht fühlt und die Europäer ihrerseits sich nicht von Rußland bedroht fühlen. Die Vereinigten Staaten und die NATO haben sich stets geweigert, darüber zu reden.

Das erklärte Kriegsziel des Westens ist es, „Rußland zu isolieren und zu schwächen“. Die Ergebnisse dieser Politik und der zu ihrer Durchsetzung beschlossenen Sanktionen sind:

Für die Ukraine, deren Aufgabe ihrer Neutralität den Casus Belli für Rußland lieferte, war der Krieg eine nationale Katastrophe. Die Ukraine hat ein Drittel ihrer Bevölkerung und eine ganze Generation tapferer Männer im wehrfähigen Alter verloren. Sie hat bereits ein Fünftel ihres Territoriums verloren und kann weitere Verluste nicht verhindern. Die Infrastruktur des Landes ist verwüstet. Vor dem Krieg war die Ukraine das ärmste und korrupteste Land in Europa. Sie ist weiter verarmt. Krieg fördert die Korruption, und die Ukraine ist korrupter als je zuvor. Die Demokratie in der Ukraine wurde durch das Kriegsrecht abgelöst. Die politischen Parteien wurden verboten, die Medien verstaatlicht und die Wahlen annulliert. Das Land ist heute autoritärer als Rußland und weit weniger tolerant gegenüber ethnisch-sprachlicher Vielfalt.

Der Stellvertreterkrieg des Westens gegen Rußland war ein Fehlschlag. Er hat Rußlands globalen Einfluß vergrößert und es militärisch gestärkt. Er hat Rußland nicht daran gehindert, die Ukraine zu zerstören. Und er hat die Ängste vor einem größeren Krieg in Europa eher geschürt als zerstreut. Es droht nun ein Atomkrieg.

Man könnte meinen, daß die Geschehnisse den Westen und die Ukraine dazu veranlassen würden, das Scheitern nicht länger zu verschlimmern und eine diplomatische statt einer militärischen Lösung für eine Situation zu suchen, die zunehmend nicht nur den Frieden und den Wohlstand in Europa gefährdet, sondern in der auch eine Eskalation bis hin zur nuklearen Ebene droht. Aber nein.

Die Vereinigten Staaten und die NATO halten an einem rein militärischen Ansatz zur Gestaltung der europäischen Sicherheit und der Beziehungen zur Russischen Föderation fest. Der Westen hat keine Strategie, die eine realistische Aussicht auf die Rückgewinnung der verloren Gebiete der Ukraine bietet. Die Ukraine läuft Gefahr, noch mehr zu verlieren und damit möglicherweise ihren Zugang zum Schwarzen Meer zu gefährden. Und es gibt keine Strategie zur Beendigung des Krieges. Stattdessen schlägt der Westen vor, bis zum letzten Ukrainer zu kämpfen, und träumt weiter davon, Rußland eine demütigende Niederlage zuzufügen – genau das Ergebnis, das nach der russischen Militärdoktrin den Einsatz von Atomwaffen gegen seine Angreifer rechtfertigen würde. Präsident Selenskij schließt sich dem Westen an und besteht darauf, daß es keine Verhandlungen mit Rußland zur Beendigung des Krieges geben kann.

Prinzipien des Friedens

Der Kurs, den wir verfolgen, basiert auf Fehleinschätzungen und Fehlern. Es ist ein Marsch der Torheit, der, wenn er fortgesetzt wird, nur zur Tragödie führt. Er vernichtet die Ukraine. Er hat uns an den Rand eines Atomkriegs zwischen den Vereinigten Staaten, der NATO und der Russischen Föderation gebracht. Aber es ist noch nicht zu spät, einen anderen Weg einzuschlagen.

Schon einmal zitterte die Welt vor der Aussicht auf einen atomaren Schlagabtausch, der unseren Planeten unbewohnbar gemacht hätte. Das war die Kubakrise 1962. Sie veranlaßte Präsident John F. Kennedy zu dem Schluß: „Wir sollten niemals aus Angst verhandeln. Aber wir sollten niemals Angst davor haben, zu verhandeln.“ Dieser Rat ist heute noch genauso wertvoll wie vor 62 Jahren.

Wir sollten aus dem Kontrast lernen zwischen der Art und Weise, wie die Napoleonischen Kriege endeten, und der Art und Weise, wie wir den Ersten Weltkrieg beendeten. Diejenigen, die den Wiener Kongreß einberiefen, waren darauf bedacht, ihren ehemaligen französischen Feind in die Ausarbeitung dessen einzubeziehen, was zum „Konzert Europas“ wurde – eine Vereinbarung, die auf einem Gleichgewicht der Kräfte beruhte und Europa ein Jahrhundert lang weitgehend in Frieden hielt. Die Sieger des Ersten Weltkriegs dagegen schlossen sowohl Deutschland als auch Rußland von jeder Rolle bei der Verwaltung des in Versailles ausgehandelten Friedens aus. Das Ergebnis war der Zweite Weltkrieg, gefolgt vom Kalten Krieg. Es kann keinen Frieden in Europa geben, der auf der Ächtung Rußlands oder einer anderen europäischen Großmacht beruht.

In vielerlei Hinsicht hat uns das Scheitern des Friedens in Europa nach dem Kalten Krieg an einen Punkt gebracht, den Bundeskanzler Scholz eine „Zeitenwende“ nannte – einen Wendepunkt in der Geschichte, der die Schaffung einer neuen Ordnung in den internationalen Beziehungen erfordert.

Helga Zepp-LaRouche hat diese Herausforderung mit der verglichen, vor der die europäischen Nationen nach dem Dreißigjährigen Krieg standen. Es bedurfte langwieriger Verhandlungen, um die religiösen, territorialen und Regimewechsel-Impulse zu überwinden, die Mitteleuropa vor dem Westfälischen Frieden verwüstet hatten. Die Übereinkünfte, die aus diesem Frieden erwuchsen, leben weiter. Sie wurden von den neuen unabhängigen Staaten der postkolonialen Ära 1955 in Bandung in Form der „Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz“ bekräftigt. Es handelt sich dabei um die gegenseitige Achtung der territorialen Integrität und Souveränität, den gegenseitigen Verzicht auf Aggression, die gegenseitige Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des anderen, Gleichheit und Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen sowie die friedliche Koexistenz. Es ist an der Zeit, daß Europa, einschließlich Rußland, dieses diplomatische Erbe wiederentdeckt und an die Herausforderungen der Zeit anpaßt.

Das Ergebnis der jüngsten Wahlen zum Europäischen Parlament deutet darauf hin, daß die Europäer bereit sind, über die Zukunft Europas neu nachzudenken. Interessanterweise ist es die europäische Rechte, ähnlich wie die amerikanische Rechte, die durch den ewigen Krieg in der Ukraine am meisten desillusioniert ist und am unzufriedensten mit dem wirtschaftlichen Niedergang des Westens ist. Es gibt eine Grundlage für Konferenzen wie die in Münster und Osnabrück, die den Westfälischen Frieden ausgearbeitet haben, um Prinzipien für eine neue europäische Ordnung zu erforschen und zu bekräftigen, die der Ukraine Frieden bringen, die europäisch-amerikanischen Beziehungen für mehr strategische Autonomie Europas neu gestalten, Rußland zu einer angemessenen Beziehung mit dem Rest Europas zurückführen und internationale Absprachen zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Stabilität in Europa schaffen kann. Aber gibt es Staatsmänner mit der nötigen Vorstellungskraft, Tatkraft und diplomatischem Geschick, um das zu erreichen?

Wir sollten hoffen, daß es sie gibt. Wenn nicht, sind die Risiken hoch und die Aussichten düster. Ich freue mich auf eine lebhafte Diskussion unter den Teilnehmern dieser Konferenz.

Ich danke Ihnen.