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Dr. Marianne Wüthrich ist Juristin und Pädagogin, schreibt für die Zeitschrift Zeit-Fragen und ist Co-Initiatorin der Volksinitiative „Wahrung der schweizerischen Neutralität“. Im folgenden Interview für unsere Zeitung Neue Solidarität berichtet sie über den Inhalt und die Ziele der Initiative.
Neue Solidarität: Frau Dr. Wüthrich, warum eine Neutralitätsinitiative?
Dr. Marianne Wüthrich: Urheber der Eidgenössischen Volksinitiative „Wahrung der schweizerischen Neutralität“ ist ein Komitee von Bürgerinnen und Bürgern, die äußerst beunruhigt sind über die seit Jahren zunehmend neutralitätswidrige Außenpolitik des Bundesrates (Regierung) und eines Teils des Parlaments. Diese streben eine noch engere Anbindung an die NATO und an die EU an, was in krassem Widerspruch steht zum neutralen und direktdemokratischen Staatsverständnis der Schweiz.
Neue Solidarität: Was konkret werfen Sie der Regierung vor?
Wüthrich: In neuester Zeit läßt der Bundesrat sich von den USA und anderen NATO-Staaten zu einer Abkehr von der über Jahrhunderte aufgebauten Schweizer Neutralitätspolitik drängen, die ihresgleichen sucht: 1:1-Übernahme der gesamten EU-Sanktionen gegen Rußland, Ringtausch-Deals zwecks Lieferung von Panzern zuhanden der Ukraine, absurde Ideen einer „Friedenskonferenz“ ohne Rußland und vermutlich auch ohne die meisten anderen nichtwestlichen Staaten (falls sie überhaupt zustande kommt!) im Luxus-Resort auf dem Bürgenstock (Berg am Vierwaldstättersee).
Um die Schweizer Regierung und das Parlament wieder zu einer Neutralitätspolitik zu veranlassen, die diesen Namen verdient, wurde die Neutralitätsinitiative ergriffen. Rund 180.000 Schweizerinnen und Schweizer verschiedener politischer Ausrichtung haben sie unterschrieben. Die Volksabstimmung wird erst in etwa zwei Jahren stattfinden, aber oft bewirkt bereits die erfolgreiche Einreichung der Unterschriften eine gewisse Zurückhaltung in der Politik des Bundesrates und des Parlaments.
Neue Solidarität: Ist die Neutralität nicht in der schweizerischen Verfassung verankert?
Wüthrich: In der Schweizerischen Bundesverfassung ist der Schutz der Neutralität heute zwar als Aufgabe des Bundesrates und des Parlaments erwähnt, aber sie ist nicht in einem eigenen Verfassungsartikel garantiert. Für die Verfasser aller Bundesverfassungen seit 1848 und für die Bürgerinnen und Bürger war dies auch nicht nötig: Der Grundsatz der immerwährenden bewaffneten Neutralität gehört zur Identität der Schweiz.
Heute, wo das Schweizer Staatsverständnis von außen und leider mit tatkräftiger Mithilfe mancher Kräfte im Inneren in einem Ausmaß aufgemischt wird, wie die meisten von uns es sich nie hätten vorstellen können, ist es dringend notwendig, die Kernpunkte der Schweizerischen Neutralität in einem neuen Verfassungsartikel 54a festzuschreiben: Die Neutralität ist immerwährend und bewaffnet (Absatz 1), die Schweiz tritt keinem Militärbündnis bei (Abs. 2), sie beteiligt sich weder an militärischen Auseinandersetzungen zwischen Drittstaaten noch an nichtmilitärischen Zwangsmaßnahmen gegenüber kriegsführenden Staaten, mit Vorbehalt von Beschlüssen des UNO-Sicherheitsrates (Abs. 3). Nur auf dieser Grundlage ist der Beitrag der Schweiz zu einer friedlicheren Welt überhaupt möglich: „Die Schweiz nutzt ihre immerwährende Neutralität für die Verhinderung und Lösung von Konflikten und steht als Vermittlerin zur Verfügung.“ (Abs.4)
Neue Solidarität: Wer ist im Initiativkomitee? Welche Rolle spielt die SVP?
Wüthrich: Im Initiativkomitee sitzen neben parteiungebundenen Mitbürgerinnen wie ich selbst tatsächlich eine ganze Anzahl von SVP-Mitgliedern. Denn die SVP ist die einzige große politische Partei im Land, die an der Neutralität und der Souveränität der Schweiz festhält und deshalb gegen einen noch engeren Anschluß an die NATO und die EU Stellung bezieht. „Pro Schweiz“ hat dankenswerterweise die Geschäftsführung übernommen, trotzdem ist es aber nicht „ihre Initiative“, sondern meine und die meiner Mitbürger. In der direktdemokratischen Schweiz hat jeder Bürger eine Stimme.
Im Lauf der 18-monatigen Unterschriftensammlung schlossen sich Bürgergruppen und einzelne Persönlichkeiten vielfältiger Ausrichtungen an, denn die Neutralität ist breit verankert in allen Teilen der Bevölkerung. Trotz täglichem Trommelfeuer der Schweizer Mainstreammedien - allen voran die Redaktion der von Transatlantikern dominierten Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) - bleibt die große Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer nach wie vor beharrlich bei ihrer Unterstützung der Schweizer Neutralität. Dies zeigen die jährlichen Umfragen der ETH Zürich.1
Neue Solidarität: Aber die Umfragen zeigen auch Unterstützung für die Rußland-Sanktionen...
Wüthrich: Es ist nicht verwunderlich, daß die massive Manipulation ihre Wirkung hat, so daß in der „Studie Sicherheit 2023“ doch tatsächlich rund ein Drittel der befragten Stimmbürger einen NATO-Beitritt befürwortet hat (bisher war der Anteil immer viel kleiner). Sanktionen gegen Rußland halten sogar 75% der Befragten für vereinbar mit der Schweizer Neutralität, das zeigt eine beträchtliche Verwirrung der Köpfe! Und es ist eine fatale Folge davon, daß die Jugend (als eine der vielen Auswirkungen schädlicher Schulreformen) in Schule und Studium keine fundierte geschichtliche und staatsrechtliche Bildung mehr erhält.
Aber, und das läßt hoffen: Trotz alledem beträgt die grundsätzliche Zustimmung der Schweizerinnen und Schweizer zur Neutralität sowie zur Vermittlerrolle der Schweiz auch 2023 immer noch 91%. Für 80% ist die Neutralität Teil der Identität der Schweiz. Damit dies so bleibt, ist die Wiedereinführung einer vertieften Bildung der Jugend in Schweizer Geschichte und Staatslehre unerläßlich!
Neue Solidarität: Auch die Wirtschaft unterstützt die Neutralität. Laut einer Credit Suisse-Umfrage immerhin 75% der Firmen.
Wüthrich: Ja, aber die Umfrageergebnisse belegen: Das schweizerische Neutralitätsverständnis basiert nicht in erster Linie auf wirtschaftlichen Interessen, sondern auf der jahrhundertealten Tradition des „Stillesitzens“ in Konflikten im Inneren und im Ausland, verbunden mit dem Angebot zur Vermittlung zwischen den Streitparteien. Seit dem 19. Jahrhundert hat die Schweiz ihre Friedensarbeit stark ausgeweitet: Angebot Guter Dienste zugunsten aller Länder, Aufbau des Asylrechts, Hüterin der Genfer Konventionen und Sitz des IKRK, Gastgeberin zahlreicher UNO-Organisationen und NGOs im internationalen Genf.
Neue Solidarität: Wo sind die Wurzeln der schweizerischen Neutralität-Politik?
Wüthrich: Die kleine Schweiz war schon aufgrund ihrer geographischen Lage als Binnenland mitten in Europa immer angewiesen auf und interessiert an einem regen Austausch mit ihren Nachbarn. Dank der Alpenübergänge war das Interesse schon seit dem Mittelalter gegenseitig - bis heute (Alpentransit für den europäischen Strassen- und Schienenverkehr sowie für Strom- und Gasleitungen). Die Eidgenossen betreiben seit Jahrhunderten Handel mit allen Völkern und pflegen den kulturellen Austausch. Bereits im 16. Jahrhundert faßten sie den Entschluß, künftig in den Kriegen Europas neutral zu bleiben.
Mit allen Staaten diplomatische Beziehungen zu pflegen, gehört zum Kern des Schweizer Neutralitätsverständnisses. Die offene Parteinahme in Konflikten anderer Staaten, wie der Bundesrat es heute mit seinem feindseligen Verhalten gegenüber Rußland betreibt, bedeutet einen unverzeihlichen und schwer wieder zu heilenden Bruch mit der neutralen Tradition!
Heute legen die Staaten des globalen Südens das Samenkorn der Hoffnung für eine Welt souveräner und gleichberechtigter Völker, die ihre Konflikte auf friedlichem Weg beilegen, ihre Ressourcen zum Wohl der eigenen Bevölkerungen fördern und den wirtschaftlichen und kulturellen Austausch miteinander pflegen. In eine solche Weltordnung würde die Schweiz gut passen.
Neue Solidarität: Frau Dr. Wüthrich, vielen Dank für dieses Gespräch
Anmerkung
1. Studie Sicherheit, https://css.ethz.ch/ueber-uns/css-news/2023/03/studie-sicherheit-2023-bericht-zur-medienkonferenz-vom-16-maerz-2023.html