|
|
Von Alexander Hartmann
Vier prominente deutsche Experten – Prof. Dr. Peter Brandt, Historiker und Sohn des früheren Bundeskanzlers Willy Brandt, Hajo Funke, Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, General Harald Kujat, ehemals Generalinspekteur der Bundeswehr (2000-02) und Vorsitzender des NATO-Militärausschusses (2002-05), sowie Horst Teltschik, ehemaliger Spitzendiplomat und enger Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl und später Präsident der Münchner Sicherheitskonferenz – haben am 28. August einen ausführlichen Vorschlag veröffentlicht, den Krieg in der Ukraine zu beenden, bevor er außer Kontrolle gerät.
Sie warnen, weder Rußland noch die Ukraine könnten den Krieg gewinnen, daher seien jetzt dringend Friedensverhandlungen erforderlich. Sonst steige das Risiko, daß „die Eskalation bis zum ,Äußersten‘ steigt, einem militärischen Konflikt zwischen der NATO und Rußland, mit der realen Gefahr eines auf den europäischen Kontinent begrenzten Nuklearkrieges“.
Ihre Analyse nimmt Bezug auf den chinesischen Friedensvorschlag vom 24. Februar, der einen „vernünftigen Ansatz“ für Verhandlungen biete, erweitert diesen aber zu dem bisher wohl gründlichsten Plan. Sie schreiben:
„Der Krieg hätte verhindert werden können, hätte der Westen einen neutralen Status der Ukraine akzeptiert – wozu Selenskyj anfangs durchaus bereit war –, auf eine NATO-Mitgliedschaft verzichtet und das Minsk II-Abkommen für Minderheitenrechte der russischsprachigen Bevölkerung durchgesetzt…
Der Krieg hätte Anfang April 2022 beendet werden können, hätte der Westen den Abschluß der Istanbul-Verhandlungen zugelassen. Es liegt nun erneut und möglicherweise letztmalig in der Verantwortung des ,kollektiven Westens‘ und insbesondere der USA, den Kurs in Richtung Waffenstillstand und Friedensverhandlungen zu setzen.“
Die Autoren machen einen sehr detaillierten Vorschlag, der drei Phasen umfaßt: 1. Waffenstillstand, 2. Friedensverhandlungen, 3. eine europäische Sicherheits- und Friedensordnung.
In der ersten Phase geht es um die Einstellung der Feindseligkeiten und die Einsetzung einer von der UNO geleiteten Kommission, die den Prozeß überwachen soll.
Die zweite, die Verhandlungen betrifft, ist detaillierter, u.a. mit einem Truppenrückzug beider Seiten und der Ausarbeitung von Sicherheitsvereinbarungen für die Ukraine sowie Ansätzen zur Lösung des Status der neuen Donbaß-Republiken und der Krim – jedoch nur im Verzicht auf militärische Gewalt.
Zur letzten Phase heißt es: „Langfristig kann nur eine europäische Sicherheits- und Friedensordnung die Sicherheit und Freiheit der Ukraine gewährleisten, in der die Ukraine und Rußland ihren Platz haben.“ Die geostrategische Lage der Ukraine dürfe dann keine Schlüsselrolle mehr für die geopolitische Rivalität zwischen den USA und Rußland spielen. (Den vollständigen Text ihres Vorschlages finden Sie hier: https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/sonderausgabe-vom-28-august-2023.html)
Wie berechtigt die Warnungen der vier Experten vor einer drohenden Eskalation des Konfliktes in der Ukraine sind, zeigen die Bestrebungen der Kriegspartei, diese weiter voranzutreiben.
Da das von der NATO bewaffnete und unterstützte ukrainische Militär unbestreitbar daran gescheitert ist, nennenswerte Fortschritte gegen die Russen zu erzielen, und in den USA und Europa der Widerstand gegen die Finanzierung eines Krieges zunimmt, der nicht zu gewinnen ist und die Ukraine und ihre Bevölkerung zerstört, wächst im Westen die Verzweiflung. Infolgedessen nehmen nun die direkten Angriffe auf die Krim und andere Ziele auf russischem Territorium deutlich zu, was eine Entscheidung der Regierung Biden für die Lieferung von ATACMS-Systemen an die Ukraine beschleunigen könnte. Bundeskanzler Olaf Scholz hat zwar eine Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine abgelehnt, aber derartige Weigerungen gab es seit Beginn des Krieges schon etliche, bis die Bundesregierung dann jeweils doch dem Druck der Anglo-Amerikaner nachgab.
Der Rußlandexperte Gilbert Doctorow bezeichnete diese mögliche Eskalation als „Washingtons Plan B“. Es würde mit ziemlicher Sicherheit bedeuten, daß amerikanisches und deutsches Militärpersonal vor Ort sein müßte, mindestens für den Umgang mit diesen Waffen. Der neue britische Verteidigungsminister Grant Shapps befürwortete gegenüber dem Londoner Telegraph (30.9.) eine Verlagerung militärischer Ausbildung und Produktion in die Ukraine und forderte britische Rüstungsunternehmen auf, Fabriken in der Ukraine zu errichten. Während seines Besuchs in Kiew am 27. September habe er mit Präsident Selenskyj auch darüber gesprochen, wie die britische Royal Navy sich daran beteiligen könnte, Handelsschiffe vor russischen Angriffen im Schwarzen Meer zu schützen.
Dies veranlaßte den Vizevorsitzenden des russischen Sicherheitsrats, Ex-Präsident Dmitrij Medwedjew, zu dem Hinweis, daß dies die betreffenden britischen Bürger und Ausrüstungen zu legalen Zielen russischer Angriffe machen würde. Was könnte dann noch einen offenen Krieg zwischen der NATO und Rußland verhindern?
Unterdessen mehren sich aber auch die Anzeichen dafür, daß die westliche Front zur Unterstützung der ukrainischen Militärkampagne gegen Rußland bröckelt:
Slowakei: Das Ergebnis der Parlamentswahlen in der Slowakei am 30. September löste in den geopolitischen Kreisen Europas einen Schock aus, obwohl Meinungsumfragen bereits darauf hingedeutet hatten, daß die linksnationalistischen Sozialdemokraten von Robert Fico die Wahlen gewinnen könnten. Ficos Partei, Smer-SSD, gewann mit 23,3% deutlich vor der zentristischen PS (16,8%) unter Michal Šimečka, dem Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments.
Das überraschende Wahlergebnis bestätigt, daß die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der pro-ukrainischen Politik der derzeitigen Regierung in den letzten Monaten massiv zugenommen hat. Fico hat deutlich gemacht, daß er im Falle seiner Wahl die Beziehungen zu Rußland wieder verbessern und die Militärhilfe für die Ukraine einstellen und nur noch die humanitäre Hilfe fortsetzen würde. Die Slowakei, ein kleiner EU- und NATO-Mitgliedsstaat, der direkt an die Ukraine grenzt, war zuletzt sehr wichtig für die westliche Militärhilfe an Kiew und einer der entschiedensten politischen und militärischen Unterstützer Kiews.
Zu den ausländischen Staatsoberhäuptern, die Fico gratulierten, gehörte auch der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban, er begrüßte den Wahlsieg eines „wahren Patrioten“, der für Europa von Nutzen sein werde. Orban ist der EU-Kommission bekanntlich ein Dorn im Auge.
Tschechische Republik: In der benachbarten Tschechischen Republik versammelten sich am 16. September etwa 100.000 Demonstranten auf dem Prager Wenzelsplatz, um gegen die NATO und die Fortsetzung des Krieges in der Ukraine zu protestieren. Die Menge skandierte: „Stoppt die NATO! Stoppt den Krieg!“ und forderte eine friedliche Lösung. Sie forderten auch den Rücktritt der Regierung Fiala als Marionette der NATO und EU. Die Demonstration wurde von der Partei PRO unter der Leitung des angesehenen Rechtsanwalts Jindrich Rajchl organisiert. Er hatte auch an den großen Demonstrationen gegen die hohen Energiepreise infolge der Rußland-Sanktionen und der Spekulation im letzten Herbst und Anfang dieses Jahres teilgenommen.
Polen: Und schließlich wird befürchtet, daß Polen, ein weiteres wichtiges Transitland für Lieferungen an die Ukraine, als der nächste Dominostein fallen könnte, wenn die extrem antirussische Regierung der PiS nach den Parlamentswahlen am 15. Dezember von der Oppositionspartei PO abgelöst wird.
Vereinigte Staaten: Am wichtigsten aber ist der wachsende Widerstand in den USA selbst, wo im Kongreß weitere Finanzmittel zur Unterstützung der Ukraine aus dem Übergangshaushalt, mit dem eine Lahmlegung der Regierung vermieden wurde, gestrichen wurden.
Wenige Tage später fand der Antrag des republikanischen Abgeordneten Matt Gaetz, den Sprecher des Repräsentantenhauses Kevin McCarthy (ebenfalls Republikaner) abzusetzen, eine Mehrheit, weil neben 209 Demokraten er und sieben weitere Republikaner für den Antrag stimmten. Gaetz warf McCarthy vor, mit den Demokraten zu kungeln, um weitere Ausgaben für den Krieg in der Ukraine durchzusetzen. Er wies auch darauf hin, daß die jährliche Neuverschuldung zwei Billionen Dollar beträgt und die Vereinigten Staaten eine Gesamtverschuldung von 33 Billionen Dollar haben. Dies sei unhaltbar, nicht zuletzt, weil weltweit eine massive Entdollarisierung im Gange sei, bei der viele Länder einfach aus dem Dollar aussteigen und den Handel in ihren eigenen Währungen betreiben.
Helga Zepp-LaRouche kommentierte die Lage am 4. Oktober in ihrem Internetforum, sie sei „vielversprechend, gefährlich, faszinierend und hoffnungsvoll“. Sie begrüßte, daß der Vorschlag von Brandt, Funke, Kujat und Teltschik „weite Kreise gezogen hat“ und in Italien, Frankreich, der Schweiz, Mexiko und anderen Ländern veröffentlicht wurde. Er sei „ein wichtiges Instrument für die Menschen, die die Gefahr eines Dritten Weltkriegs wirklich stoppen wollen“. Und McCarthys Absetzung wegen dieser Fragen „sollte jedem einen enormen Auftrieb und ein Gefühl des Optimismus geben, daß man etwas tun kann, um eine tyrannische Ordnung zu stürzen“.
Zepp-LaRouche betonte: „Die einzig vernünftige Haltung ist also, daß wir die westlichen Länder dazu bringen müssen, sich der globalen Mehrheit anzuschließen und ein neues System, ein neues Paradigma der internationalen Beziehungen aufzubauen. Und wenn die westlichen Länder das zum Ausdruck bringen würden, könnte alles gelöst werden, denn ich bin mir absolut und zu 100% sicher, daß die BRICS-Länder und die Länder des Globalen Südens eine positive Haltung des Westens mehr als begrüßen würden.“