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Neue Solidarität
Nr. 38, 21. September 2023

Das Weltbild der NATO stößt mit der Realität zusammen

Von Scott Ritter

Scott Ritter war UN-Waffeninspekteur im Irak. Für die Konferenz des Schiller-Instituts am 9. September übermittelte er den folgenden Videobeitrag. (Übersetzung aus dem Englischen, Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion hinzugefügt.)

Ich grüße Sie aus Bethlehem, New York. Ich möchte Helga Zepp-LaRouche und dem Schiller-Institut dafür danken, daß sie mir die Gelegenheit geben, zu Ihnen zu sprechen. Das Thema, über das ich reden werde, ist der gegenwärtige Kurs der NATO. Welche Auswirkungen hat die derzeitige Haltung der NATO auf die geopolitischen Realitäten der Welt?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst darüber nachdenken, warum die NATO überhaupt existiert. Die NATO wurde von den westeuropäischen Mächten, sozusagen als transatlantische Gemeinschaft, nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, um sich gegen die Bedrohung durch die Sowjetunion zu schützen, insbesondere gegen ihre dauerhafte Präsenz in Osteuropa. Man war besorgt, daß sich in Westeuropa in den durch jahrelange Konflikte geschwächten Volkswirtschaften und sozialen und politischen Strukturen der Kommunismus ausbreiten könnte.

Die NATO wurde daher nicht nur als Bollwerk gegen die Ausdehnung der sowjetischen Macht gesehen, sondern auch als Instrument zur Stärkung der demokratischen Institutionen in Europa. Lord Hastings, der erste Generalsekretär der NATO, sagte einmal im Scherz, der Zweck der NATO sei es, „die Amerikaner drinnen, die Deutschen drunten und die Russen draußen zu halten“. Gehen wir einmal davon aus, daß er genau das wiedergegeben hat, was die NATO ursprünglich bewirken sollte.

Aber Jahrzehnte später, mit dem Fall der Berliner Mauer, der Wiedervereinigung Deutschlands und schließlich dem Zusammenbruch der Sowjetunion, verlor die NATO ihre Existenzberechtigung. Die Russen waren raus, die Deutschen waren nicht mehr am Boden, sondern richteten sich auf. Und ehrlich gesagt, gab es für die Vereinigten Staaten keinen Grund mehr, in der NATO zu bleiben. Die NATO hatte ihre Schuldigkeit getan, sie hatte dem sowjetischen Druck standgehalten und die sowjetische Expansion verhindert. Sie hatte ihre Aufgabe gut erfüllt; es war Zeit für die NATO, abzutreten.

Aber die NATO weigerte sich abzutreten, denn sie war nicht nur ein Militärbündnis, sondern auch eine politische Institution. Eine politische Institution, die eng mit der Entstehung und Erweiterung der Europäischen Union und mit der amerikanischen Hegemonie verbunden ist. Die NATO ist eine Erweiterung der amerikanischen nationalen Sicherheits- und Außenpolitik. Sie ist ein Instrument, das von den Amerikanern eingesetzt wird, und die Amerikaner hatten nicht vor, dieses Instrument einfach aufzugeben. Nein, sie versuchten, aus dem Verteidigungsbündnis NATO ein Element der amerikanischen „Trickkiste“ zu machen, wenn es darum ging, Macht nicht nur regional, sondern global zu projizieren.

Wir haben erlebt, wie die NATO 1999 in einen offensiven Angriffskrieg gegen Serbien verwickelt wurde; wir haben erlebt, wie die NATO 2011 in einen offensiven Angriffskrieg gegen Libyen verwickelt wurde, um einen Regimewechsel herbeizuführen. Wir haben erlebt, wie sich die NATO nach den Terroranschlägen vom September 2001 in Amerika an Bemühungen um „Nationenaufbau“ in Afghanistan beteiligt hat; dazu NATO-Ausbildungsmissionen im Irak und NATO-Ausbildungsmissionen in Syrien. Wir sehen, daß die NATO versucht, in den Persischen Golf zu expandieren, und in jüngster Zeit sehen wir, wie die NATO – ein transatlantisches Bündnis – versucht, ihre Präsenz in den Pazifik auszuweiten. Das alles geschieht nicht, weil die NATO oder Europa es brauchen, sondern weil die Vereinigten Staaten es so wollen.

Auch hier spiegelt sich die Realität wider, daß die NATO eine Erweiterung der amerikanischen Macht ist, nicht mehr und nicht weniger. Sie vertritt nicht die legitimen nationalen Sicherheitsinteressen Europas. Das könnte sie auch gar nicht, denn sonst wäre sie nicht in den laufenden Konflikt gegen Rußland in der Ukraine verwickelt.

Europas Wirtschaft wird demontiert

Werfen wir einen Blick auf den wirtschaftlichen Wohlstand Europas, wie er sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Europa erholte sich vom Zweiten Weltkrieg, es baute seine Wirtschaft wieder auf. Die Volkswirtschaften ermöglichten es, effektive Gesundheitsversorgung, Sozialprogramme, Rentenleistungen und vieles mehr zu finanzieren.

Und warum? Ehrlich gesagt nur aus einem einzigen Grund – billige russische Energie. Dank der Verfügbarkeit von russischem Gas und russischem Öl in großen Mengen zu erschwinglichen Preisen war Europa in der Lage, im Laufe der Jahrzehnte Hunderte von Milliarden, wenn nicht gar Billionen an nationalen Ressourcen zu sammeln, die an anderer Stelle investiert werden konnten. Hätten sie statt dessen für die von ihnen verbrauchte Energie den Marktwert bezahlen müssen, so hätten das Wachstum der europäischen Industrie und die Anhäufung von Reichtum, den die europäischen Staaten zum Nutzen ihrer Bevölkerung verteilen konnten, nicht stattgefunden.

Doch für die Vereinigten Staaten war das inakzeptabel. Wenn die Vereinigten Staaten die Interessen Europas im Auge hätten, hätten sie einen Weg gefunden, um Europa die Möglichkeit zu geben, die Verbindung mit Rußland im Energiebereich aufrechtzuerhalten. Aber genau das haben wir nicht getan. Statt dessen haben wir versucht, Europa von der russischen Energie abzuschneiden, und damit haben wir die europäische Wirtschaft zerstört.

Heute sehen wir die deutsche Industrie im freien Fall. Die Deindustrialisierung findet statt, während wir hier sprechen. Das gleiche gilt für Frankreich, Großbritannien und andere europäische Länder. Indem diese NATO-Staaten sich an die amerikanische Politik ketten, zerstören sie die eigenen Nationalstaaten, aus denen sich die NATO zusammensetzt.

Der Mythos der Einigkeit der NATO

Ein weiterer Mythos ist, daß die gesamte NATO „mit einer Stimme spricht“. In vielerlei Hinsicht tut sie das auch, denn die einzige Stimme, die die NATO jemals zum Ausdruck bringen kann, ist die amerikanische. Sie kann einen norwegischen Akzent haben, so wie derzeit bei ihrem Generalsekretär Jens Stoltenberg. Sie kann auch einen belgischen oder deutschen Akzent haben, aber es ist eine amerikanische Stimme, darüber sollte sich niemand Illusionen machen.

Die amerikanische Stimme muß den Eindruck erwecken, daß die NATO eine erfolgreiche Organisation ist. Aber wenn Sie sich die NATO ansehen, werden Sie verstehen, daß die amerikanische Rhetorik – ob mit norwegischem Akzent oder nicht –, wonach die NATO noch nie so geeint und so stark war wie heute, leere Worte sind.

Wie kann eine Organisation behaupten, geeint zu sein, wenn der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld an einem der kritischsten Punkte ihrer modernen Ausprägung – nämlich 2002, am Vorabend der US-geführten Invasion im Irak – vom „alten“ und „neuen“ Europa spricht? Schon damals haben wir einen Bruch, einen Trennungspunkt in Europa erzeugt, wonach es diejenigen gibt, die „für“ uns sind, in diesem Fall das Neue Europa – Polen, die baltischen Staaten, die anderen osteuropäischen Nationen, die früher Teil des Sowjetblocks waren – und diejenigen, die „gegen“ uns sind. Das sind Frankreich, Deutschland, Italien, die Nationen, die damals nicht mit unserer Politik im Irak einverstanden waren. Wir haben diese Kluft geschaffen, und diese Kluft besteht auch heute noch.

Aber es gibt noch weitere Gräben. Wie kann man von der Einheit der NATO sprechen, wenn ein Land wie die Türkei, ein NATO-Mitglied, sich der NATO-Erweiterung durch Schweden und Finnland widersetzt, weil deren Politik mit den nationalen Sicherheitszielen der Türkei unvereinbar ist, insbesondere im Hinblick auf die Unterstützung kurdischer Separatistengruppen? Die NATO soll ein gemeinsames Bündnis sein, aber ein Land – die Türkei – hat erklärt, daß es eine existentielle Bedrohung für ihr Überleben gibt, die von den NATO-Beitrittskandidaten unterstützt wird. Sie lehnt dies also ab. Ist das Einigkeit?

Auch wenn die Türkei in der Frage Finnlands nachgegeben hat, muß sie noch Schweden zustimmen. Und selbst wenn sie das tut, dann nur unter Zwang oder durch Bestechung. Einigen Presseberichten zufolge wurde der Türkei von den Vereinigten Staaten der Zugang zu F-16-Kampfflugzeugen angeboten, wenn sie Schweden den Beitritt zur NATO gestatten.

Doch dann stellte sich heraus, daß der US-Kongreß dagegen ist. Der Kongreß ist der Ansicht, daß die Türkei, wenn sie F-16-Kampfflugzeuge erhält, diese in einem Krieg in der Ägäis gegen Griechenland einsetzen könnte. Griechenland ist ein NATO-Mitglied! Die Türkei ist ein NATO-Mitglied! Wie kann man von Einheit sprechen, wenn man befürchtet, daß ein NATO-Mitglied, wenn man ihm Waffen liefert, diese in einem bewaffneten Konflikt gegen ein anderes Mitglied einsetzen könnte? Die NATO ist nicht geeint.

Es gibt Gerüchte über eine NATO-Erweiterung. In der NATO war die Rede davon, in den Pazifik vorzustoßen. Aber das wurde von Frankreich abgelehnt, dessen Regierungschef Emmanuel Macron sagte, die NATO sei eine Organisation des Nordatlantikvertrags und es gebe keinen Grund, ein Verbindungsbüro im Pazifik zu eröffnen.

Auch hier geht es um interne Streitigkeiten in diesem sogenannten „einigen“ Bündnis. Es heißt, aufgrund des Konflikts in der Ukraine sei die NATO stärker als je zuvor; im Zuge des Gipfels von Vilnius wurde davon gesprochen, die militärischen Kapazitäten der NATO zu erweitern und eine 300.000 Mann starke Schnelle Eingreiftruppe zu schaffen. Aber diese Truppe existiert nur in den Köpfen von Jens Stoltenberg und seinen amerikanischen Herren. Sie existiert nur auf dem Papier. Und es stellt sich die Frage, ob die scheiternden Volkswirtschaften der europäischen NATO-Mitglieder die Kosten für den Aufbau dieser Streitkräfte, die wir laut Jens Stoltenberg wegen der russischen Bedrohung brauchen, überhaupt tragen und aufrechterhalten können.

Das führt uns zu dem Konflikt in der Ukraine. Die NATO hat der Ukraine ihre Unterstützung zugesagt. Nicht direkt, es gibt keine Truppen vor Ort, aber die NATO hat ihre Waffenarsenale entblößt, um die Ukraine zu unterstützen; sie leert ihre Schatzkammern, um die Ukraine zu unterstützen. Die NATO hat gesagt, ein russischer Sieg in der Ukraine wäre ein Sieg über die NATO und deshalb dürfe die NATO niemals zulassen, daß Rußland gewinnt. Aber Rußland gewinnt und die NATO kann nichts dagegen tun.

Tatsache ist, daß die NATO ein gescheitertes und scheiterndes Bündnis ist. Sie hat eine begrenzte Lebensdauer. Die Vorstellung, daß die NATO weitere 75 Jahre überleben wird, ist lächerlich. Die NATO kann von Glück sagen, wenn sie noch fünf, höchstens zehn Jahre überlebt. Die NATO ist eine Organisation, die ihre Existenzberechtigung verloren hat.

Außerdem wird den europäischen Mitgliedern allmählich klar, daß, wenn sie in der NATO bleiben, ihre nationalen Sicherheitsinteressen – ob legitim oder nicht – immer den nationalen Sicherheitsinteressen der USA untergeordnet sein werden, die nicht das Wohl Europas im Sinn haben. Ich möchte die Europäer noch einmal daran erinnern, daß das, was mit ihrer Wirtschaft passiert ist, nicht an Rußland liegt, sondern an den Vereinigten Staaten. Die NATO hat Mitglieder auf der einen Seite des Atlantiks und auf der anderen Seite. Die Mitglieder auf der einen Seite des Atlantiks – die Vereinigten Staaten und Kanada – scheren sich nicht um Europa. Europa ist für sie nicht dazu da, um als enger Verbündeter behandelt zu werden; es ist dazu da, um zum eigenen Vorteil ausgenutzt zu werden, insbesondere zum Vorteil der Vereinigten Staaten. Es ist an der Zeit, daß die europäischen Mitglieder der NATO das erkennen und sich für einen europäischen Sicherheitsrahmen mit Rußland einsetzen, der die legitimen nationalen Sicherheitsinteressen Europas und Rußlands respektiert, um sicherzustellen, daß die beiden Seiten nie wieder in einen Konflikt verwickelt werden, sei es direkt oder durch Stellvertreter. Beide Seiten werden davon profitieren.

Natürlich werden die Vereinigten Staaten dies ablehnen, so daß der wahre Kampf für die NATO in Zukunft der interne politische Kampf zwischen den europäischen Ländern und den Vereinigten Staaten sein wird, während sie mit konkurrierenden Visionen darüber ringen, wie Europa an einer sich verändernden globalen Dynamik teilnehmen sollte. Das Zeitalter des amerikanischen Hegemons ist vorbei. Der Aufstieg der multipolaren Realität hat uns eingeholt. Es ist an der Zeit, daß Europa sich entscheidet, ob es Teil eines Gewinnerteams sein will, und das ist natürlich die Multipolarität, oder ob es mit der Titanic in Form der amerikanischen Singularität untergehen will?

Ich danke Ihnen, daß Sie mir die Gelegenheit zu diesem Beitrag gegeben haben, und ich wünsche Ihnen, Helga, dem Schiller-Institut und allen Teilnehmern dieser Konferenz alles Gute.