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Neue Solidarität
Nr. 30, 27. Juli 2023

„Indiens Rolle als Friedensvermittler in diesen kritischen Zeiten“

Kann Indien eine konstruktive Rolle spielen bei der Schaffung von Frieden
und der Verringerung der Kluft zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden?

Von Mrutyuanjai Mishra

Mrutyuanjai Mishra ist Autor und Journalist aus Indien. (Übersetzung nach dem englischen Redemanuskript.)

Wir alle haben gelernt, den Begriff „Länder der Ersten Welt“ zu verwenden, der aus dem französischen anthropologischen Denken abgeleitet wurde und auf der Unterteilung der Gesellschaft in drei vorherrschende Schichten beruht, nämlich den Adel, den Klerus und die Bourgeoisie. Indien, das Land, aus dem ich stamme, wurde lange Zeit als „Dritte-Welt-Land“ bezeichnet, weil es während des Kalten Krieges nicht mit den kapitalistischen NATO-Ländern und auch nicht direkt mit dem kommunistischen Sowjetblock verbündet war. Die Länder des Sowjetblocks wurden als Länder der „Zweiten Welt“ bezeichnet.

Seltsamerweise hat Indien erfolgreich mit beiden Blöcken zusammengearbeitet und sich einen unabhängigen Ansatz in seiner Außenpolitik bewahrt. Als kritisches Denken im 21. Jahrhundert entscheidend wurde, wurde der Begriff „Dritte Welt“ obsolet, da es als neokolonialistisch angesehen wurde, von den so genannten rückständigen Ländern zu erwarten, daß sie sich modernisieren und liberalisieren und wie die Länder der „Ersten Welt“ werden, die durch die 31 Mitglieder und bald 32 Mitglieder vertreten werden, wenn Schweden in etwa einem Monat dem NATO-Bündnis beitritt.

Wir müssen uns also an den Begriff „Globaler Süden“ gewöhnen, der für die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Welt, Indien und China, und die meisten armen Länder der südlichen Hemisphäre steht. Indien und China liegen nicht unbedingt in der südlichen Hemisphäre, aber die meisten der armen Länder der Welt und der Länder mit mittlerem Einkommen in Asien, Lateinamerika und Afrika liegen in der „südlichen Hemisphäre“.

Die Kaufkraft des globalen Südens nimmt zu, und die sogenannten BRICS-Länder machen heute einen erheblichen Teil der Weltwirtschaft aus, während der Anteil der so genannten „Ersten Welt“ an der Weltwirtschaft allmählich abnimmt. Eine neue Weltordnung ist im Entstehen begriffen.

Es gibt Kräfte in der Welt, die einen friedlichen Aufstieg des globalen Südens nicht sehen wollen und dem Planeten ständig einen Kriegszustand aufzwingen wollen, der den armen Süden dazu zwingt, einen größeren Teil seiner Ressourcen in den Verteidigungssektor zu stecken und oft eine destabilisierte Nachbarschaft erleben muß. Auch wenn Indien ein solides Wirtschaftswachstum erlebt, ist es von Ländern umgeben, die in wirtschaftlicher Hinsicht unterdurchschnittlich abschneiden. Beispiele hierfür sind Pakistan und Sri Lanka.

Aber allmählich werden wir sehen, daß der Globale Süden versuchen wird, seinen Einfluß geltend zu machen, und wenn er organisiert und klug ist, wird er in der Lage sein, eine Agenda der politischen Stabilität und der Entwicklung aller seiner Bürger auf der globalen Bühne aufzustellen.

Nehmen wir ein aktuelles Beispiel: Trotz des ständigen Drucks der westlichen Länder leben zwei Drittel der Weltbevölkerung immer noch in Ländern, die neutral sind oder Rußland im Krieg in der Ukraine direkt unterstützen. Sie machen sich mehr Sorgen um Fragen der Armut und der Ernährungssicherheit und wollen den Lebensstandard für ihre Millionen von Bürgern verbessern.

Der von den USA und der Europäischen Union geführte Block, zu dem alle NATO-Länder gehören, repräsentiert etwa 36% der Weltbevölkerung, und sie sind sich in erster Linie einig und konsequent in ihrer militärischen Unterstützung für die Ukraine und haben Wirtschaftssanktionen gegen Rußland beschlossen.

Inzwischen lebt fast ein Drittel der Weltbevölkerung in einem Land, das sich bisher neutral verhalten hat. Angeführt von Indien werden diese blockfreien Staaten – darunter Brasilien, Saudi-Arabien, Südafrika und die Vereinigten Arabischen Emirate – alles daran setzen, sich nicht auf eine Seite zu schlagen und politische und wirtschaftliche Instabilität zu verhindern.

Prognosen zufolge werden bis 2030 drei der vier größten Volkswirtschaften – in der Reihenfolge China, Indien, die Vereinigten Staaten und Indonesien – im Globalen Süden liegen. Schon jetzt übertrifft das BIP der vom Globalen Süden dominierten BRICS-Staaten – Brasilien, Rußland, Indien, China und Südafrika – in Bezug auf die Kaufkraft, das der Gruppe der Sieben (G-7) des Globalen Nordens.

Dr. Jaishankar, der indische Minister für auswärtige Angelegenheiten, sagte kürzlich: „Europa muß aus der Denkweise herauswachsen, daß seine Probleme die Probleme der Welt sind, aber die Probleme der Welt nicht die Probleme Europas sind.“

Die deutlichen Worte Jaishankars fielen in eine Zeit, in der die europäischen Länder hartnäckig versuchten, Indien zu einer harten Haltung gegenüber dem russischen Einmarsch in der Ukraine zu bewegen.

Sehen wir uns einige Fakten an. Ein Drittel der Frauen in Indien sind immer noch Analphabeten, und obwohl Millionen von Indern und Chinesen die Armut überwunden haben, kann noch viel getan werden, um den Lebensstandard von Millionen anderer Menschen sowohl in Indien als auch in China und im übrigen globalen Süden zu verbessern. Daher brauchen wir eine neue Vision von einer Welt ohne Kriege und einer Welt, in der Kooperation anstelle von Wettbewerb zu einer tragenden Säule der sozialen Interaktion wird.

Wer weiß, wenn es die ständige NATO-Erweiterung und die Einkreisung Rußlands nicht gegeben hätte, hätten wir wahrscheinlich auch Frieden in Europa gehabt. Anstatt immer mehr Länder in ein privilegiertes Militärbündnis einzubinden, könnten wir ein Bündnis für wirtschaftliche Stabilität und friedliches Wachstum schaffen. Diese Agenda braucht jetzt weltweite Aufmerksamkeit.