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Neue Solidarität
Nr. 18, 4. Mai 2023

Atomwaffen, Demokratie und der Tiefe Staat

Von Scott Ritter

Der als Whistleblower bekannt gewordene ehemalige UN-Waffeninspekteur Scott Ritter hielt in der Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 15. April den folgenden Vortrag. (Übersetzung aus dem Englischen.)

Vielen Dank, daß Sie mich eingeladen haben. Es mag wie eine seltsame Kombination klingen: „Atomwaffen, Demokratie und der Tiefe Staat“. Ich beschäftige mich schon seit 1987/88 mit Rüstungskontrolle, als Ronald Reagan und Michail Gorbatschow den Vertrag über nukleare Mittelstreckenwaffen (INF) unterzeichneten, mit dem ein Rüstungskontrollregime begann, das nicht nur die Zunahme der Atomwaffen begrenzte, sondern sogar ganze Kategorien von Atomwaffen abschaffte.

Damals erschien die Rüstungskontrolle als ein Teil der Regierungspolitik. Die meisten Amerikaner waren sich gar nicht bewußt darüber, wieviele verschiedene Institutionen, Behörden, Abteilungen und Personal an diesen behördenübergreifenden Bemühungen beteiligt waren, damit dieser Vertrag Wirklichkeit wurde.

Aber wenn Sie so denken – und ich dachte das damals auch, obwohl ich selbst aktiv daran beteiligt war –, dann haben Sie sich geirrt. Denn man muß sich vor Augen führen, was im Juni 1982 im Vorfeld dieser erfolgreichen Umsetzung der Rüstungskontrolle passiert ist.

1982 waren die Abrüstungsverhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion praktisch eingefroren, sie redeten einfach nicht miteinander. Die ganze Welt sah, wie sowohl die Vereinigten Staaten als auch die Sowjetunion anfingen, Kategorien von Kernwaffen zu stationieren, die den Frieden und die Sicherheit in Europa und damit auch weltweit bedrohten.

Aber am 22. Juni 1982 geschah etwas Erstaunliches: Eine Million Amerikaner versammelten sich im Central Park von New York City und gaben der US-Regierung ein klares Signal, daß wir, das Volk der Vereinigten Staaten von Amerika, mit diesem Zustand nicht zufrieden waren; daß wir nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle forderten. Ausgerechnet ein so konservativer Präsident wie Ronald Reagan – der die Sowjetunion vehement verurteilte und sie wiederholt als das „Reich des Bösen“ bezeichnete –, dieser Präsident erhielt den nötigen politischen Freiraum, um die Notwendigkeit der Rüstungskontrolle in Betracht zu ziehen. Dies führte zu einer Wiederaufnahme der Gespräche, einer Wiederaufnahme des Dialogs und, wie ich bereits sagte, zur Unterzeichnung und Umsetzung des Vertrags über nukleare Mittelstreckenwaffen und später des Vertrags über die Reduzierung strategischer Waffen (START).

Die Doktrin des „präventiven Atomkriegs“

Wir befinden uns heute in einer Situation, in der die Rüstungskontrolle so gut wie tot ist. Wie 1982 haben wir eine Situation, in der die Vereinigten Staaten und Rußland einfach nicht miteinander reden; es gibt keine Verhandlungen. Das letzte Überbleibsel der Rüstungskontrolle, der neue START-Vertrag, läuft im Februar 2026 aus. Wenn er nicht durch einen neuen Rüstungskontrollvertrag ersetzt wird, bedeutet das, daß die Vereinigten Staaten und Rußland in ein sehr gefährliches nukleares Wettrüsten ohne jeglichen Kontrollmechanismus verwickelt sein werden.

Wie kommen wir aus dieser Situation heraus? Die meisten Amerikaner glauben, daß wir darauf warten müssen, daß die US-Regierung zur Vernunft kommt und das Richtige tut. Aber die amerikanische Regierung ist nicht mehr die gleiche wie in den 1980er Jahren.

Damals, in den 1980er Jahren, gab es den sogenannten „Inter-Agency-Prozeß“, d.h. einen Prozeß, bei dem sich die verschiedenen Ministerien und Behörden der US-Regierung in politischen Fragen der nationalen Sicherheit miteinander abstimmten. Sie taten dies jedoch unter der Leitung des Präsidenten der Vereinigten Staaten, über seinen Nationalen Sicherheitsberater und den Nationalen Sicherheitsrat. So konnte das amerikanische Volk diesen Prozeß beeinflussen, indem es dem Präsidenten signalisierte, daß wir eine Änderung brauchen, daß wir eine Änderung fordern. Der Präsident hörte darauf, und er ordnete den behördenübergreifenden Prozeß an, um die Bedingungen für eine erfolgreiche Rüstungskontrolle zu schaffen.

Heute haben wir einen Präsidenten, Joe Biden, der im Wahlkampf für das Konzept der „sole purpose doctrine“ (Doktrin des alleinigen Zwecks) geworben hat, d.h. daß Amerikas Atomwaffenarsenal einzig und allein dazu dienen soll, andere Länder, die über Atomwaffen verfügen, von einem Angriff auf die Vereinigten Staaten abzuschrecken. Wenn diese Abschreckung fehlschlägt, würde ein außerordentlicher Strafschlag erfolgen, der so schrecklich wäre, daß hoffentlich niemand versucht, die Vereinigten Staaten mit Atomwaffen anzugreifen.

Früher hatten wir das unter der Bezeichnung „Mutually Assured Destruction“ (gegenseitig garantierte Zerstörung).

Aber das haben wir nicht mehr. Die Vereinigten Staaten haben jetzt eine Politik, die auf der Vorstellung beruht, daß die Vereinigten Staaten nukleare Präventivschläge aus nichtnuklearen Anlässen durchführen können. Kurz gesagt, wann immer die Vereinigten Staaten es für nötig halten, Atomwaffen einzusetzen, können wir sie vom Standpunkt der Doktrin einsetzen.

Das ist eine außerordentlich gefährliche Situation. Und Joe Biden hat sie richtig als solche erkannt. Um ehrlich zu sein, hatte das auch Barack Obama vor ihm, der diese präemptive nukleare Strategie von George W. Bush erbte. Aber Barack Obama war acht Jahre lang nicht in der Lage, das nukleare Establishment, den behördenübergreifenden Prozeß, dazu zu bringen, einen angemessenen Weg zu finden, um von der Präemption zum alleinigen Zweck überzugehen. Joe Biden, als Oberbefehlshaber, wollte das tun.

Im Dezember letzten Jahres habe ich an einer Art Erinnerungstreffen von Unterhändlern, Implementierern und Waffeninspektoren teilgenommen, die mit dem Vertrag über nukleare Mittelstreckenwaffen zu tun hatten. Wir hatten einen Gast bei diesem Treffen, ein hochrangiges Mitglied der Biden-Administration, das für Rüstungskontrolle zuständig ist. Dieser Person wurde die Frage gestellt: „Wie kann es sein, daß der Oberbefehlshaber – die mächtigste Exekutive, der Mann, der dafür verantwortlich ist – diese Politik nicht umsetzen kann? Er hat gesagt, daß er das tun will, warum ist es nicht passiert?“

Die Antwort war, die „Inter-Agency“ sei dazu noch nicht bereit.

Das ist eine erstaunliche Aussage, denn es war nicht die Rede von einem behördenübergreifenden Prozeß, bei dem sich die Abteilungen untereinander abstimmen; er sprach von der Inter-Agency wie von einer eigenen Institution, einem eigenen Wesen. Wer von uns amerikanischen Bürgern hat für diese Inter-Agency gestimmt? Wer hat diese Inter-Agency ausgewählt? Wie ist diese zwischenbehördliche Einrichtung entstanden, und warum darf sie ein Vorhaben blockieren, das von einer Person vorgegeben wird, die vom amerikanischen Volk gewählt wurde?

Das ist die Gefahr; das ist der Tiefe Staat. Die Inter-Agency, wie sie derzeit besteht, ist die lebende Manifestation dessen, was die Leute den „Tiefen Staat“ nennen: ein nicht gewähltes Gremium von Bürokraten, Experten und Technokraten, dessen einziger Zweck es ist, einen Mechanismus in Bezug auf die nationale Sicherheit zu schaffen, um die politische Macht zu erhalten. Sie sind mächtiger als der Präsident der Vereinigten Staaten.

Wir müssen also wieder auf die Frage der Demokratie zurückkommen. Wie kommen wir, das Volk, aus dieser Situation heraus? Denn wir haben gesehen, wenn wir einfach dasitzen und darauf warten, daß die Regierung das Richtige tut, daß dann selbst ein Präsident, der durch demokratische Prozesse gewählt wurde und der im Wahlkampf gesagt hat, daß er die Doktrin der Präventivschläge ändern will, dazu nicht in der Lage war. Er wurde durch diesen nicht gewählten Klüngel, der sich „Inter-Agency“ nennt, blockiert.

Den Tiefen Staat besiegen

Wenn wir die Inter-Agency nicht wählen, wie können wir sie dann ändern? Die Antwort ist, wir müssen deutlich machen, daß wir diese Inter-Agency nicht akzeptieren!

Wie können wir das tun? Ich möchte die Menschen nur daran erinnern, was im Juni 1982 geschah, als eine Million Amerikaner auf die Straße gingen und deutlich machten, daß sie nichts weniger als eine konzertierte Aktion zur nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle tolerieren würden. Das müssen wir wieder tun, und die Wahl 2024 wird, glaube ich, als eine der wichtigsten Wahlen nicht nur in der amerikanischen, sondern in der Weltgeschichte in die Geschichte eingehen. Denn sollten wir es nicht schaffen, eine Führungspersönlichkeit einzusetzen, die nicht nur an die Rüstungskontrolle glaubt, sondern auch bereit ist, die Kontrollmechanismen des Tiefen Staates zu umgehen, dann befürchte ich, daß es in fünf Jahren gar nicht mehr möglich sein wird, einen solchen Dialog, ein solches Art Seminar wie hier zu haben. Und warum? Weil die meisten von uns nicht mehr hier sein werden, weil es einen Atomkonflikt geben wird! Wir befinden uns am Rande eines nuklearen Abgrunds, den wir selbst geschaffen haben.

Der Atomwaffeneinsatz wird von Doktrinen bestimmt, die von nuklearer Präemption sprechen. Die Russen sind so frustriert und besorgt über diese amerikanische Strategie, daß man im russischen Establishment darüber nachdenkt, die eigene Doktrin zu ändern und die Präemption einzubeziehen. Wir sehen es an den Nordkoreanern, die von einem nuklearen Präventivschlag sprechen – warum? Alle sind besorgt über die Vereinigten Staaten von Amerika; alle sind besorgt über die amerikanische Nuklearstrategie und die unverantwortlichen Worte und Taten der amerikanischen politischen Führung und des nicht gewählten Tiefen Staats. Wenn wir dasitzen und nichts tun, sind wir auf dem Weg in die Katastrophe.

Sie wissen, daß die Gruppe amerikanischer Atomwissenschaftler – das Bulletin of the Atomic Scientists – eine sogenannte Atomuhr erstellt. Sie haben die Uhr kürzlich auf 90 Sekunden gestellt. Ich denke, das ist irreführend; das impliziert, daß wir Zeit haben. Wir haben aber keine Zeit. Der tatsächliche Stand der Atomuhr ist eine halbe Sekunde vor zwölf, weniger als das. Es braucht nur einen Klick und alles ist vorbei. Alles ist so positioniert, daß es jeden Moment klick machen kann. Ein Fehler, eine Fehlkalkulation, eine Fehleinschätzung und die Atomwaffen werden eingesetzt. Und wenn sie einmal abgefeuert sind, dann gibt es keinen begrenzten Atomschlag mehr. Es wird zu einem totalen nuklearen Konflikt kommen, und wir werden alle sterben. Das ist die Realität der Situation, mit der wir, das amerikanische Volk und alle Menschen auf der Welt, heute konfrontiert sind.

Kurz gesagt, wenn Sie die nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle nicht zum wichtigsten Ziel machen, dann liegen Sie falsch. Alles andere ist auch wichtig, das bestreite ich nicht. Aber nichts anderes ist noch wichtig, wenn es die Welt nicht gibt. Das einzige, was die Welt morgen zerstören kann, sind Atomwaffen in den Händen der Vereinigten Staaten.

Wir sollten uns also alle für die Stärkung des amerikanischen Volkes einsetzen, damit wir diesem Konzept der Demokratie wieder eine Stimme geben und unsere gewählten Vertreter in die Schranken weisen können, um so diesem nicht gewählten Tiefen Staat oder der „Inter-Agency“ ein Ende zu setzen. Ich danke Ihnen vielmals.