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Von Dr. Alexander Bobrow
Dr. Alexander Bobrow ist Dekan der Schule für Regierungs- und Auswärtige Angelegenheiten der MGIMO Universität (Moskauer Staatsinstitut für Internationale Beziehungen), Übersetzung aus dem Englischen.
Vielen Dank, daß Sie mich eingeladen haben. Ich möchte mein Thema vorstellen und es dabei vermeiden, die Gedanken zu wiederholen, die von den brillanten Vorrednern geäußert wurden, nicht nur in Bezug auf den aktuellen Stand der Beziehungen zwischen dem Westen und Rußland, sondern auch in Bezug auf alles, was mit der Entstehung der multipolaren Welt zu tun hat, die wir derzeit erleben und die nicht nur eine Idee von irgend jemandem ist, sondern eine objektive Tendenz, die eine Gruppe von Ländern – insbesondere der Westen, die Vereinigten Staaten von Amerika, die Europäische Union – zu ignorieren versucht.
Ich habe mich nur deshalb für dieses Thema entschieden, weil vor etwa zwei Wochen das neue Außenpolitische Konzept Rußlands vorgestellt wurde, ein strategisches Dokument, das die wichtigsten Vorstellungen der russischen Staatsführung über die Rolle unseres Landes in den internationalen Beziehungen zum Ausdruck bringt.1 Und man könnte dieses Dokument auch als einen gewissen Spiegel für das Drehbuch des Kremls im allgemeinen verwenden.
Es ist nicht das erste Mal, daß die russische Führung ein solches Dokument veröffentlicht. Es gab bereits 2016 und 2008, also ganz zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Ausgaben davon, aber dies ist das allererste strategische Dokument, das bestimmte Fragen beantwortet.
Die erste wäre: Was ist Rußlands Vorstellung von der modernen Welt?
Wir wissen ja, daß unser Präsident Wladimir Putin oder Außenminister Sergej Lawrow seit Anfang der 2000er Jahre die Idee einer multipolaren Welt vertreten. Aber dies ist das erste Mal, daß diese Idee nicht nur in der Grundvorstellung, sondern auch in den Einzelheiten dieses Dokuments Gestalt annimmt. Wir versuchen zu zeigen, daß diese multipolare Welt nicht nur aus einzelnen Ländern als Zivilisationen bestehen muß – die Vereinigten Staaten von Amerika, Rußland, China oder Indien –, sondern auch aus Regionen, die durch eine Reihe von multilateralen Abkommen und Organisationen vertreten sein könnten. Denn natürlich wird Lateinamerika nicht von einem Land vertreten, sondern von einer Gruppe von Ländern. Das gleiche gilt für Afrika: Kein Land gilt als Alleinvertreter dieser Region, aber die afrikanischen Länder als Gruppe haben jedes Recht, ihre Meinung zu äußern.
Das strategische Dokument ist auch ein sehr guter Ausdruck der russischen Diplomatie.
Als Dozent für Diplomatie stelle ich fest, daß wir derzeit eine Krise der Diplomatie und der diplomatischen Grundsätze im allgemeinen erleben. Es gibt verschiedene Beispiele für einseitige Aktionen der Vereinigten Staaten von Amerika oder ihrer europäischen Verbündeten, insbesondere wenn sie die Beschlüsse des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen umgehen, wie wir es in Jugoslawien gesehen haben, im Irak und in Libyen, wo diese Operation, die das Gaddafi-Regime stürzte, durch die Hintertür lief.
Ich denke, diese Klarheit dieses wichtigen außenpolitischen Konzepts ist auch sehr wichtig, um Moskaus Logik in Bezug auf die Zukunft der verschiedenen bilateralen und multilateralen Beziehungen zu verstehen. So sieht man zum Beispiel in dem Kapitel über die regionalen Prioritäten der russischen Außenpolitik, daß Rußland derzeit den Beziehungen zu den GUS-Ländern, zu China und Indien, zu afrikanischen oder nahöstlichen Ländern Vorrang vor unseren bilateralen Beziehungen zu Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika einräumt.
Das ist zum ersten Mal so in unserer postsowjetischen Geschichte, würde ich sagen, denn jahrzehntelang, ja sogar jahrhundertelang, war die russische Außenpolitik ziemlich eurozentrisch. Unsere Denkweise war in Abhängigkeit von den Tendenzen und Ereignissen in der euro-atlantischen Region geprägt. Jetzt versuchen wir, unsere Aufmerksamkeit auf neue Gravitationszentren zu lenken, in Asien, im Nahen Osten, in Afrika, in Lateinamerika und im Globalen Süden ganz allgemein, was auch insgesamt für die Entstehung dieser neuen multipolaren Welt sehr wichtig ist.
Ich freue mich auf unsere Fragen und Antworten, die gleich im Anschluß folgen werden, und ich möchte Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen und daher ohne weiteres dem nächsten Redner das Wort erteilen. Vielen Dank, daß ich heute hier sein darf.
Anmerkung
1. Englische Fassung: The Concept of the Foreign Policy of the Russian Federation