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Neue Solidarität
Nr. 47, 24. November 2022

Warum Amerika einen Atomkrieg nicht gewinnen kann

Von Scott Ritter

Scott Ritter war Nachrichtenoffizier des US Marine Corps und leitender UN-Waffeninspekteur

Vielen Dank, daß ich hier sein darf, und vielen Dank an alle, die gekommen sind. Wir leben in einer Zeit, in der die amerikanische Öffentlichkeit vielleicht nicht „immun“ ist, aber jedenfalls die Realität eines nuklearen Konflikts nicht kennt.

Ich bin im Kalten Krieg aufgewachsen. Mein Vater war Berufsoffizier bei der Luftwaffe. Zu dieser Zeit gab es ein Buch mit dem Titel Alas, Babylon. Das war ein Codewort. Es war eine Geschichte über einen Atomkonflikt, und darin ruft ein Offizier seine Frau an und sagt ihr mit diesem Codewort, daß ein Atomkrieg bevorsteht. Meine Eltern übernahmen diesen Ausdruck, denn mein Vater war in einer Luftwaffeneinheit tätig, die für den Einsatz von Atomwaffen zuständig war, und es gibt wohl keinen Ehemann oder Vater, der seine Familie nicht liebt und hofft, daß seine Familie das Undenkbare überleben kann. Also haben meine Eltern dieses Codewort übernommen.

Ich kann Ihnen sagen, daß fast jede andere Familie der Air Force dasselbe getan hat. Das bedeutet, daß meine Mutter, meine Schwestern und ich mit dem Gedanken aufgewachsen sind, daß jeder Tag der letzte in unserem Leben sein könnte. Das war für uns real; wir haben es verstanden. Wir haben verstanden, was in einem solchen Krieg passiert. Es geht nicht nur darum, sich unter dem Schreibtisch hinzukauern und zu bedecken,1 sondern darum, die tatsächlichen Konsequenzen zu verstehen.

Als ich in Deutschland lebte, wohnten wir direkt neben einem Ort namens North Point. North Point war ein Atomwaffenlager für die US-Armee in Europa. Es wäre eines der ersten Ziele gewesen, das die Sowjets angegriffen hätten, wenn der Pilz jemals aufgestiegen wäre. Und in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren drohte er das täglich zu tun. Wir stiegen buchstäblich jeden Morgen in den Schulbus und fragten uns, ob an diesem Tag die Welt untergehen würde. Als mein Vater im Atombunker verschwand und mehrere Tage lang nicht ansprechbar war, war der Angstfaktor echt und real.

Ich trat in das Marine Corps ein, um meinem Land zu dienen. Meine erste Einheit, der ich zugeteilt wurde, war eine nuklearfähige Artillerieeinheit. Wir führten oft Übungen durch, bei denen wir den Abschuß von Atomwaffen übten. Ich kann Ihnen sagen, daß wir unsere Aufgabe erfüllt haben. Im Grunde ging es darum, den Job zu erledigen, zu trainieren, zu trainieren, zu trainieren, damit man alles aus dem Muskelgedächtnis heraus tut, wenn es soweit ist, und man es einfach tun muß, ohne nachzudenken. Du tust es einfach. Also, was die Hoffnung angeht, daß ein Berufssoldat irgendwie ein moralisches Gewissen entwickelt und sagt: „Ich verweigere diesen Befehl“ – hoffen Sie das nicht. Berufssoldaten werden die ihnen aufgetragene Mission ausführen.

Die Konsequenzen wurden während der Feldübung auf Divisionsebene deutlich, als wir übten, eine sowjetische Invasion über den Iran zu stoppen, wo sie versuchen würden, die Warmwasserhäfen zu erobern. Wir simulierten den Einmarsch in den Iran, um sie abzufangen und aufzuhalten; und natürlich hatten wir nicht genügend Kräfte, die Sowjets durchbrachen unsere Linien, sie rückten vor. Die Artillerie erhielt den Befehl, eine Nuklearladung abzufeuern. Wir haben sie abgefeuert. Dabei müssen viele Formalitäten eingehalten werden, auf die ich nicht näher eingehen will. Aber das wichtigste ist, daß der simulierte Schuß die sowjetischen Einheiten traf und sie zerstörte. Die nachfolgenden Staffeln, die für den Einsatz in einer nuklearen Umgebung ausgebildet sind, durchquerten das Gebiet. Dann war der Krieg zuende.

Ich sagte: „Moment mal, wir hatten doch gar keine Chance, gegen die nächsten Gegner zu kämpfen.“ Die Vorgesetzten sagten: „Nein, es ist vorbei.“ „Warum?“ „Weil sie uns mit Atomwaffen angegriffen haben und wir tot sind. Es ist vorbei, Schluß.“ Das ist die Realität eines Atomkriegs: Man lebt nicht mehr und kämpft nicht mehr, man ist auf der Stelle tot.

Historischer Abrüstungsvertrag

Danach war ich als Waffeninspektor für den Intermediate Nuclear Forces Treaty (INF-Vertrag) tätig, mit dem die erste Abrüstung von Atomwaffen umgesetzt wurde. Damals in den 1980er Jahren – daran erinnern sich die Leute nicht mehr, aber ich denke, fast jeder in diesem Gremium ist alt genug, um sich daran zu erinnern – stand die Welt wegen der nuklearen Mittelstreckenraketen mehrmals kurz vor dem Untergang. Die Sowjets hatten SS-20-Raketen mit drei Sprengköpfen. Wir haben daraufhin Pershing-II-Raketen und bodengestützte Marschflugkörper stationiert. Die Pershing II konnte damals, wenn sie von einer Position in Westdeutschland abgefeuert wurde, Moskau innerhalb von 7-12 Minuten treffen. Das ist es, wovon Steven Starr gesprochen hat: die absolute Unmöglichkeit, in so kurzer Zeit rational zu denken. Aber das wurde ständig geübt.

In den 80er Jahren gab es einen beängstigenden Zwischenfall, als die Norweger eine atmosphärische Testrakete abfeuerten und die Sowjets sie fälschlicherweise für einen atomaren Erstschlag hielten. Zum Glück gab es den Sowjets jemanden, der die Pausentaste drückte, und sie starteten nicht den automatischen Gegenschlag (Launch-on-warning). Sonst wäre keiner von uns hier.

Jedenfalls ging es in den 80er Jahren vor allem darum, dem nuklearen Armageddon zu entgehen. Eines der großartigsten Ereignisse aller Zeiten – einer der am meisten unterschätzten Momente der amerikanischen Geschichte - war die Unterzeichnung des INF-Vertrags durch Ronald Reagan und Michail Gorbatschow. Weil wir die Welt buchstäblich vor dem Selbstmord, vor dem nuklearen Tod bewahrt haben. Ohne den INF-Vertrag, davon bin ich fest überzeugt, wäre ein Unfall passiert, der außer Kontrolle geraten wäre und zu einem allgemeinen nuklearen Schlagabtausch geführt hätte.

Wir sind diese Raketen losgeworden und haben die Voraussetzungen für eine größere strategische Abrüstung geschaffen.

Aber das haben wir inzwischen vergessen, weil die Sowjetunion verschwunden ist. Rußland ist aufgetaucht. Wir verdächtigen die Russen weniger als damals, aber wir machen sie klein; wir haben vergessen, was die Realität eines Atomkonflikts ist, und zwar so sehr, daß wir die 53. Artilleriebrigade reaktiviert haben, die während des Kalten Krieges eine Pershing-II-Brigade war. Sie wurde in Deutschland reaktiviert, und wir bereiten uns auf die Stationierung einer neuen Familie von Mittelstreckenraketen vor, der so genannten Dark Eagle Hypersonic, die uns die Fähigkeit zum schnellen Erstschlag gegen Moskau verleiht, den wir auslösen werden.

Die Tote Hand

Die Leute sagen: „Moment mal, können wir einen Atomkrieg nicht gewinnen?“ Lassen Sie mich Ihnen eine kurze Kriegsgeschichte erzählen und damit schließen. Ich war Inspektor vor einer sowjetischen Raketenfabrik, die SS-20-Raketen baute. Wir stellten sicher, daß sie nicht noch mehr produzierten.

Sie produzierten auch etwas namens SS-25. Im März 1990 gab es einen kleinen Zwischenfall. Wir hatten dieses riesige Röntgengerät, mit dem wir laut Vertrag die SS-25-Behälter durchleuchten sollten, um sicherzustellen, daß sie keine Raketen enthielten. Die Sowjets ließen uns das Gerät nicht in Betrieb nehmen, aus Gründen, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte – es war nicht ihre Schuld. Aber in Verbindung damit haben sie drei Raketen aus ihrer Anlage herausgeholt. Wir dachten: Warum sollten sie das tun? Warum sollten sie den Zorn der Vereinigten Staaten riskieren und den Vertrag aufs Spiel setzen?

Es stellte sich heraus, daß es sich bei diesen Raketen nicht um SS-25-Raketen handelte. Sie waren nicht durch den Vertrag verboten, aber es waren auch keine Raketen, die für den Einsatz von Atomsprengköpfen vorgesehen waren. Es waren Raketen, die ein Kommunikationspaket tragen sollten. Die SS-25 war nicht mehr die Topol, sondern die Sarina. Und die Sarina ist Teil eines Systems namens „Tote Hand“ oder Perimeter. Diese Raketen waren Teil eines Kontingents von neun. Sechs waren bereits verteilt worden, ein spezielles Regiment, das in Konfliktzeiten automatisch ins Feld geht; sie sind immer im Feld.

Wenn es uns gelänge, einen Erstschlag gegen Rußland zu führen, der die russische Führung enthauptet, könnten die Leute in Washington, die Schreibtischkrieger, denken: „Aha! Vorteil Amerika – Rußland kann mehr nichts tun.“ Im Gegenteil, Rußland wird alles tun, denn dann übernimmt die Tote Hand. Wenn jemand die russische Kommandozentrale zerstört, werden Kommunikationssignale an den Kontrollraum der Toten Hand gesendet: „Funktionen einstellen.“ Wenn sie nicht mehr funktionieren, tritt die Tote Hand in Aktion. Die Tote Hand startet diese Sarina-Raketen mit ihrem Kommunikationspaket, und die fliegen über ganz Rußland und senden Abschußcodes, die automatisch die gesamte sowjetische Atomstreitmacht zu ihren Zielen schicken. Ende der Welt.

Meine Damen und Herren, man kann einen Atomkrieg nicht gewinnen, es ist unmöglich. Und trotzdem bauen wir weiterhin Waffen, die uns glauben lassen, daß wir die Eskalation eines Atomkonflikts unter Kontrolle bringen können. Das ist nicht möglich. Wenn wir eine Atomwaffe gegen die Russen einsetzen, feuern sie automatisch alles ab. Es gibt keine Eskalationskontrolle; es gibt keine „Eskalation-Deskalation“. Es gibt nur ein sofortiges Armageddon, den Tod der gesamten Menschheit.

Das ist die Botschaft, die ich vermitteln möchte. Atomkriege können nicht gewonnen werden; sie sollten niemals geführt werden. Deshalb sollte es niemals Atomwaffen geben.


Anmerkung

1. Eine Anspielung auf einen bekannten Zeichentrickfilm der US-Regierung aus den 1950er Jahren, der Kindern zeigte, daß sie sich im Falle eines nuklearen Angriffs auf den Fußboden „ducken“ und mit Stoff „bedecken“ sollen (engl. duck and cover).