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Die Wochenzeitung Das Parlament hat in ihrer Ausgabe vom 24.10.2022 eine Beilage Aus Politik und Zeitgeschichte – Chinas neue Seidenstraßen veröffentlicht. Obwohl auch dort viele der geistlosen Stereotypen über China wiederholt werden, ist zumindest in einem Artikel der Anflug von etwas unabhängigeren Denken bemerkbar. Ich beziehe mich auf den zweiten Beitrag (Nadine Godehard: „Chinas Geopolitischer Code“). Sie hat zumindest begriffen, daß sich die Welt im Umbruch befindet und die US-dominierte neoliberale Ordnung ihren Höhepunkt überschritten hat. Sie schreibt (S.14):
„Die Entwicklungen der vergangenen Jahre, vor allem die COVID-19-Pandemie und ihre Auswirkungen, die Klimakrise sowie der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, haben die weltpolitische Lage nochmals gravierend verändert. Auch die chinesische (Außen-)Politik kann nicht unabhängig von dieser Situation betrachtet werden. China ist Globalmacht, ein aktives Mitglied in internationalen Organisationen, und chinesische Akteure sind mittlerweile in jeder Weltregion vertreten. Darüber hinaus haben viele internationale Themen, Institutionen oder Akteure durch einen Bezug zu China eine stärkere globale Beachtung erfahren, etwa das Internationale Olympische Komitee, die Weltgesundheitsorganisation, das Weltwirtschaftsforum oder internationale Standards. Der entscheidende Punkt ist aber, daß China zunehmend eine eigene Vorstellung von ,Globalität' entwickelt, das heißt davon, wie die Welt räumlich und geographisch strukturiert sein sollte, um eine größere Kompatibilität mit den Zielen der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) herzustellen.
Dies ist in erster Linie möglich, weil wir uns inmitten einer Phase befinden, in der die liberale internationale Ordnung ihren Kulminationspunkt endgültig überschritten hat. Begriffe wie ,Zeitenwende‘ drücken dies im Kern aus. Sie verdeutlichen: Was vormals galt, gilt nicht mehr.
Mit Antonio Gramsci könnte man auch von einem ,Interregnum der Weltordnung‘ sprechen. Dabei beschreibt das Interregnum ein Zeitalter geprägt von Krisen, Durcheinander, Unsicherheiten und Verunsicherung, in dem Strukturen der liberalen internationalen Ordnung weiterhin existieren, auch teilweise noch funktionieren, aber gleichzeitig in vielen Momenten nicht mehr für ausreichend Stabilität und Sicherheit sorgen können. ,Interregnum‘ steht folglich für eine noch nicht komplett zerrissene Ordnung; eine Situation, in der noch nicht absehbar ist, wie neue Ordnungen der Zukunft aussehen werden.“
Aufmerksame Leser dieser Zeitung sind in Bezug auf die letzte Bemerkung schon weiter: Sie wissen, daß die zukünftige Ordnung – vorausgesetzt die Gefahr eines nuklearen Dritten Weltkrieges wird abgewendet – sich stärker auf die Überwindung von Armut und Not und weniger auf geopolitische Machtkämpfe, auf Kooperation statt Konfrontation konzentrieren wird. Die sich abzeichnende Ordnung wird auch das Nebeneinander verschiedener Gesellschaftssysteme zulassen. Aber sie wird vor allem auf dem Erfolgsrezept aller modernen Staaten beruhen: Infrastruktur plus Bildung plus technischer Fortschritt!
Positiv wollen wir aber festhalten, daß es doch noch geistiges Leben in einigen Abteilungen deutscher Denkfabriken gibt. Frau Godehard arbeitet in der Forschungsgruppe Asien in der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), die die Bundesregierung berät.
Klaus Fimmen