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Neue Solidarität
Nr. 27, 7. Juli 2022

– Kommentar –

Geplante Kriegswirtschaft: eine gefährliche Illusion

Von Alexander Hartmann

Die Prahlerei der G7-Staats- und Regierungschefs, sie wollten Rußland besiegen und Präsident Putin demütigen, wurde wiederholt von Militär- und Geheimdienstexperten in den Vereinigten Staaten und Europa widerlegt. Neben Oberst a.D. Richard Black (vgl. „Die Ukraine hat den Krieg verloren, aber es droht immer noch ein Atomkrieg”) erklärte auch Oberst a.D. Douglas MacGregor am 21. Juni unumwunden, daß „die Ukraine diesen Krieg verloren hat. Ich würde behaupten, daß sie ihn schon vor einiger Zeit verloren hat“.

Scott Ritter, ehemaliger Nachrichtenoffizier der Marine-Infanterie und ehemaliger UN-Waffeninspektor, hat die NATO-Führung aufgefordert, sich von der Vorstellung zu verabschieden, Rußland durch eine Verlängerung der Kämpfe militärisch und wirtschaftlich zu schwächen. Die Schlußfolgerung, die er am 25. Juni in Consortium News zog, ist ernüchternd: „Das ist die häßliche Wahrheit über die heutige Ukraine: Je länger der Krieg andauert, desto mehr Ukrainer werden sterben und desto schwächer wird die NATO.“

Auf Grundlage von Berichten ukrainischer Stellen rechnet Ritter vor, daß die Ukraine mit allen Waffen und der Munition aus der Sowjet-Ära am Ende ist, so daß sie vollkommen von der Lieferung weitgehend unbekannter westlicher Artillerie abhängig ist. Zusammenfassend lasse sich sagen, daß „die Ukraine nur etwa 4.000 bis 5.000 Artilleriegeschosse pro Tag abfeuern kann, während Rußland mit mehr als 50.000 antwortet. Dieses Zehnfache an Feuerkraft hat sich als einer der entscheidenden Faktoren für den Krieg in der Ukraine erwiesen, da es Rußland ermöglicht, ukrainische Verteidigungsstellungen mit minimalem Risiko für seine eigenen Bodentruppen zu zerstören.“

Die Ukraine fordere nun die Lieferung von 1.000 Artilleriegeschützen und 300 zusätzlichen Mehrfachraketen-Systemen. Das, so Ritter, sei „mehr als der gesamte aktive Bestand der US-Armee und des Marine Corps zusammen“. Außerdem fordert die Ukraine 500 Kampfpanzer an – mehr als Deutschland und das Vereinigte Königreich zusammen besitzen. Kurz gesagt, um die Ukraine auf dem Schlachtfeld einsatzbereit zu halten, wird die NATO aufgefordert, ihre eigene Verteidigung buchstäblich auf Null herunterzufahren, während Rußland in der Lage zu sein scheint, das derzeitige Niveau zu halten.“

Die transatlantischen Regierungen haben dies entweder noch nicht begriffen oder ziehen es vor, weiterhin leere Versprechungen zu machen. So hat sich der derzeitige Frontmann der Kriegsfalken, Premierminister Boris Johnson, zum Wortführer der „heldenhaften“ Ukrainer gemacht, die für die strategischen Interessen Londons in den Tod gehen. Er behauptet nun, daß sie, gestützt auf die „eiserne Entschlossenheit“ einer vereinten NATO, Wladimir Putin besiegen werden, dessen „imperialer Plan zur totalen Rückeroberung der Ukraine entgleist ist“.

Kapazitäten der Rüstungsindustrie reichen nicht aus

Aber ist Großbritannien auf ein solches Unterfangen überhaupt vorbereitet? Zwei Berichte von Militärs, die davor warnen, daß die britische Wirtschaft für einen solchen Krieg unzureichend ist, verneinen das. Plötzlich scheint nun einigen in der Londoner City zu dämmern, daß es hilfreich sein könnte, eine industrielle Wirtschaft zu haben, wenn man einen Stellvertreterkrieg gegen Rußland führen will.

In einem Artikel, der vom Royal United Service Institute (RUSI), einer führenden Denkfabrik für Verteidigungsfragen, veröffentlicht wurde, wies der amerikanische Oberstleutnant a.D. Alex Vershinin auf die rückläufige industrielle Wirtschaft im Westen hin, die zeige, daß der Westen im Gegensatz zu Rußland nicht über die industriellen Fähigkeiten verfüge, einen längeren Krieg zu führen. Sein Artikel mit dem Titel „Die Rückkehr der industriellen Kriegsführung“ kommt zu dem Schluß, daß „das demokratische Arsenal seinen Ansatz für die Produktion von Kriegsmaterial radikal verbessern muß“.

Seine Bedenken wurden von Admiral Sir Tony Radakin, dem Chef des Verteidigungsstabs, in einer Stellungnahme vor dem britischen Oberhaus aufgegriffen, in der er die Einschränkungen beklagte, die dem Militär durch den maroden Zustand der britischen Industriekapazitäten auferlegt werden.

Engpässe überall

Aber auch eine massive Ausweitung der Rüstungsproduktion ist keine Option. Vergleicht man die Pläne, die beim NATO-Gipfel in Madrid diskutiert wurden, und den Bedarf an Rüstungsgütern, der sich hieraus ergibt, mit den derzeit vorhandenen Produktionskapazitäten im Westen, wird schnell deutlich, daß die „Anführer der freien Welt“ drauf und dran sind, den gleichen Fehler zu begehen wie die Führer der Sowjetunion in den 1980er Jahren.

Schon Anfang der 1980er Jahre versuchte Lyndon LaRouche, eine Kehrtwende anzustoßen, als er mit der Reagan-Regierung zusammenarbeitete, um mit der Strategischen Verteidigungsinitiative (SDI) die Gefahr eines Atomkrieges zu bannen. In seinen Verhandlungen mit den Sowjets in den Jahren 1982-83 warnte er die sowjetischen Vertreter, daß ihre Wirtschaft „in etwa fünf Jahren“ zusammenbrechen würde, wenn sie das Angebot von Präsident Reagan, die SDI gemeinsam zu nutzen und einzusetzen, ablehnten und sich statt dessen für eine Aufrüstung ohne den Einsatz der neuen Technologien zur Revolutionierung der Produktion entschieden. Zugleich warnte er den Westen immer wieder vor den katastrophalen Folgen einer neoliberalen Wirtschaftspolitik.

Schon jetzt reichen die industriellen, infrastrukturellen und personellen Kapazitäten der produktiven Wirtschaft im Westen kaum aus, um die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen,  und der Versuch, einen erheblichen Teil der verbliebenen Kapazitäten in die Rüstungsproduktion umzuleiten, würde die schon jetzt spürbaren Engpässe dramatisch erhöhen. Die Folge wäre eine Kettenreaktion von Ausfällen in den Lieferketten, wodurch große Teile der Volkswirtschaft sehr bald zum Stillstand kämen.

Bevor man ein solches Programm überhaupt in Erwägung ziehen kann – das sowieso Ausdruck des schon an sich verrückten Versuchs ist, die zunehmend schwindende Vorrangstellung des Westens durch militärische Drohungen aufrecht zu erhalten –, ist eine 180-Grad-Wende in der Wirtschaftspolitik notwendig. Wir bräuchten zuerst ein Programm zur Reindustrialisierung unserer Volkswirtschaften und müßten dabei der Wiederherstellung einer leistungsfähigen Infrastruktur (wie z.B. Energieversorgung, Verkehr) Vorrang einräumen. Teil dieses Programms muß die Ausbildung von Millionen qualifizierten Arbeitskräften für den produzierenden Sektor sein. Wesentlich ist dabei der Einsatz von hocheffizienten Technologien mit hohen Energieflußdichten.

Dies ist nicht möglich, solange verrückte Ideologen unsere Wirtschaftspolitik bestimmen. Denn der bereits dramatisch voranschreitende Niedergang der physischen Wirtschaft im größten Teil des Westens ist eine Folge der neoliberalen Wirtschaftspolitik der letzten fünfzig Jahre, und dies wurde durch das wissenschaftsfeindliche Dogma „grüner“ Ideologen und die utopische Militärpolitik der „Revolution in militärischen Angelegenheiten“ noch verschärft. Wir müssen aufhören, die verbliebenen Kapazitäten der Wirtschaft für Finanzspekulationen und unproduktive Hirngespinste wie die Energiewende oder eine Rüstungsoffensive zu verschwenden. Der beste Weg dazu sind internationale Vereinbarungen über eine neue globale Sicherheits-, Finanz- und Entwicklungsarchitektur – eine globale Friedensordnung. Und die Schaffung einer solchen Friedensordnung würde auch die geplanten Aufrüstungsprogramme überflüssig machen.

Einige Strategen scheinen heute immer noch zu glauben, daß eine Kriegsaufrüstung die allgemeine wirtschaftliche Verschlechterung der letzten fünf Jahrzehnte überwinden könne. Das wäre ein verheerender Trugschluß. Was wir brauchen, ist eine neue globale Wirtschaftsarchitektur, die auf gegenseitigem Nutzen durch Zusammenarbeit zwischen souveränen Nationalstaaten beruht.