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Die wichtigste Frage in der heutigen Welt ist, ob die USA und Europa in die weltweit wachsende Dynamik eines neuen Paradigmas der internationalen Beziehungen, verbunden mit einem Finanzsystem im Dienst von realwirtschaftlicher Entwicklung und Allgemeinwohl, einbezogen werden können. Die westlichen Mächte treiben diese Dynamik selbst voran in ihrem verzweifelten Bemühen, ihre „regelbasierte Ordnung“ durchzusetzen, während sie im Morast wirtschaftlichen Niedergangs, brachialer Militarisierung und zunehmender Isolierung versinken. Die beispiellosen Sanktionen gegen alles Russische erweisen sich nicht nur als Bumerang für die Länder, die sie verhängt haben, sie stürzen auch ärmere Länder noch mehr in Hunger und Energiemangel - während sie gleichzeitig nichts an der militärischen Eskalation in der Ukraine ändern, die sie angeblich verhindern sollten.
Immer mehr Länder, einschließlich jener im globalen Süden, die traditionell vom Westen abhängig sind, verweigern ihre Beteiligung an dem hochgefährlichen Konflikt zwischen der NATO und Rußland und im weiteren Sinne auch China, und äußern deutliche Kritik an der Haltung des Westens - hier einige Beispiele:
Er wies darauf hin, daß Indien ein Fünftel der Weltbevölkerung ausmacht und heute die fünft- oder sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt ist. Sein Land habe selbstverständlich das Recht auf seine eigene Sicht, auf die Abwägung eigener Interessen und auf eigene Entscheidungen. Diese werden „ein Gleichgewicht zwischen meinen Werten und meinen Interessen sein. Es gibt kein Land auf der Welt, das seine Interessen außer Acht läßt“, sagte er laut Economic Times.
Jaishankar war schonungslos gegenüber Europa: „Außerhalb Europas passiert eine Menge. Es gibt so viele humanitäre und Naturkatastrophen in unserem Teil der Welt, und viele Länder bitten Indien um Hilfe. Die Welt verändert sich und es kommen neue Akteure hinzu. Die Welt kann nicht mehr eurozentrisch sein. Europa muß aus der Denkweise herauswachsen, seine Probleme seien die Probleme der Welt, aber die Probleme der Welt nicht die Probleme Europas.“
Kritik an Delhis Position zur Ukraine konterte er mit einem Verweis auf die europäische Politik: „Wenn ich Europa als Ganzes nähme, das zu vielem, was zum Beispiel in Asien geschieht, auffallend schweigsam war, dann könnte man fragen: Warum sollte irgend jemand in Asien Europa überhaupt in einer Sache trauen?“
Auf eine Frage, ob Indien mit dem Kauf von russischem Öl „Putins Krieg in der Ukraine“ finanziere, wies er auf die Heuchelei des Westens hin. „Wenn die westlichen Länder, Europa und die USA, so besorgt sind, warum lassen sie dann nicht zu, daß iranisches Öl auf den Markt kommt, warum lassen sie nicht zu, daß venezolanisches Öl auf den Markt kommt?“
Er wies auch Behauptungen zurück, Indien habe ein Exportverbot für Weizen verhängt. Als Indien Weizen exportierte, „haben wir einen Ansturm auf unseren Weizen erlebt, der zum großen Teil von internationalen Händlern mit Sitz in Singapur und den Vereinigten Arabischen Emiraten ausging“. Ärmere Länder seien so verdrängt worden. „Unser guter Wille wurde für Spekulationen ausgenutzt. Wir werden Spekulanten keinen offenen Zugang zum indischen Markt gewähren, wie wir es bei den Impfstoffen gesehen haben. Das wollen wir bei Weizen auch nicht.“ Indien habe in diesem Jahr Weizen in 23 Länder exportiert.
Auf der Pressekonferenz nach dem Treffen sagte der AU-Vorsitzende: „Wir gehen sehr beruhigt und sehr zufrieden mit unserem Austausch von hier weg.“ Er habe Putin als „engagiert erlebt, der sich bewußt darüber ist, daß die Krise und die Sanktionen für schwache Volkswirtschaften wie die afrikanischen ernste Probleme schaffen“.
TASS veröffentlichte einen Bericht, in dem Sall die westlichen Sanktionen verurteilte: „Die Sanktionen gegen Rußland haben die Situation der Getreide- und Düngemittellieferungen an afrikanische Länder verschlechtert.“ Er wies auch auf die „Folgen für die Ernährungssicherheit des Kontinents“ hin.
Gegenüber dem französischen Sender BFMTV bestätigte Sall am 10. Juni: „Präsident Putin konnte alles erklären, was er erklären wollte, und beantwortete alle unsere Fragen“, einschließlich der „Wiederherstellung des Handels zwischen Rußland und Afrika, insbesondere der Lieferungen von Getreide und Düngemitteln… Alle seine Erklärungen zu den Gründen des Konflikts, auch aus historischer Sicht, sind definitiv gerechtfertigt. Ich kann sie nicht verteidigen, aber ich glaube, was auch immer sie sind, jetzt muß jede Regierung daran arbeiten, diesen Konflikt zu beenden.“
Anschließend twitterte Macky Sall, der auch Präsident von Senegal ist: „Präsident Putin hat uns gegenüber seine Bereitschaft bekundet, die Ausfuhr ukrainischen Getreides zu erleichtern. Rußland ist bereit, die Ausfuhr seines Weizens und Düngers zu gewährleisten. Ich rufe alle Partner auf, die Sanktionen gegen Weizen und Düngemittel aufzuheben.“
Washington hatte vorher einseitig verkündet, welche Regierungen teilnehmen durften und welche nicht, und die „autoritären“ Staaten Kuba, Nicaragua und Venezuela ausgeschlossen, was eine Revolte auslöste, indem etliche Staatschefs drohten, nicht zu kommen. Der mexikanische Präsident Andres Manuel Lopez Obrador (AMLO) warnte, er werde nicht teilnehmen, wenn die USA diese Haltung nicht aufgäben, und er hielt sein Wort und kam nicht - für Präsident Biden persönlich ein schwerer Schlag.
Ein weiterer schwerer Schlag war das Fernbleiben der Präsidenten von El Salvador, Guatemala und Honduras, drei entscheidende Länder für die großspurig angekündigten Pläne der Regierung Biden zur Bekämpfung der „Migrationsursachen“. Argentiniens Präsident Alberto Fernandez nahm zwar teil, bemerkte aber auf der Plenarsitzung am 9. Juni treffend: „Wir hätten uns eindeutig einen anderen Amerika-Gipfel gewünscht. Das Schweigen derer, die nicht anwesend sind, ruft uns auf den Plan... Ich möchte für die Zukunft festhalten, daß man als Gastgeber eines Gipfels nicht das Recht hat, den Mitgliedstaaten ,Zutrittsbeschränkungen‘ aufzuerlegen.“
Nur durch verzweifeltes Drängen und Bestechung gelang es der US-Regierung, andere Staatschefs zur Teilnahme zu bewegen, u.a. indem sie persönliche bilaterale Treffen mit Biden als Zuckerbrot anbot. Aber ihre peinlichen „Initiativen“ waren alles andere als süß, auch wenn Washington steif und fest behauptete, sie würden der Region zu ungeheurem Wohlstand verhelfen und wären auch allem, was Chinas Gürtel- und Straßen-Initiative (BRI) bieten könnte, weit überlegen. Tatsächlich laufen die von Biden vorgeschlagene „Amerikanische Partnerschaft für wirtschaftlichen Wohlstand“ und andere Maßnahmen gegen Migration darauf hinaus, Freihandel, Dekarbonisierung und „saubere Energien“ sowie mehr private Investitionen zu fördern, sie schaffen aber keinen produktiven Kredit für den Ausbau der Infrastruktur. Sie ist vielmehr ein plumper Versuch, die Nationen Amerikas in die sinkende unipolare Welt einzubinden.
Auch in Europa und den USA wachsen die sozialen Unruhen, wenn auch langsam. Die Bevölkerung hat es satt, ständig zu hören, für den Anstieg der Lebensmittel- und Energiepreise sei Rußland verantwortlich, obwohl jeder weiß, daß das Problem schon vor Jahren begann. Sie wird es leid, zu hören, die Medien müßten zensiert werden, um subversiver russischer Propaganda und Cyberangriffen entgegenzuwirken. Sie ist mehr als skeptisch, daß weniger Duschen zur Verteidigung der Freiheit und der westlichen Werte in Europa beiträgt. Und sie fragt sich, woher all das Geld für die unbegrenzten Mengen an Waffen und militärischer Ausrüstung für die Ukraine kommen soll, während niemand genau weiß, wo sie tatsächlich landen - sofern sie nicht in dem Konflikt sofort zerstört werden.
Die Frage ist nun, wie diese Unzufriedenheit zu einer Kraft organisiert werden kann, die einen klaren Bruch mit der neoliberalen Politik und eine Zusammenarbeit mit Rußland und China fordert.
chs/alh