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Die Maßnahmen der EU-Regierungen zur angeblichen Abfederung der Folgen hoher Energiepreise für die Verbraucher sind nicht nur unzureichend, sondern geradezu kriminell. Rabatte und Steuersenkungen auf Benzinpreise sichern den Spekulanten weiter satte Gewinne. Wenn der italienische Minister Roberto Cingolani von einem „kolossalen Betrug“ spricht, kennt er vielleicht nicht die Preisbildungsmechanismen, aber die Europäische Kommission tut es – schließlich hat sie selbst sie geschaffen!
Im EU-Energiebinnenmarkt werden die Energiepreise täglich auf den Märkten festgelegt: Amsterdam für Erdgas, Leipzig für Strom, London für Benzin usw. Langfristige Verträge wurden zugunsten von Spot- und Future-Märkten aufgegeben, angeblich weil der Mechanismus von Angebot und Nachfrage für den besten Preis sorgt. Doch da diese Märkte für Händler von außen offen sind, schaffen Horden von Spekulanten regelmäßig künstliche Verknappungen oder Überfluß an Rohstoffen, je nachdem, wie sie gewettet haben.
Der ehemalige Chefökonom der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD), Heiner Flassbeck, hat einen solchen perversen Mechanismus aufgedeckt und wirft den Regierungen vor, das Problem zu ignorieren. „Entscheidend ist, daß man Spekulation angeht. Darüber wird bisher ja überhaupt nicht gesprochen“, sagte er am 22. März gegenüber Telepolis. Die Spekulation habe „einen enormen Einfluß auf den Ölpreis“.
Das Wall Street Journal berichtete am 13. März über einen Anstieg der Hedgefonds-Wetten auf Energiepreise nach dem Beginn der russischen Militäroperation in der Ukraine, was in den ersten beiden Monaten des Jahres enorme Renditen brachte. Soroban Capital Partners LP habe seit Februar mindestens mehrere hundert Millionen Dollar verdient, weitere Gewinner seien Castle Hook Partners und Pilgrim Global.
Sie wetten darauf, daß „ein jahrelanger Rückgang der Ausgaben für neue Rohstofflieferungen und Bemühungen zur Begrenzung der Kohlenstoffemissionen die Rohstoffpreise und die Aktien der Produzenten in die Höhe treiben würden, so mit den Firmen vertraute Personen. Auf Rohstoffe spezialisierte Fonds, die ähnliche Wetten abschlossen, verzeichnen nach Jahren schlechter Performance überdurchschnittliche Renditen – in einigen Fällen etwa 30% in den ersten beiden Monaten des Jahres.“
Während die EU-Regierungen also Haushalten Energiezuschüsse zahlen und Benzinpreise subventionieren, fließt das Geld zurück an die Hedgefonds und die Megabanken, die das Geld verleihen, das sie sich von der Zentralbank geliehen haben. Kein Wunder, wenn EZB-Vizepräsident Luis de Guindos sagt, die Bank bemerke „nicht viel Streß“ auf den Energiemärkten. Die EZB meint natürlich nie den Streß der Menschen.
Brüssel könnte die Energiepreise sofort deflationieren, wenn es wollte. Zwei einfache Schritte würden ausreichen: 1. Ausschluß von branchenfremden Händlern von den Terminmärkten; 2. Trennung von Geschäftsbanken und Investmentbanken. Das würde allerdings einen gewissen Streß für die Milliardäre von Davos bedeuten.
Am 23. März mußte die Deutsche Bahn (DB) fast den gesamten Schienengüterverkehr für mehrere Stunden einstellen, weil die Stromversorgung – das Unternehmen hat eigene Kraftwerke – so eingebrochen war, daß keine Kapazitäten für den Betrieb von Nicht-Personenzügen zur Verfügung standen. Die Logistikunternehmen, die den Güterverkehr auf der Schiene abwickeln, waren nicht vorgewarnt, und ihr Verband fordert eine Untersuchung des Vorfalls, da der Güterverkehr für die Industrienation und die Versorgung der Bevölkerung „systemrelevant“ sei, wie der Geschäftsführer des Netzwerks Europäischer Eisenbahnen (NEE), Peter Westenberger, betonte.
Der Beinahe-Stromausfall, der offenbar durch fehlende Einspeisung aus Solar- und Windkraftanlagen verursacht wurde, sollte ein Weckruf sein, daß die grünen Träume der Bundesregierung zu Energieverknappung auf breiter Front führen werden. In der Tat hat die für die Energieversorgung zuständige DB Energie viel in „grüne“ Energiequellen investiert, in der Illusion, der Schienenverkehr auf der Grundlage „erneuerbarer“ Energien hätte eine Zukunft.
Es gab und gibt viele Warnungen von Experten, daß diese Strategie direkt in die Katastrophe führt, aber die Regierungen haben nicht auf sie gehört. Die Bundesnetzagentur spricht bereits mit Vertretern der Industrie und der Energiewirtschaft über Krisenpläne für den Fall einer Gasversorgungskrise, u.a. über mögliche unvermeidbare Abschaltungen von Industrieanlagen.
Die Aussicht auf eine Energierationierung, verstärkt durch die Gefahr eines vollständigen Ausfalls des russischen Erdgases, läßt Befürworter der Kernenergie mit Forderungen nach einem Stopp oder sogar einer Umkehr der Ausstiegsstrategie der Regierung an die Öffentlichkeit treten. Am Tag nach der DB-Katastrophe bot die Bildzeitung eine Plattform für solche Forderungen und schrieb: „Nach Frankreich, Niederlande und Belgien wollen auch die Briten mehr AKW-Strom produzieren. Konkret plant Premier Boris Johnson den Bau von sechs neuen Meilern! Begründung: unabhängiger vom Erdgas werden! Und Deutschland? Schaltet Ende 2022 seine letzten drei Meiler ab!“
Laut der deutschen Boulevardzeitung hat der Branchenverband KernD (ehemals Deutsches Atomforum) der Regierung bereits angeboten, diese drei Kraftwerke weiter zu betreiben. Prof. Jörg Starflinger von der Universität Stuttgart wird zitiert, diese Anlagen seien „gut in Schuß, könnten problemlos noch mehrere Jahre weiterbetrieben werden“.
Innerhalb der CDU fordert die Mittelstandsvereinigung (MIT), die drei Ende 2021 abgeschalteten Reaktoren wieder ans Netz zu bringen und die Laufzeiten der drei aktiven Reaktoren um bis zu zehn Jahre zu verlängern. Ministerpräsident Markus Söder aus Bayern, wo einer der drei verbliebenen Reaktoren steht, sagte gegenüber Bild: „Deutschland darf nicht unüberlegt abschalten. Ohne Atomstrom wird es kalt und teuer im nächsten Winter. Als Brücke braucht es die Kernenergie noch für mindestens drei Jahre.“
Der deutsche Industrie- und Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne) hat Voralarm nach dem nationalen Notfallplan zur Gasversorgung ausgelöst. Dieser Plan sieht drei Stufen vor: Voralarm, Alarm und Notfall. Auf der ersten Stufe wird eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die die Situation beobachtet und beschließen kann, einigen Endverbrauchern die Energieversorgung zu entziehen. Dazu muß jedoch die dritte Stufe (Notfall) erreicht werden. In diesem Fall sollen die Haushalte weiterhin mit Gas beliefert werden, aber einige Großkunden aus der Industrie würden kein oder nur eine reduzierte Menge erhalten.