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Neue Solidarität
Nr. 30, 29. Juli 2021

Wird der Afghanistan-Abzug der NATO
zum Wendepunkt in der Geschichte Eurasiens?

Von Alexander Hartmann

Wenn menschliche Gesellschaften in eine System- oder Zusammenbruchskrise geraten, produzieren sie Momente, in denen sie gleichzeitig zwei verschiedenen „Welten“ anzugehören scheinen – Welten, die sich gegenseitig widersprechen oder, genauer gesagt, inkommensurabel sind. Sie sind das, was Lyndon LaRouche häufig als „Singularitäten“ bezeichnete: einzigartige Momente des Übergangs zwischen zwei unvereinbaren Zuständen des Systems.

Der Fall der Berliner Mauer war ein solcher Moment in der jüngeren Geschichte. Ein anderer war der Beginn der Französischen Revolution, über die Friedrich Schiller schrieb: „Eine große Epoche hat das Jahrhundert geboren. Aber der große Moment findet ein kleines Geschlecht.“

Heute stellt Afghanistan genau eine solche Kombination von Chance und Gefahr dar, weshalb Helga Zepp-LaRouche betont: „Ich habe [den Abzug aus Afghanistan] mit dem Fall der Berliner Mauer und der deutschen Wiedervereinigung und dem Ende der Sowjetunion verglichen... In gewissem Sinne ist es vielleicht vom Ausmaß her etwas anderes, aber nicht von der wesentlichen Qualität her, denn das Ende des sowjetischen Systems war das Ende einer historischen Phase, das Ende eines Systems. Und der Abzug aus Afghanistan bedeutet auch das Ende eines Systems endloser Kriege.“

Die Alternativen, vor denen diese Region (und die Welt) jetzt stehe, seien entweder der völlige Abstieg in die Hölle der Drogen, des Terrorismus, einer unkontrollierten Pandemie und des wirtschaftlichen Zusammenbruchs, oder aber der Eintritt in ein neues Paradigma von Win-Win-Beziehungen mit der Belt and Road Initiative (BRI).

Sie zitierte den chinesischen Außenminister Wang Yi, es gebe jetzt die historische Chance, den gesamten eurasischen Kontinent infrastrukturell zu integrieren, sowie einen Appell des afghanischen Botschafters in China, Afghanistan sei der einzige Ort auf der Welt, an dem die Vereinigten Staaten und China zusammenarbeiten können.

Sie betonte: „Es kann eine Zusammenarbeit zwischen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, der Gürtel- und Straßen-Initiative (BRI), der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAEU) und der Europäischen Union geben, wenn sie das wollen. Aber das alles funktioniert nicht, wenn Afghanistan ständig im Bürgerkrieg, im sozialen Chaos versinkt. Die Entwicklung und Integration Afghanistans ist also im Interesse des afghanischen Volkes, sie ist im Interesse der Nachbarn, im Interesse des gesamten eurasischen Kontinents.“

Die entscheidende Frage laute: Werden die Vereinigten Staaten mit Rußland und China kooperieren? „Ich denke, wenn es im Kleinen, relativ gesehen, nämlich im Kontext von Zentralasien und Afghanistan, zu einer Zusammenarbeit zwischen den USA, Rußland und China kommen kann, dann kann das vielleicht ein Brückenschlag sein, bei dem ein ganz anderer Prozeß der Kooperation in Gang gesetzt wird. Und so kann die größere Konfrontation Schritt für Schritt zurückgenommen und durch Kooperation ersetzt werden, was ich für den einzigen Weg halte, wie die Menschheit in diesem jetzigen Stadium der Geschichte weiter überleben kann.“

Intensive Diplomatie

Tatsächlich gibt es bereits intensive Bestrebungen, eine Kooperation zur Stabilisierung und wirtschaftlichen Entwicklung Afghanistans in Gang zu bringen. Bei jüngsten Treffen und Konferenzen in Tadschikistan und Usbekistan stand die Stabilisierung Afghanistans nach dem Abzug der westlichen Truppen ganz oben auf der Tagesordnung. Eine wichtige Flanke ist dabei die Einbindung des Landes in zwei große internationale Vernetzungsprojekte: den China-Pakistan-Wirtschaftskorridor (CPEC) und den Internationalen Nord-Süd-Transportkorridor (INSTC) vom russischen St. Petersburg durch Zentralasien und den Iran bis nach Mumbai in Indien.

Zunächst trafen sich am 13.-14. Juli in Duschanbe in Tadschikistan die Außenminister der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) – China, Indien, Kasachstan, Kirgisistan, Rußland, Pakistan, Tadschikistan und Usbekistan –, wobei afghanische Vertreter am Treffen der SCO-Afghanistan-Kontaktgruppe teilnahmen. In der gemeinsamen Erklärung der Außenminister werden Afghanistans territoriale Einheit und der Respekt für alle seine Völker und Kulturen betont.

Die beiden Korridore wurden auf der großen Regionalkonferenz der usbekischen Regierung „Zentral- und Südasien: Regionale Konnektivität, Herausforderungen und Chancen“ in Taschkent am 15.-16. Juli direkter angesprochen. Teilnehmer waren u.a. der russische Außenminister Sergej Lawrow und seine Amtskollegen aus China und Indien, Wang Yi und S. Jaishankar, ebenso der afghanische Präsident Ashraf Ghani, die Staatschefs von Usbekistan und Pakistan, die Außenminister Indiens und der Türkei sowie diplomatische Vertreter der USA, Japans und der EU. Die Konferenz bot Gelegenheit für zahlreiche bilaterale Treffen.

Am Rande der Konferenz nahm Lawrow am 4. Treffen der Außenminister Rußlands und der fünf zentralasiatischen Republiken teil und hatte auch ein bilaterales Treffen mit seinem chinesischen Amtskollegen.

Pakistans Ministerpräsident Imran Khan nutzte die Gelegenheit zu einem Treffen mit dem usbekischen Präsidenten Shavkat Mirziyoyev, nach dem sie ihre Unterstützung für das Bahnprojekt Termes-Masar-i-Scharif-Kabul-Peschawar bekräftigten, das beide Länder via Afghanistan miteinander verbinden und in den China-Pakistan-Wirtschaftskorridor einbinden soll.

Interessanterweise unterzeichnete auch die US-Delegation eine gemeinsame Erklärung mit den fünf zentralasiatischen Staaten, in der sie dazu aufrufen, „nach Möglichkeiten zu suchen, die Konnektivität zwischen den zentral- und südasiatischen Regionen durch Handels-, Transport- und Energieverbindungen zu stärken“. Ferner forderten sie, es „Terroristen und dritten Kräften niemals zu erlauben, afghanisches Territorium zu nutzen“, um andere Länder zu bedrohen, und „die Zusammenarbeit mit Afghanistan in Sicherheit, Energie, Wirtschaft, Handel, Kultur und anderen Bereichen voranzutreiben...“ Gleichzeitig führt die US-Regierung in Doha Gespräche mit den Taliban.

Lawrow: Entwicklung Afghanistans eröffnet „neue Perspektiven“

Lawrow beschrieb in seiner Rede auf der Plenarsitzung dieser Konferenz den potentiell weltverändernden Wandel, der herbeigeführt werden kann, wenn sich die Nationen der Welt gemeinsam für die wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans und der zentralasiatischen Staaten einsetzen.

„Der repräsentative Charakter dieser Veranstaltung ist ein anschaulicher Beweis für die wachsende Nachfrage nach einer einigenden Agenda in Eurasien und dem Rest der Welt“, begann er, als er dem usbekischen Präsidenten Shavkat Mirziyoyev für die Organisation der Konferenz dankte. Den Aufbau der Konnektivität zwischen Zentral- und Südasien ordnete er in das größere Projekt der Entwicklung des riesigen Kontinents Eurasien als ein „nahtloses, vereintes logistisches“ Wirtschaftszentrum für Transport, Handel, Energie und Entwicklung ein.

Lawrow erklärte: „Rußland setzt sich konsequent für die Bildung der groß-eurasischen Partnerschaft ein, einer kongregativen Integrationskontur im gesamten Raum vom Atlantik bis zum Pazifik, die maximal frei ist für den Verkehr von Waren, Kapital, Arbeitskräften und Dienstleistungen, und ausnahmslos offen ist für alle Länder unseres gemeinsamen Kontinents – Eurasiens – und die dort geschaffenen Integrationsunionen, einschließlich der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAEU), der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) und des Verbandes Südostasiatischer Nationen (ASEAN)“ – alles Organisationen, die Interesse an dieser Initiative gezeigt haben. „Die Umsetzung dieses langfristigen Projekts wird es nicht nur ermöglichen, die wirtschaftliche Entwicklung aller Teilnehmer zu beschleunigen, sondern auch eine verläßliche materielle Grundlage der gemeinsamen Sicherheit, Stabilität und Prosperität zu schaffen.“

Er nannte insbesondere die Bemühungen um die Integration der EAEU-Pläne mit dem BRI-Projekt, dem Internationalen Nord-Süd-Verkehrskorridor, der Europa sowie den Südkaukasus und Zentralasien mit der Küste des Indischen Ozeans verbindet, sowie der transkontinentalen Verkehrsroute Europa-Westchina. „In diesem breiten Kontext eröffnet eine höhere Konnektivität zwischen Zentral- und Südasien neue Perspektiven für die Entwicklung von Handels-, Wirtschafts- und Investitionsprozessen auf dem eurasischen Kontinent...“

Dies sei jedoch ohne eine umfassende Beilegung des Afghanistan-Konflikts nicht möglich, und „nur direkte und inklusive innerafghanische Gespräche mit Unterstützung internationaler Partner können zu einem dauerhaften Frieden führen“. Lawrow nannte drei „bewährte Mechanismen“ als Schlüssel zur Mobilisierung dieser Unterstützung: die Kontaktgruppe zwischen der SCO und Afghanistan, das „Moskauer Format“ sowie die „erweiterte Troika“ (USA, Rußland, China und Pakistan). Rußland sei nicht an einem Chaos in Afghanistan interessiert, und „wir werden weiterhin mit den Amerikanern im erweiterten Troika-Format zusammenarbeiten, ebenso wie mit allen anderen Ländern, die die Situation in Afghanistan beeinflussen können“.

Die Kriegspartei eskaliert

Trotzdem hängt die Situation am seidenen Faden, denn insbesondere Großbritannien und dessen Handlanger im Militärisch-Industriellen Komplex in den USA und in den Massenmedien tun alles, um das Klima zwischen den Supermächten zu vergiften. Die Gefahr einer von Großbritannien geschürten Konfrontation zwischen den USA und Rußland eskaliert ebenso wie die Spannungen zwischen den USA und China, und zwar so sehr, daß das russische Außenministerium eine Vorstandssitzung unter dem Vorsitz von Lawrow abhielt. Es gab eine scharf formulierte Erklärung zum Verhältnis zu den USA heraus: „Die bilateralen Beziehungen haben sich durch die Schuld Washingtons, das in den letzten Jahren eine beispiellose Eskalation zwischen unseren Staaten provoziert hat, einer gefährlichen Konfrontationsschwelle genähert“ – ungeachtet des Potentials für einen strategischen Dialog, wie es der Gipfel der Präsidenten Biden und Putin am 16. Juni signalisierte.

Was also ist das Wesen von Momenten der Singularität wie dem heutigen, und wie sollen wir darauf reagieren? Der Ausgang solcher Übergangsmomente ist nicht vorherbestimmt, sondern unterliegt dem willentlichen Eingreifen des Menschen. Sorgen wir dafür, daß der große Moment nicht wieder nur ein kleines Geschlecht findet!

Das Schiller-Institut veranstaltet am 31. Juli eine internationale Online-Konferenz zu diesem Thema. (https://schillerinstitute.com/)