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Im Frühjahr 2020 wurden zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie in vielen Ländern Kontaktsperren verhängt. In der Folge geriet die gesamte Nahrungskette unter Druck, auch in Europa. Der Verbrauch ging zunächst zurück und traf die Verarbeiter und vor allem die Erzeuger, die plötzlich mit einer (relativen) „Überproduktion“ und in der Folge mit einem erheblichen Rückgang ihres Einkommens konfrontiert waren.
In Frankreich stoppte am 23. März mit der vorübergehenden Schließung der Lebensmittelmärkte auch die Verteilung vieler frischer Produkte, die Schließung von Restaurants und Catering-Einrichtungen in den meisten europäischen Ländern gefährdete einen weiteren wichtigen Absatzmarkt für die französische Produktion.
Daher kann die EU unter diesen dramatischen Umständen gemäß der von de Gaulle und Adenauer durchgesetzten Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EU in Notfällen zu dem historischen Mechanismus der GAP zurückkehren, der es der EU erlaubte, den Markt durch öffentliche Interventionen zu regulieren.
Eine dieser Maßnahmen wäre die Wiederherstellung der europäischen Nahrungsmittelvorräte, d.h. der Aufkauf von Nahrungsmittel-„Überschüssen“ zu einem garantierten Mindestpreis (Paritätspreis) von den Produzenten. Wenn die Marktpreise zu hoch werden, kann die EU einen Teil ihrer Bestände verkaufen, um die Preise zu drücken. Die Regulierung hilft gegen Preisausschläge in beide Richtungen – sowohl gegen den Kollaps der Preise aufgrund von Überangebot (z.B. durch das Wegfallen der Nachfrage im Gastronomiesektor aufgrund von COVID-19-Maßnahmen) als auch gegen Preisexplosionen aufgrund zu geringen Angebots (z.B. weil aufgrund des Ausfalls von Erntehelfern nicht geerntet werden konnte).
Es sei darauf hingewiesen, daß die Getreidebestände in der EU ohnehin extrem niedrig sind und nur 12% des Jahresverbrauchs ausmachen. Im Vergleich dazu sind alle anderen großen Länder vorsichtiger: Rußland (18%), Indien (23%), die USA (25%), während China, das bevölkerungsreichste Land, mit 75% seines Verbrauchs nach wie vor die größten Vorräte hält. Während die Öl- und Gasvorräte der EU 90 Verbrauchstagen entsprechen, betragen die Getreidevorräte nur 43 Tage!
Bisher ist die EU der Auffassung, daß sie „gegebenenfalls“ auf dem „Markt“ finden wird, was sie braucht – so wie bei den Schutzmasken für die COVID-19-Pandemie! Die Pandemie sollte uns jedoch gelehrt haben, daß der „Markt“ im Falle einer Krise verschwindet, da jeder sich darum bemüht, seine eigene nationale Nachfrage zu befriedigen.
Als Reaktion darauf drängen seit April französische Agrarproduzenten und Abgeordnete die EU-Kommission, Nahrungsmittelvorräte anzulegen, um fallende Preise und die Vernichtung bestimmter Nahrungsmittel zu vermeiden. Der französische sozialistische Europaabgeordnete Eric Andrieu fordert die Europäische Kommission in einer schriftlichen Anfrage auf:
„Einige landwirtschaftliche Produkte werden bald einen Überschuß aufweisen, weil sie nicht transportiert oder verkauft werden können. [...] Es ist dringend und unerläßlich, daß Europa die Einrichtung von Lebensmittelvorräten, wie in den europäischen Verordnungen vorgesehen, beschleunigt.“
Frankreichs größter Bauernverband, die FNSEA, forderte den französischen Landwirtschaftsminister auf, ihre Forderung nach der Schaffung von Lebensmittelvorräten auf EU-Ebene weiterzugeben. Der Minister forderte die EU zwar dazu auf, aber nur für Milch und Fleisch, und verlangte von der EU, eine private Lagerung zu genehmigen, die noch dazu von den Produzenten selbst bezahlt werden soll. „Die Instrumente sind vorhanden, die GMO [Gemeinsame Organisation der Märkte für landwirtschaftliche Produkte] bietet mehrere Mechanismen, die die Europäische Kommission im Falle von schwerwiegenden Marktungleichgewichten aktivieren kann. Dies trifft in der Tat auf die gegenwärtige Situation zu, die leider alle Kriterien erfüllt: Sie war weder vorhersehbar noch dem Agrarsektor immanent“, so die FNSEA in einer Pressemitteilung.
In einer schriftlichen Antwort auf die hauptsächlich französischen Anfragen hat der zuständige EU-Kommissar, Herr Wojciechowski, im Namen der Europäischen Kommission zwar Krokodilstränen und Almosen angeboten, eine solche Alternative jedoch klar abgelehnt: „Die Auswirkungen von COVID-19 auf die Agrarmärkte sind vielfältig. Auch wenn die EU-Lebensmittelversorgungsketten dank der Bemühungen aller Beteiligten insgesamt weiterhin zufriedenstellend funktionieren, sind einige Sektoren stärker betroffen als andere. Eine der Hauptursachen für solche Schwierigkeiten ist in der Tat die Schließung von Lebensmitteldiensten und Restaurants. Dies hat bei einigen Agrar- und Lebensmittelprodukten zu einem Angebotsüberhang geführt. Die Beihilfen für die private Lagerhaltung sind in der Gemeinsamen Marktorganisation (GMO) (Verordnung (EU) Nr. 1308/2013) genau vorgesehen, um dieser Situation zu begegnen, in der Marktungleichgewichte wahrscheinlich nur vorübergehend auftreten werden. Aus diesem Grund hat die Kommission beschlossen, für einige Milch- und Fleischprodukte, d.h. für besonders betroffene Sektoren, für die eine Lagerung in Frage kommt, Beihilfen für die private Lagerhaltung zu gewähren. Darüber hinaus beschloß die Kommission ein breites Spektrum von Maßnahmen zur Unterstützung der Landwirte, um die unmittelbaren und kurzfristigen Auswirkungen von COVID-19 zu mildern (...).“
Während Landwirte in Konkurs gehen und eine weltweite Nahrungsmittelkrise droht, schaut die EU weg. Sie erklärt zwar, die „landwirtschaftliche Krisenreserve“ solle neu durchdacht werden, damit „ihr Potential im Vorfeld genutzt werden kann“, aber der Notfallplan der EU zur Gewährleistung der Ernährungssicherheit wird erst 2021 ausgearbeitet.
Wenn die EU sich weigert, sich an ihre eigenen Regeln zu halten, sollten die nationalen Regierungen bereit sein, einzugreifen, da ihr Überleben auf dem Spiel steht. Und Menschen, die wirklich Angst vor den Auswirkungen der kapriziösen Klimabedingungen auf die Nahrungsmittelversorgung der Menschheit haben, sollten die ersten sein, die eine solche Politik verteidigen. Bislang scheinen sie weder ehrlich noch besorgt zu sein.