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Neue Solidarität
Nr. 28, 9. Juli 2020

Die Grundlagen der philosophischen Beziehungen zwischen Ost und West

Von Dr. Jin Zhongxia

Dr. Jin Zhongxia, Exekutivdirektor des Weltwährungsfonds für China in Washington, hielt bei der Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 27. Juni den folgenden Vortrag. Die Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion hinzugefügt.

2020 ist ein Jahr mit ganz besonderen Herausforderungen: der Handelskrieg gegen China, der Ausbruch und die Ausbreitung des Coronavirus, die Unruhen in den USA, die Weltwirtschaftsrezession und eskalierende geopolitische Spannungen – ich nenne nur einige der wichtigsten. Der IWF prognostiziert für dieses Jahr ein globales Wachstum von minus 4,9 Prozent.

Einige meiner Bemerkungen und Kommentare in den folgenden Ausführungen sind Überlegungen in der Forschung und haben einen akademischen Charakter; ich spreche hier nur für mich selbst.

Den globalen Herausforderungen sollte auch global durch einen multilateralen Ansatz begegnet werden. Einige Leute sprechen von einer wirtschaftlichen Abkopplung, einem Kalten Krieg und sogar einem Kampf der Kulturen. Und da ich aus China komme, frage ich mich: Gibt es einen fundamentalen Konflikt zwischen den Zivilisationen im Osten und im Westen?

Parallelen zwischen China und dem Westen

Die chinesische Zivilisation ist in vielerlei Hinsicht einzigartig, sie unterscheidet sich aber nicht grundlegend von der westlichen Zivilisation. Im 6. Jahrhundert v. Chr. findet sich das chinesische Taiji- oder Yin-Yang-Konzept, das ist die Koevolution zweier gegensätzlicher Kräfte. Ich stellte überrascht fest, daß dies zur gleichen Zeit auch ein Kernbegriff der physiologischen Theorie in der griechischen Medizin war. Ein weiteres Beispiel: Ein Kernbegriff des Konfuzianismus ist der „Mittelweg-Ansatz“, der auch der „Lehre vom [goldenen] Mittelweg“ entspricht, die von Hippokrates, Platon und Aristoteles im antiken Griechenland ausgiebig erforscht wurde.

Im 16. Jahrhundert erkannte der brillante Jesuitenmissionar Matteo Ricci bei Konfuzius und Menzius die auffälligen Parallelen zum christlichen Konzept des Menschen nach dem Bilde Gottes und widmete sein Leben dem Aufbau einer ökumenischen Allianz zwischen China und dem Westen.

Im Zuge der zunehmenden Handelsspannungen zwischen den Vereinigten Staaten und China verteufeln einige Medien in den USA China als einen böswilligen Handelspartner, der systematisch illegal subventioniert, betrügt und stiehlt. Das erinnert mich an die überwältigende Stimmungsmache der Medien in Nazi-Deutschland gegen jüdische Menschen vor dem Zweiten Weltkrieg. Die Wahrheit ist, daß sich China nach mehr als 40 Jahren marktorientierter Reformen und Öffnung bereits in eine Marktwirtschaft verwandelt hat, mit einigen verbleibenden Merkmalen einer Übergangswirtschaft. Tatsächlich ist der BIP-Anteil der staatlichen Mittel, die einige europäische Regierungen einsetzen, aufgrund ihrer umfassenden Sozialleistungen größer als in China, aber niemand in Europa beschwert sich, daß diese Sozialleistungen den Markt verzerren.

Tatsächlich haben die Chinesen sowohl in der Theorie als auch in der Praxis eine tiefsitzende Tradition der Marktwirtschaft. Im 6. Jh. v. Chr. riet Laozi [Laotse], ein berühmter Philosoph und Begründer des Taoismus, den Machthabern, ohne Eingreifen zu regieren, was eine alte Version der „unsichtbaren Hand“ oder Laissez-Faire ist. Laozis Laissez-Faire-Philosophie hat sich von einer Generation zur nächsten in den Köpfen der Chinesen eingewurzelt.

Ein anderer berühmter Ökonom und Philosoph, Guanzi, schlug im 7. Jh. v. Chr. vor, daß die Regierung in den Jahren der wirtschaftlichen Depression die Ausgaben erhöhen könnte, um scheinbar verschwenderische Projekte zur Schaffung von Arbeitsplätzen umzusetzen. Das ist die alte chinesische Version der keynesianischen Wirtschaft. Auch in finanzieller Hinsicht war China hoch entwickelt, bereits im 11. Jahrhundert führte es die erste offizielle Papierwährung der Welt ein.

Chinas heutige Rolle

Zur Frage der wirtschaftlichen und technologischen Entkopplung: Der Versuch, einem bedeutenden Volk und einer bedeutenden Zivilisation den fairen Wettbewerb mit anderen Ländern und den Zugang zu neuen wissenschaftlichen und technologischen Erkenntnissen zu verwehren, ist moralisch falsch und wird China helfen, weltweit Sympathien zu gewinnen.

Andererseits verfügt China über das größte Reservoir an ausgebildeten Arbeitskräften, darunter Ingenieure, Rechtsanwälte, Finanzanalysten, Buchhalter und Forscher, die das Land in die Lage versetzen werden, innovativer, professioneller, praktischer und rationeller zu sein.

Im Vergleich zu anderen, länderübergreifenden Freihandelszonen ist China schon allein der größte Einzelhandelsmarkt eines einzelnen Landes oder eine riesige Freihandelszone mit einem landesweiten, hoch integrierten Infrastrukturnetz, einer zentralisierten Steuer- und Währungspolitik und einem breiten und liquiden Arbeits- und Kapitalmarkt geworden. Zudem haben die Behörden beschlossen, ihren Markt noch weiter zu öffnen, den Schutz des geistigen Eigentums erheblich zu verbessern und Strukturreformen durchzuführen, einschließlich der Einführung der Wettbewerbsneutralität für staatliche Unternehmen. Letztendlich ist es die Effektivität und Effizienz der inländischen Ressourcenallokation Chinas, die über die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Landes entscheiden wird.

Ich bin kein Experte für Geopolitik. Aber ich habe gelernt, daß das Szenario, das mit der Entkopplung und einem neuen Kalten Krieg verbunden ist, auf einer alten Strategie des „Teile und herrsche“ oder des „Offshore-Gleichgewichts“ beruht. Es ist aus der Perspektive der Offshore-Akteure sehr klug und wird dem Offshore-Manipulator auf Kosten der Onshore-Nachbarn zugute kommen. Ich frage mich jedoch, ob die ebenso klugen Onshore-Spieler darauf hereinfallen werden und welchen Preis der Offshore-Player zu zahlen bereit ist, um so viele andere Länder zu überzeugen, sich in einen langen Konflikt mit ihrem wichtigsten Handelspartner zu stürzen.

Objektiv betrachtet darf man den Konflikt Chinas mit Indien an der Grenze nicht überbewerten. Es ist wichtig zu erkennen, daß die gegenwärtige Grenze ein weitgehend stabiles Gleichgewicht darstellt. Das gemeinsame Interesse dieser beiden alten Zivilisationen besteht darin, zusammenzuarbeiten und ihre Wirtschaft zu entwickeln und eine gemeinsame historische Erneuerung zu erreichen. Die beiden Länder sollten von ihrem gemeinsamen kulturellen Erbe profitieren, das auf einem jahrhundertelangen friedlichen und freundschaftlichen Kulturaustausch beruht, insbesondere auf dem Austausch in Form des Buddhismus.

Der Geschichtsstreit zwischen China und Japan erscheint oft sehr festgefahren, aber das Wesentliche ist, in die Zukunft zu schauen. China ist zunehmend selbstbewußter geworden, und es ist sehr klar, daß Chinas Wiederaufstieg keine Rache bedeutet. Wenn Chinesen die Geschichte des chinesisch-japanischen Krieges lesen, empfinden sie großen Schmerz und Zorn. Aber wenn die neuen Generationen Japan als Touristen besuchen, haben die meisten von ihnen das Gefühl, daß sie Japan und die Japaner mögen. Japan ist Chinas einziges Nachbarland, das viele chinesische Schriftzeichen in seiner Schriftsprache bewahrt hat, und sie teilen auch die gleiche Tradition bei der Verwendung von Eßstäbchen und dem Verzehr von Reis und Sojasauce, die das typische Symbol der ostasiatischen Kultur ist.

Eine gesunde und stabile chinesisch-russische Beziehung kann viel nachhaltiger sein, als es sich viele Menschen vorstellen. Dies ist weitgehend auf die Weisheit der Staatsführer der beiden Länder im letzten Jahrhundert zurückzuführen, ihre gemeinsame Grenze festzulegen. Mit gegenseitigem Respekt und Unterstützung der Kerninteressen des jeweils anderen können sie viel erreichen.

Der schwerste Verlust, den die Vereinigten Staaten durch eine Abkoppelung und einen neuen Kalten Krieg erleiden werden, ist der, daß viele der 1,4 Milliarden Chinesen, die Amerika sonst sehr freundlich gesinnt sind, zu Gegnern der Amerikaner werden könnten. Im Gegensatz dazu wird ein freundliches und kooperatives China mit Sicherheit das größte Glück der Amerikaner in Asien sein.

Konstruktiver Wettbewerb und Kooperation

Meiner Überzeugung nach wäre konstruktiver Wettbewerb und Kooperation zwischen China, den Vereinigten Staaten und anderen Ländern im Rahmen eines regelbasierten multilateralen Systems die richtige Wahl. Glücklicherweise funktioniert der Weltwährungsfonds (IWF) noch immer normal und spielt eine konstruktive Führungsrolle, die auch von der Weltbank und anderen multilateralen Entwicklungsbanken (MDBs) unterstützt wird.

Innerhalb weniger Monate hat der IWF mehr als 27 Ländern einen Schuldenerlaß gewährt, der durch Beiträge einer Gruppe besser ausgestatteter Mitglieder, darunter auch China, gefördert wird. Der Fonds hat seine Kreditvergabe an Länder mit geringen Einkommen um mehr als 10 Mrd. SZR (Sonderziehungsrechte) aufgestockt und durch RCF (Rapid Credit Facility, Sofortfinanzierungsfazilität) und RFI (Rapid Financing Instrument, Schnellfinanzierungsinstrument) Soforthilfen in Höhe von 47 Mrd. SZR für mehr als 74 Länder genehmigt. Er hat eine neue kurzfristige Liquiditätslinie (SLL) geschaffen, drängt auf die Genehmigung neuer Kreditlinien in Höhe von 365 Mrd. SZR und bereitet eine neue Runde bilateraler Kreditvereinbarungen in Höhe von 138 Mrd. SZR vor. China beteiligt sich aktiv an allen diesen Bemühungen und leistet seinen eigenen Beitrag.

Der Fonds und die Weltbank schlugen gemeinsam eine Initiative zur Aussetzung der Schuldendienste (Debt Service Suspension Initiative, DSSI) vor, und dies wurde von der G20 gebilligt. China hat ferner eine Verlängerung dieser Initiative bis 2021 gefordert. Eine faire Verteilung der Belastungen und volle Beteiligung aller Gläubiger ist entscheidend für eine erfolgreiche Umsetzung dieser Initiative.

China unternimmt noch weitere Bemühungen außerhalb des multilateralen Rahmens, darunter:

Ein Verdienst der multilateralen Hilfe besteht darin, daß sie regelbasiert ist, vom Vorstand genehmigt wird und die Empfängerländer der multilateralen Institution gegenüberstehen, anstatt einem bestimmten Land oder einer bestimmten Ländergruppe, weshalb sie die geopolitische Sensibilität wenn auch nicht ganz beseitigen, so doch verringern kann. Obwohl es zu vielen verschiedenen Fragen unterschiedliche Ansichten und sogar bilaterale Spannungen zwischen einigen Mitgliedsländern gibt, konnten die wichtigsten Mitglieder des Fonds eine gemeinsame Basis finden.

Die Bretton-Woods-Institutionen könnten meiner Meinung nach noch zwei weitere Dinge tun:

Abschließend wünsche ich uns nach COVID-19 eine kooperativere und friedlichere Welt. Ich danke Ihnen.