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Neue Solidarität
Nr. 23, 4. Juni 2020

Die Notwendigkeit der Klassischen Kunst oder
„Woher kommt es, daß wir noch Barbaren sind?“

Von Helga Zepp-LaRouche

Die Vorsitzende des Schiller-Instituts eröffnete am 26. April den zweiten Tag der Internetkonferenz mit dem folgenden Vortrag.

Angesichts des großen internationalen Publikums, das an dieser Konferenz teilnimmt, sollte ich vielleicht ein paar Worte dazu sagen, warum das Schiller-Institut nach dem großen deutschen Dichter der Freiheit benannt ist. Der Hauptgrund liegt in seinem wunderbaren Menschenbild, das mit der Idee verbunden ist, daß sich jeder Mensch prinzipiell zu einer schönen Seele entwickeln kann, laut Schiller einem Menschen, für den Freiheit und Notwendigkeit, Pflicht und Leidenschaft in eins fallen – ein Zustand, der nur auf das Genie zutrifft. Und das Schiller-Institut stimmt auch absolut mit Schiller überein, daß der Weg, wie dieses Ziel zu erreichen sei, in der ästhetischen Erziehung liegt, die in dem Moment erfolgreich ist, wenn sie als Zweck verfolgt wird.

Ich verdanke es meinen Deutschlehrern, daß sie in mir die Begeisterung für Schillers Begriff der schönen Seele, sein Konzept des Erhabenen und sein hohes Ideal der Kunst geweckt haben, und damit Gedanken, die mir ganz persönlich immer wieder einen Schlüssel zu innerer Kraft und der Selbständigkeit des Denkens gegeben haben. Ich betrachte es als eine glückliche Fügung, daß ich in der Erziehung zuerst das Ideal schöner Menschlichkeit kennengelernt habe, und mich erst danach – gewappnet durch diese Vision, was der Mensch sein kann – mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigt habe.

Mein verstorbener Ehemann Lyndon LaRouche und ich teilten die Überzeugung, daß die moralische Überlebensfähigkeit der Menschheit von ihrem Vermögen abhängt, sich in ihrem Denken zu einer Ebene zu entwickeln, die derjenigen der klassischen Kunst entspricht. Ich habe diese Überzeugung in vielen Vorträgen und Reden oft geäußert, und hatte oftmals den Eindruck, daß die meisten Menschen dies für eine mehr oder weniger ausgefallene Meinung meinerseits hielten. In den letzten Wochen jedoch erhielt diese Sichtweise eine Bestätigung aus einer ganz, ganz praktischen Perspektive. Nicht wenige Leute reagierten auf die von einigen Staaten wegen der Coronavirus- Pandemie verordneten Ausgangs- oder Kontaktsperren mit dem gesteigerten Ausleben ihrer hedonistischen Impulse, mit „Fluchten“ an den Strand oder in die Berge, und junge Leute feierten sogenannte „Corona-Parties“ oder sehnen sich nach der Wiedereröffnung von Clubs und Tatoo-Läden, vollkommen gleichgültig gegenüber den Auswirkungen, die solches Verhalten auf den Gesamtverlauf der Pandemie und das Leben vieler anderer Menschen haben kann.

Friedrich Schiller hatte wie viele seiner Zeitgenossen die Anfangsphase der Französischen Revolution in der Hoffnung verfolgt, daß sie den Geist der Amerikanischen Revolution nach Europa bringen würde, er wurde 1792 sogar von der französischen Nationalversammlung mit der französischen Ehrenbürgerschaft ausgestattet. Nachdem der Jakobinerterror jedoch das Ruder übernommen hatte, wandte er sich mit Entsetzen ab. In den Ästhetischen Briefen, in denen er als Antwort auf die Entwicklungen in Frankreich das Konzept der ästhetischen Erziehung weiterentwickelte, stellte er die Frage: „Woher kommt es, daß wir noch Barbaren sind?“, und im fünften dieser Briefe beschreibt er den Zustand seiner Zeitgenossen, den er im Spiegelbild der heutigen Gegenwart noch übertroffen finden würde:

Schiller beantwortet dieses Dilemma mit der These, daß jede Verbesserung im Politischen nur durch die ästhetische Erziehung – die Veredelung des Charakters des einzelnen – zustande kommen kann. Im neunten Brief definiert er die schöne Kunst als den Bereich, der den Menschen zu den neuen Räumen des Denken und Fühlens führen kann, die ihn über Barbarei und Erschlaffung erheben.

Wie Konfuzius war Schiller der Auffassung, daß man die Menschen in ihrer Muße, wenn sie von den Bürden des Alltags befreit sind, spielerisch auf die höhere Ebene der schönen Künste heben müsse, daß sie in dem Augenblick, in dem sie sich auf die Kreativität des Komponisten, des Malers, des Dichters einlassen, die Domäne ihrer gewöhnlichen Begehren verlassen und zumindest in dem Augenblick der Versenkung in das Kunstwerk an etwas Größerem teilnehmen, was die Ebene der Sinnlichkeit überschreitet. Deshalb bestand Schiller darauf, daß Kunst nur dann diesen Namen verdiene, wenn sie schön sei, weil nur die Schönheit, als ein Begriff der sowohl der Vernunft entspricht als auch die Sinnlichkeit anspricht, den Geist mit den Emotionen versöhnen, also die Emotionen auf die Ebene der Vernunft empor entwickeln könne.

Schiller vertrat diese Ansicht schon in einer seiner frühen Schriften, der Theosophie des Julius, wo er sagt:

Wir werden selber das empfundene Objekt – in dieser Einsicht lag auch Platons Warnung, daß Kinder auf keinen Fall die Tragödien der großen Dichter der griechischen Antike anschauen dürften, weil ihr kindlicher Geist nicht gewappnet sei für die dort zutage kommenden Themen, wie Nemesis, Rache und Verhängnis. Schiller bestand sogar darauf, daß der Künstler sich zum höchsten Ideal der Menschheit veredeln müsse, ehe er es wagen dürfe, sein Publikum zu rühren – so sehr war er sich der tiefgehenden Wirkung der Kunst bewußt, im Guten, wie im Schlechten. Wilhelm von Humboldt schrieb nach Schillers Tod in seinem Aufsatz Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung:

Haben wir in der Gegenwart diese Empfänglichkeit für diese Dimension der menschlichen Identität verloren – jene Instanz, in der das individuelle Leben des einzelnen an die höheren Ziele der Menschheit geknüpft ist? Ist es so, daß die komplexen transzendenten Kreationen klassischer Kunst, die ebendies bewerkstelligt, zu einem vergangenen Reich Orplid gehören, und die Gegenwart den Zuschauersportarten und Schönheitssalons gehört?

Vielleicht gibt es jedoch eine hoffnungsvollere Aussicht. Während der Corona- Ausgangssperren ergaben sich an vielen Orten der Welt spontane Manifestation eines tieferen Bedürfnisses nach klassischer Kunst. Menschen in Italien, Frankreich, Deutschland und anderen Ländern begannen spontan, von ihren Balkonen Verdi und Beethoven zu singen oder auf ihrem Instrument zu spielen. Und vielleicht setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, daß nach dieser Pandemie, die uns ohne Zweifel noch eine Weile begleiten wird, nichts mehr so sein wird wie vorher. Auf jeden Fall wird sie uns eine Gesinnung abverlangen, die sich am klarsten bei Schillers Begriff des Erhabenen finden läßt, die, wie Schiller sagt, zwar nicht unsere schwache physische Existenz schützt, wohl aber uns moralisch sicher machen kann.

Nutzen wir also diese Zeit voller beispielloser Herausforderungen, um uns tiefer als je zuvor mit den Werken der besten klassischen Kunst zu beschäftigen, und durch den Dialog zwischen den größten Kompositionen aller Kulturen dieser Welt die Basis für eine neue Renaissance der Klassik zu schaffen, die die Essenz des neuen Paradigma ist, das dieser Krise folgen muß. Denn es ist wahr, was Schiller in der Einführung zur Braut von Messina sagt: