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Von Martin Kaiser
– zweiter und letzter Teil -
Im ersten Teil dieses Artikels (Neue Solidarität 17/2020) lernten wir Platon im Widerstand gegen den Zerfall der griechischen Hochkultur kennen. Sie wurde von Solon von Athen (640- 560 v. Chr.) begründet, der Athen eine demokratische Verfassung gab und so eine Blütephase auslöste, die bedeutende Tragödiendichter wie Aischylos und Euripides, die Architekten und Bildhauer der großartigen Monumente und Skulpturen, Astronomen und Naturforscher hervorbrachte.
Diese völlig neue Kultur, die die Grundlage für die westliche Zivilisation legte, stand im schroffen Gegensatz zu den vorhergehenden dunklen Epochen und der Barbarei des riesigen persischen Empires, das unentwegt versuchte, die griechischen Stadtstaaten zu erobern. Platon hob sie auf eine höhere Stufe, indem er die Erkenntnis der gesetzmäßigen Bewegungen der Gestirne und ihre harmonischen Ordnungen zu einer Säule seiner Sittenlehre, Philosophie, Staatsidee und naturwissenschaftlichen Forschungen machte. Für ihn erzeugte die menschliche Kreativität auf der Suche nach der Idee des Guten all diese zivilisatorischen Errungenschaften, und er verstand sie als Wirkung einer einheitlichen Ursache. Er sah den Menschen als einen Teilhaber an der göttlichen Schöpfung.
Damit gelang ihm nichts weniger als ein umfassender, systematischer Gegenentwurf, ein neues Paradigma für die Menschheit gegen die Feudaloligarchie und Imperien aller Zeiten. Denn die stützen ihre Macht auf unterdrückte und tierähnlich lebende Menschen und bekämpfen Platons prometheisches Feuer bis auf den heutigen Tag.
Das barbarische persische Reich hatte 22 Jahre lang erfolglos versucht, die Griechen militärisch zu unterwerfen, um anschließend den Kampf auf zwei Ebenen fortzusetzen: Erstens förderte es gemeinsam mit der Feudaloligarchie und den religiösen Kulten Griechenlands einen Bruderkrieg unter den Griechen, den Peloponnesischen Krieg, der 404 v. Chr. mit dem Untergang Athens endete. Zweitens begünstigte es die nihilistische Strömung der Sophisten, die die Elite Athens ausbildete, aber alle moralischen Werte oder die Erkennbarkeit von Wissenschaft und Wahrheit leugnete.
Dem widersetzten sich nach der Unterwerfung Athens durch Sparta Sokrates und sein Meisterschüler Platon.
Aus einem hohen Geschlecht Athens stammend, das sich bis auf die Gründerväter zurückverfolgen ließ, standen Platon die Türen zur Macht offen. Seit der Eroberung Athens 404 v. Chr. durch das barbarischen Sparta wechselten die Regierungen von Oligarchie zu Demokratie und Tyrannei, wie es der Besatzungsmacht und Persien gefiel.
Nahe Verwandte gelangten in hohe Staatsämter und luden den damals Anfang 20jährigen Platon ein, in die Regierung zu kommen. Mit Schrecken erlebte er aber, daß die von ihm bevorzugten Demokraten viel Unrecht an ihren gestürzten Feinden begingen und daß, wie üblich bei einem Machtwechsel, eine Welle von Morden gegen die Verlierer folgte. Auch seinen Lehrer Sokrates versuchte die demokratische Regierung zu Verbrechen anzustiften, und wenn er sich nicht beteiligte, würde er selbst hingerichtet. Sokrates aber blieb standhaft und ließ sich nicht erpressen. Angewidert schlug Platon die Einladungen aus, in die Politik zu gehen, und folgte Sokrates, dem gerechtesten Mann Athens.
Dieser unternahm es in seinen Gesprächen auf dem Markt oder bei Treffen in Privathäusern, die verbreitete Unterstützung für die Ungerechtigkeit herauszufordern. Stets hörte er: „Gerechtigkeit ist nichts anderes als der Vorteil des Stärkeren.“ In jeder Geschäftsbeziehung sei der Gerechte niemals im Vorteil vor dem Ungerechten, sondern im Nachteil. Selbst bei der Einkommenssteuer zahle der Gerechte vom gleichen Vermögen mehr, habe beim Einkommen aber das Nachsehen und der Ungerechte habe volle Taschen.
Die beschlagenen Sophisten behaupteten sogar, man müsse die vollkommenste Ungerechtigkeit bewundern, die den Frevler zum glücklichsten Menschen mache. Das Vorbild sei die Tyrannenherrschaft, die es in mehreren Stadtstaaten gab. Diese wurde den Volksmassen zwar als frevelhaft, aber doch glücklich angepriesen. Denn was den kleinen Verbrechern als Tempelraub, Einbruch oder Diebstahl angelastet werde, das werde an den größten Verbrechern, den Tyrannen, als Glück oder Tugend gepriesen, da diese die Bürger selbst zu ihrem Eigentum gemacht hätten. Wenn Ungerechtigkeit nur im Großen verübt würde, sei sie viel kraftvoller und herrenmäßiger als die Gerechtigkeit. Überhaupt sei es besser, Unrecht zu tun, als es zu erleiden. (Der Staat, 343-344)1
Platons Sokrates und seine Schüler gerieten auch mit einem frivolen Weltmann und Sophisten aneinander, der als Demagoge in den Volksversammlungen einflußreich war. Er lehnte alle Sittlichkeit ab, und Selbstbeherrschung war in seinen Augen Unnatur. Nur die uneingeschränkte Befriedigung aller Gelüste sei die eigentliche Tugend und Glückseligkeit. „Laßt nur den rechten Mann entstehen“, sagte er, „eine wirkliche Kraftnatur, der zerreißt die Fesseln und macht sich frei, tritt all unsere Paragraphen und widernatürlichen Gesetze mit Füßen... Da leuchtet das Recht der Natur aufs Hellste hervor.“ (Gorgias, 483-484)
Welch eine prophetische Voraussicht auf das Europa des 20. Jahrhunderts und unsere Gegenwart!
Platons Sokrates hielt ihm entgegen: „Du sagst, ich wäre wie die Ehrlosen jedem Angreifer preisgegeben, sei es nun, daß er mir einen Backenstreich gäbe, das Vermögen raubte oder mich aus der Stadt verbannen oder – das Äußerste – mich töten wolle. Und solches über sich ergehen zu lassen, ist doch der größte Schimpf, wie du sagst.
Ich aber sage: Ungerechterweise einen Backenstreich zu erhalten, ist nicht der größte Schimpf, auch nicht einem Mordgesellen in die Hände zu fallen. Denn jeden Frevel an mir oder den Meinigen zu verüben, ist für den Frevler schlimmer als für mich.“ (Gorgias, 507)
„Ich allein oder mit wenigen Athenern befleißige mich, dem Staat wahrhaft zu dienen, da ich bei meinen Unterredungen niemals jemandem nach dem Mund rede, sondern immer in Hinblick auf das wahre Beste... Denn sterben an sich fürchtet niemand oder er müßte keine Spur von Verstand und Mannhaftigkeit in sich haben. Aber das Unrechttun fürchtet er; denn daß die Seele übervoll von Frevel in den Hades [die Unterwelt der Toten] kommt, das ist das größte Übel.“
Platons Sokrates war der Überzeugung, daß die Unfähigkeit, die Bürgerschaft zu verbessern, an den unfähigen oder unmoralischen Staatsführern lag. Ohne Furcht griff er den in unserer Geschichtsschreibung hoch geachteten Perikles an, er habe die Athener feige, geschwätzig und geldsüchtig gemacht. Ähnlich beurteilte er berühmte Führer wie Themistokles, Miltiades oder Kimon, die dem Volk nach dem Maul geredet und Schmausereien bereitet hätten, je nach dem, wonach ihnen der Sinn gestanden hätte. (Gorgias, 516-522)
Platon mußte erleben, wie diese Kreise versuchten, Sokrates zu beseitigen. Dieser wurde 399 v. Chr. mit 70 Jahren wegen Gotteslästerung, also der Mißachtung der religiösen Kulte und Verführung der Jugend angeklagt.
Nach dem militärischen und staatlichen Untergang Athens 404 v. Chr. erreichte Athen seinen moralischen Tiefstpunkt, den weisesten Mann mit dem Tode zu bedrohen.
In seiner Verteidigungsrede berief sich Sokrates auf den Orakelspruch einer hohen religiösen Autorität, dem Orakel von Delphi, niemand sei weiser als er. Das habe er nicht glauben können und sei zu Gelehrten, Staatsführern und anderen gegangen, um zu sehen, ob sie nicht weiser seien als er. Er sagte zu ihnen: „Wie mein Bester, ein Athener, Bürger der größten und durch Geistesbildung und Macht hervorragendsten Stadt, schämst du dich nicht für die Füllung deines Geldbeutels zu sorgen, auf Ruhm und Ehre zu sinnen, aber um Wahrheit und Verbesserung deiner Seele kümmerst du dich nicht?“
Viele von diesen glaubten oft weise zu sein, waren es aber nicht und in diesem kleinen Punkte stimme er dem Orakel zu, daß er weiser sei, da er nicht glaube weise zu sein. „Besteht ja doch meine ganze Tätigkeit darin, Euch Athener zu mahnen, weder das körperliche Wohl noch die Sorge für Hab und Gut höher zu stellen, als das Wohl der Seele und ihre Besserung.“
Ein wacher Schöffe fragte ihn, warum er keinen normalen Beruf ausübe, statt sich durch Gespräche über Tugend und die Idee des Guten in Lebensgefahr (wörtlich) zu bringen. Er antwortete:
„Du irrst gewaltig, wenn Du meinst, ein Mann, der auch nur etwas auf sich hält, sollte ängstlich mit Leben und Tod rechnen. Stattdessen soll er bei seinem Handeln sehen, ob er gerecht oder ungerecht handle... Sprecht mich frei oder nicht, auf keinen Fall werde ich anders handeln, müßte ich noch sooft den Tod erleiden.“ (Apologie, 20-21, 30)
Platon wollte vor das Gericht treten, um Sokrates zu verteidigen, doch er wurde niedergeschrieen, wie es oft geschah. Denn es war üblich, durch starken Lärm, ja nach Tadel oder Lob sich zu äußern und beides in ganz übertriebener Weise mit Schreien und Klatschen, das in den Felsen zu einem Echo führte, daß der Lärm verdoppelt wurde.
Sollte mit Sokrates’ Tod die kulturelle Blüte Athens für immer der Barbarei Persiens weichen und das Beispiel einer humaneren Gesellschaft verschwinden? Schließlich war der Feind eine Jahrtausende alte Macht, das Prinzip des Imperiums, das sich schon vor Persien und dann über das römische Reich bis heute zum britischen Empire fortgesetzt hat. Alle Imperien gleichen sich darin, Menschen wie Vieh zu mißhandeln und zu schlachten, wozu ewige Kriege, die Feindschaft gegen Bildung des Volkes und wissenschaftlichen Fortschritt, ebenso gehören wie die Rechtlosigkeit und das aus dem Tierreich entlehnte „Recht des Stärkeren“.
Wie konnte da aber die Liebe des Sokrates zum Guten im Menschen, zu Tugend, Gerechtigkeit, Schönheit und dem nicht endenden Erforschen der Wahrheit zum Keim einer neuen Zivilisation werden?
Angesichts der zerfallenden Welt sah Platon nur einen Weg: Wenn Philosophen die Notwendigkeit erkennen, sich des Staates anzunehmen, und der Staat sich ihnen unterordnet, oder wenn die Herrscher gleichsam Gottes Hauch in sich spüren und von wahrer Liebe zur Weisheit, wahrer Philosophie im Sinne Platons, ergriffen werden. Die Herrscher müßten wahre Philosophen oder die wahren Philosophen Herrscher werden. Das Staatswesen, das sie zu regieren hätten, müsse ein Echo der harmonischen, vernünftigen Bewegungen der Gestirne sein, die die Astronomen seit langem studierten.
So solle auch der Staat organisiert werden, wie Platon im gleichnamigen Dialog ausführt. Dieser gibt uns den umfassendsten Einblick in sein Denken, seine Wissenschaftsmethode und sein Ideal eines gerechten Staates. Er enthält keine Rechtslehre, wie man erwarten würde, sondern sein Hauptthema ist die Erziehung der Staatsführer, die er Wächter nennt, zu der auch die tiefsten wissenschaftlichen Einblicke in menschliche Kreativität gehören. Die Erziehung zur Tugend sieht er als die eigentliche Aufgabe des Staates, denn Gerechtigkeit ist ihm die Verwirklichung der Tugend jedes Einzelnen, der seine eigene Gerechtigkeit umfassend nur in einem Staat verwirklichen kann, der diesen Grundsätzen folgt.
Zu Beginn der italienischen Renaissance wird der Platoniker Nikolaus von Kues, einer der Köpfe der neuen Blüte der Gesellschaft, dieses Konzept weiterentwickeln zu der Einsicht, daß die maximale Entwicklung des einzelnen Menschen zum maximalen Fortschritt des ganzen Staates führe.
Platon verbreitet und vertieft nicht nur das Lebenswerk des Sokrates, indem er Dialog nach Dialog gegen die Niedertracht des Zeitgeistes veröffentlicht, sondern in seiner Akademie werden solche Philosophenherrscher ausgebildet. Er suchte auch außerhalb Athens Gleichgesinnte an den Höfen oder in den Regierungen, die seiner Lehre von Tugend und Gerechtigkeit gegenüber aufgeschlossen waren. In Syrakus in Sizilien sieht er eine Möglichkeit, seine Ideen zu verwirklichen.
Auf seiner Reise durch Sizilien wird er auch vom Herrscher von Syrakus, Dionysos I., empfangen und steht etwa zwei Jahre mit ihm in Diskussion. Doch dieser will von seinem ausschweifenden Leben nicht zur Liebe zur Wahrheit wechseln, und als Platon nach Athen zurückkehren will, wird er unterwegs gefangen und in die Sklaverei verkauft. Erst als ein Freund ihn freikauft, kann er nach Athen zurückkehren.
Zwanzig Jahre später erwirkt sein Schüler Dion aus Syrakus eine Einladung des neuen Herrschers an Platon, da der frühere gestorben war. Auch dieser solle an Platons Plänen Interesse haben. Ungern folgt der 60jährige Platon dem Drängen seiner Freundes, gerät aber vor Ort in einen Machtkampf zwischen seinen Anhängern und dem eifersüchtigen und mißtrauischen Dionysos II. Platons Unterweisungen des Herrschers fallen nicht auf fruchtbaren Boden, und er reist ab.
Noch ein drittes Mal gibt er einige Jahre später dem Drängen seiner Anhänger in Syrakus nach, wohl auch um seinem Schüler Dion zu helfen. Als er nach vergeblicher Mission abreisen will, setzt der Herrscher ihn fest, und er kann nur durch das Eingreifen des Pythagoräers Archytas aus Tarent gerettet werden.
Nachdem Platon mehrmals sein Leben eingesetzt hatte, einen Herrscher von Gerechtigkeit und einer guten Staatsführung zu überzeugen, spürt man in seinem 7. Brief den Schmerz darüber, daß die beiden Tyrannen nicht nur ihrer eigenen Stadt geschadet, sondern auch die Gelegenheit für Griechenland und die Menschheit zerstört hätten, ein Beispiel zu setzen, Philosophie und Macht in einer Person zu vereinigen.
Platos Werk Der Staat legt ausführlich die charakterliche Erziehung der möglichen Philosophenherrscher dar, die solchen extremen Anforderungen Stand halten müssen. Sie sollen jeder Gewinnsucht entsagen und statt Engherzigkeit ihr Denken immer auf das Wohl des Volkes und des Ganzen richten. Habgier, Prahlerei und Feigheit dürfe bei ihnen nicht zu finden sein, und auch der Tod dürfe für sie nichts Schreckliches sein.
Platon warnt seine Anhänger aber auch vor Verfolgung, Verbannung oder Tod durch die Sophisten und vielerlei Verführung, wie etwa durch die Verwandtschaft, vom Weg der Tugend abzuweichen und die einträglichere Verführung des Volkes zu betreiben.
Wie würde aber jemand solch hohe Anforderungen erfüllen können?
Die angeborenen göttlichen Qualitäten würden ihn in ein unzerstörbares Reich leiten: Die Wahrheitsliebe eröffne „ein wohlgeordnetes Reich von Wesen, die weder Unrecht tun noch Unrecht voneinander leiden... Als dem Göttlichen und Makellosen nachhängend wird er selbst makellos und göttlich, soweit es dem Menschen möglich ist.“ (Der Staat, 500) Dazu treibe ihn eine Liebesbegeisterung für die Wahrheit mit den Kräften an, die mit dem Göttlichen in ihm verwandt seien.
Die wissenschaftlichen Arbeiten, die wir schon von Platons Akademie kennen lernten, würden den möglichen Philosophenherrscher ebenso große Anstrengungen im Lernen zumuten wie die Leibesübungen. Sonst könne er niemals den Gipfel der höchsten und unerläßlichsten Wissenschaft erreichen – die Idee des Guten. (Der Staat, 504)
Dieses Suchen nach der Idee des Guten, die über den Gesetzen der Bewegungen des Himmels steht, umfaßt gleichzeitig die Gerechtigkeit, die die Wächter oder Gesetzgeber verwirklichen sollen.
Der Leser wird im Staat nicht durch einen formalen Katalog von Gesetzen mit Verboten und Regeln gequält, wie er es vielleicht erwarten würde. Es gilt vielmehr, die harmonische und gute Weltordnung selbst zu erforschen und genauer zu verstehen, sodaß diese Entdeckeraufgabe auch das Rechtswesen betrifft, das nicht fix und fertig sein kann, sondern gemäß einer sich weiterentwickelnden Gesellschaft sich auch selbst weiterentwickeln muß. Dazu dienen die Prinzipien des Guten und Schönen als Leitschnur, sowie nur die verwirklichte Gerechtigkeit zum besten Staat werden kann, da sie alle Tugenden umfaßt.
Argumentieren die Sophisten, es sei besser, Unrecht zu tun und wie die Tyrannen die größten Vorteile an sich zu reißen, so zeigt sich das universelle Prinzip der Gerechtigkeit daran, daß sie allen zu gute kommt. Die Gerechtigkeit des Herrschers dient auch den Untertanen, und alle, die in ihren Genuß kommen, nehmen am Guten teil.
Gegen alle Logik und Alltagsregeln provoziert uns Sokrates in dem schon zitierten Dialog Gorgias damit, daß alles Unrecht gegen ihn – ihn zu schlagen, zu verbannen oder zu töten – den Feinden mehr schade als ihm. Er lebt vor, wie der tatkräftige Widerstand gegen Unrecht für jeden zum Weg werden kann, seine Unsterblichkeit zu erringen, an der göttlichen Idee des Guten teil zu haben, weil er so ein gerechteres Morgen für sich und künftige Generationen schaffen kann. Für die Zukunft, für die folgenden Generationen, für uns kämpft Platon; denn das ist das Vorrecht der Menschen vor allen anderen Lebewesen, nicht im Hier und Jetzt zu enden, sondern unvergängliche Gesetze, platonische Ideen aufzuspüren, durch die wir die Welt für die kommenden Generationen gestalten.
Diese erhabene Qualität, dem Unrecht auch unter Einsatz des Lebens entgegenzutreten, erfordert, daß eine einzigartige Qualität des Menschen geübt wird, die Sinne hinter sich zu lassen und zur Erkenntnis ewiger Ordnungen aufzusteigen.
Ähnlich kann es einem Entdecker ergehen, der eine weltbewegende Erfindung macht und vielleicht jahrhundertealte Vorurteile umstürzt, aber damit rechnen muß, die Feindschaft der „Altgläubigen“ auf sich zu ziehen und ggf. schweren Schaden zu erleiden.
Platon verfaßte eine einzigartige Parabel über das kreative Schaffen, das sogenannte „Höhlengleichnis“:
Man stelle sich Menschen vor, die in einer Höhle angekettet sind und den Blick nur auf eine Wand vor ihnen richten können. Dort sehen sie Schatten von Gegenständen und Menschen, die sich hinter ihnen auf einer hohen Mauer bewegen. Sie werden durch ein Feuer von hinten angeleuchtet, sodaß ihr Schatten auf die Wand vor den Gefangen fällt.
Sollte nun ein Gefangener losgebunden und aus der Höhle geführt werden, so wird ihn das Sonnenlicht zuerst sehr blenden. Doch dann wird er die reale Welt sehen, mit drei Dimensionen und in Farbe, und er würde sein Sehen in der Höhle als Schattenwelt erkennen. Er würde verstehen, daß die Sonne der Ursprung aller sichtbaren Erfahrung und allen Lebens ist. Wenn er dann zu seinen Mitgefangenen zurückkehrte und ihnen von seinem Erlebnis erzählte, würden sie ihn auslachen und kritisieren, daß er mit verdorbenen Augen wiedergekommen sei.
Wörtlich schreibt Platon: „Und wenn sie den, der etwa versuchte, sie selber zu entfesseln und hinaufzuführen, in die Hand bekämen, so würden sie ihn umbringen.“ (Der Staat, 514)
Ob er hierbei an das Todesurteil gegen Sokrates dachte?
In seinen eigenen Erläuterungen dazu schreibt Platon: „Die durch das Sehen erscheinende Welt ist die Wohnstätte der Gefesselten. Den Aufstieg nach oben aber und die Betrachtung der oberen Welt mußt du mit der Erhebung der Seele in das Reich des nur Denkbaren vergleichen. Hier zeigt sich zuletzt und schwer erkennbar die Idee des Guten... Sie ist für alle die Urheberin des Rechten und Guten, indem im Sichtbaren das Licht die Sonne erzeugt, im Denkbaren selbst als Herrscherin waltend uns zu Wahrheit und Vernunft verhilft. Diese Idee muß erkannt haben, wer einsichtig handeln will, sei es im persönlichen oder öffentlichen Angelegenheiten.“ (Der Staat, 517)
Welche Freiheit der Seele schenkt Platon hier seinen Lesern! Wer hätte vor ihm mit solcher Klarheit einen Weg aufgezeigt, aus der „Höhle“ herauszukommen? Erstmals in der Menschheitsgeschichte zeigt er, welch verschiedene Denkweisen in uns arbeiten, sodaß wir frei entscheiden können, wie wir denken. Können wir jetzt besser verstehen, welch eine Faszination er auf seine Schüler ausübte, sich von der Niedertracht der Sophisten abzuwenden?
Platons poetischer Geist schuf dazu auch die „Sonnenmetapher“, um diese anspruchsvollen Gedanken volkstümlicher zu machen. Er vergleicht die Bereiche des Sichtbaren und Denkbaren und beobachtet: Was die Sonne im Bereich des Sichtbaren für das Sehen und Gesehene sei, das sei die Idee des Guten im Bereich des Denkbaren für das Erkennen und das Gedachte:
„Das also, was den Dingen, welche erkannt werden, Wahrheit verleiht und dem Erkennenden die Kraft zum Erkennen gibt, ist – das sei mein Spruch – die Idee des Guten.“
„Auch mußt Du sagen, daß dem Erkennbaren nicht nur das Erkanntwerden zu Teil wird, sondern daß es auch sein Sein und Werden von ihm habe. Das Gute ist nicht das Sein, sondern ragt an Würde und Kraft noch über das Sein hinaus.“
Wenn die Seele fest gerichtet sei auf das Licht der Wahrheit, dann sei sie im Besitz der Vernunft. Wenn sie aber auf das mit Finsternis Gemischte, das Entstehende und Vergehende gerichtet sei, dann falle sie den bloßen Meinungen anheim, werde stumpfsinnig und mache den Eindruck, als sei sie ohne alle Vernunft. (Der Staat, 508-509)
Welche Angst mußte die Oligarchie befallen, daß Menschen Vergnügen daran empfinden, Haß, Lüge, Betrug und Unrecht hinter sich zu lassen! Denn diese Laster sahen schon die Sophisten, Aristoteles und der britische „Aufklärer“ John Locke als die Natur des Menschen. Sie behaupteten, daß der Geist eines Neugeborenen wie eine leere Wachstafel, eine Tabula rasa sei, auf die Empfindungen und Einflüsse der Umgebung den Charakter prägten. (Aristoteles, De Anima III, 4,429b)
Sie lehren, die materiellen Umstände oder Glaubensgebäude der Gesellschaft würden die Menschen prägen, während für Platon der Wille zum Guten die Qualitäten der Seelen verbessert. Für alle Zeiten warnte Sokrates die Materialisten, die die Ursache nur aus den Wechselwirkungen von Atomen ableiten, daß er nicht im Gefängnis sitze, weil seine Muskeln ihn dorthin gebracht hätten. Statt zu fliehen, sitze er im Gefängnis, weil es einen Menschen in Athen geben müsse, der bereit sei, sein Leben für die Idee der Gerechtigkeit einzusetzen. (Phaidon, 98)
Solchen Materialisten setzt Platon die „Kunst des Erfindens“ entgegen, durch die die menschliche Schöpferkraft diese universellen Ideen aufspürt.
Um zu entscheiden, wie man denkt, ist eine Unterscheidung der verschiedenen Seelenzustände und ihrer Folgen für die Einwirkung auf die Realität von großer Bedeutung.
Platon schuf nämlich erstmals eine klare Abgrenzung, wie drei bestimmte Seelenqualitäten nur bestimmte Wahrnehmungsbereiche erlauben:
So legt Platon es in unsere Hände, wie wir unsere Potentiale verwirklichen, ob wir Wurm oder Cherub werden wollen, wie es in der Ode an die Freude von F. Schiller heißt.
Für Anhänger der britischen Aufklärung und Aristoteliker wie Adam Smith, J. Bentham oder Immanuel Kant muß der Mensch Wurm sein, weil ihm die Erkenntnis ewiger Wahrheiten nicht gegeben sei. Nur die Sinne verschaffen ihm Wissen, weswegen Kant nach dem kategorischen Imperativ ruft, um die ungebändigten Gefühle in ein Korsett zu spannen.
Platon schenkte dagegen der Menschheit die Einsicht, auf welchem Weg wir aus dieser Höhle Kants zur möglichen Einsicht in die harmonische Schöpfungsordnung gelangen. Im 7. Brief, in dem er die Chancen und das Scheitern seiner Reisen nach Syrakus darlegt, nimmt er das Beispiel der Erkenntnis des Kreises, um diesen Weg darzulegen:
Dem sinnlichen Bereich gehören der ausgesprochene Name „Kreis“, und das Bild des Kreises an.
Dem Verstand kommt es dann zu, den Begriff zu definieren, als das, was allseitig von den Endpunkten bis zum Mittelpunkt die gleiche Entfernung hat.
Entscheidend ist nun die nächste Stufe, die nicht durch Sprache und Gebärden ausgedrückt werden kann, weil sie die vernünftige Einsicht jenseits der sinnlichen Erfahrung selbst ist. Denn in der Realität hätte jeder Kreis, der aus Holz gedrechselt oder aus Stein geschliffen wird, irgendwelche Stellen, die nicht rund sondern gerade wären. Nur in der vernünftigen Einsicht kann das Ideal eines vollkommen runden Kreises nicht sinnlich gebildet werden.
Hier läßt sich auch der Kreis von der geraden Linie abgrenzen und verstehen, daß er eine höhere Ordnung als die Linie ist. Das zeigt sich z.B. an einer besonderen Maßeinheit des Kreises wie die Zahl π, die für die Linien keinen Sinn macht und nur für den Kreis gilt.
Diese Einsicht habe nur in der erkennenden Seele ihren Sitz. Dadurch werde klar, daß sie grundsätzlich verschieden ist sowohl von der Definition des Kreises durch den Verstand, wie auch von den ersten genannten Schritten der Sinne, dem Namen und dem Bild.
Für Platon sind dies die notwendigen Vorbereitungen, um zur Idee des Kreises aufzusteigen. Die vernünftige Einsicht stehe der Idee des Kreises am nächsten, und ähnliches gelte von der Idee der Farbe, vom Guten, Schönen und Gerechten. Wer an diesen Dingen nicht irgendwie die genannten Abstufungen erfaßt habe, der werde niemals an der Erkenntnis der Idee in vollem Maße teilhaben, schreibt er.
Platon sieht in jedem Menschen ein Potential, so mit der Schöpfung in Wechselwirkung zu treten. „Dem Göttlichen in uns verwandte Bewegungen [oder Hypothesen] zeigen die Denktätigkeiten und Umläufe des Alls“, die allein unser menschlicher Geist entdeckt. „Ihnen muß jeder folgen und durch Erforschen der Harmonien des Alls unserem Denken seine richtige Gestalt geben“ (Timaios, 90)
Die einzigartige Fähigkeit des Menschen, die harmonischen Gesetze der Himmelsbewegungen zu entdecken, beweist die kreativen Kräfte in ihm, universelle Ordnungen auch auf der Erde zu erforschen, anzuwenden und seine Existenz dadurch dauerhaft zu sichern. Seine Schöpferkraft ist eine universelle physische Macht, wie das Prinzip der Wirkung der Erdanziehung, des Lebens oder des Magnetismus.
Der Kampf der Feudalaristokratie aber gegen alle Renaissanceperioden, die die Menschen aus ihren tierähnlichen Bedingungen zu befreien suchten, unterstreicht, daß sie nicht bereit ist, entwickelte Menschen zu dulden, ihr Gattungsmerkmal ist vielmehr, sie zu unterwerfen und zu vernichten.
Wir haben uns dennoch in den letzten Jahrtausenden aus dem gleichen Ideenschatz zu höheren Gesellschaftsordnungen entwickelt – trotz des allgemeinen Pessimismus heute, der dies abstreitet. Dies gibt uns den wissenschaftlichen Optimismus, neue und bessere Plattformen künftiger Zivilisationen schaffen zu können.
Lyndon LaRouche sah die Aufgabe des nächsten Sprungs der Menschheit darin, daß Wissenschaft und Kreativität im Bereich des nur Denkbaren und nicht mehr in Erfahrungswissenschaft, Mathematik und Computerverherrlichung angesiedelt sind.2
Je mehr die Menschheit ihr Selbstinteresse in der Entfaltung der Kreativität möglichst vieler Menschen – und nicht wie heute möglichst weniger – erkennt, kann die Feudalaristokratie überwunden werden, die heute die größte Bedrohung für das Überleben der Menschheit überhaupt ist.
Anmerkung
1. Die Zahlenangaben der Platontexte entsprechen der Stephanuszählung, die die meisten Platonausgaben angeben. Die Zitate stammen aus “Platon sämtliche Dialoge”, Felix Meiner Verlag.
2. Lyndon LaRouche, „Brain or Mind? A good old thought revived“, EIR 15.2.2013, S. 21.