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Von Helga Zepp-LaRouche
Ausnahmsweise hat die Washington Post einmal eine ehrliche journalistische Arbeit veröffentlicht: die sogenannten „Afghanistan Papers“, in denen auf rund 2000 Seiten unter dem Titel „At War with the Truth“ – „Im Krieg gegen die Wahrheit“ – aufgedeckt wird, daß der Krieg in Afghanistan von Anfang an ein vollständiges Desaster gewesen ist. Die ständigen Erklärungen amerikanischer Offizieller, man mache bei diesem Krieg Fortschritte, seien wissentlich gelogen gewesen. Damit wird die Analyse der BüSo, die diesen „Militäreinsatz“ von Anfang an abgelehnt hat, weil er auf falschen Prämissen aufgebaut war, voll und ganz bestätigt. Als einzig mögliche Konsequenz muß die Bundeswehr umgehend aus Afghanistan abgezogen werden.
Der hauptsächliche Autor dieser Papiere, Craig Whitlock, hat das Ergebnis seines dreijährigen Kampfes um die Freigabe von Dokumenten im Rahmen des Freedom of Information Act (FOIA) sowie die Aussagen von über 400 Insidern, die sich schonungslos über die absolute Inkompetenz äußern, mit der dieser Krieg geführt wurde, endlich an die Öffentlichkeit gebracht. Der hier aufgedeckte Sumpf an konsistenten Lügen, mit denen beinah zwei Jahrzehnte an Krieg begründet wurden, der laut Zahlen des US-Verteidigungsministerium mindestens 2400 US-Soldaten das Leben gekostet hat und in dem 20.589 Militärs verwundet und laut Watson Institut bis November 2019 insgesamt 157.000 Menschen umgekommen sind, hat erstrangige Implikationen für Deutschland und alle anderen am Militäreinsatz beteiligten Staaten.
Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wurde eben nicht „auch am Hindukusch“ verteidigt, wie der frühere deutsche Verteidigungsminister Peter Struck behauptete, sondern die rotgrüne Regierung ließ sich auf der Basis des auf falschen Prämissen beschworenen Artikels 5 der NATO in einen langen Krieg hineinziehen, für den die Verantwortlichen US-Militärs zu keinem Zeitpunkt eine Strategie hatten. 2003 – also nach zwei Jahren Kriegsführung, während gleichzeitig, wie Nancy Pelosi kürzlich zugegeben hat, unter bewußter Täuschung der Öffentlichkeit die Lüge über die angeblichen Massenvernichtungswaffen im Irak verbreitet wurde – sagte der damalige US-Verteidigungsminister Rumsfeld in internen Mitteilungen: „Ich habe keinerlei Klarheit darüber, wer der Gegner ist“. Zwölf Jahre später erklärte der Drei-Sterne-General Douglas Lute, der unter den Regierungen Bush und Obama der Afghanistan-Zar gewesen ist, in einer internen Anhörung der Regierung: „Wir waren ohne jegliches fundamentales Verständnis über Afghanistan, wir hatten keine Ahnung, womit wir es zu tun hatten. Was wollten wir dort erreichen? Wir hatten nicht den leisesten Schimmer, was wir da vorhatten.“ Lute machte das bürokratische Versagen des Kongresses, des Pentagon und des State Department für den Tod der Soldaten verantwortlich und fügte hinzu: „Wenn die amerikanische Bevölkerung das Ausmaß dieses Versagens kennen würde – wer wird sagen, daß das alles vergebens war?“
Mit den Afghanistan-Papieren wird die prinzipielle Kritik, die ich von Anfang an gegen die Beteiligung der Bundeswehr an diesem Krieg hatte, voll und ganz bestätig. In einem Internetforum im August 2005 führte ich aus:
„Die dramatische Zuspitzung der Krise um den Iran erfordert dringend eine Neubewertung des Einsatzes von Bundeswehrsoldaten in Afghanistan. Eine nüchterne Analyse der ursprünglichen Zielsetzungen dieser Stationierung ergibt eindeutig, daß die Lage in Afghanistan vollkommen aus dem Ruder gelaufen ist. Es kann jeden Moment zu einer Katastrophe kommen, z.B. einem größeren Angriff oder Anschlag auf die in Afghanistan stationierten Bundeswehrtruppen oder dort operierende Hilfsorganisationen.
Nicht nur angesichts der offensichtlichen Fragwürdigkeit der Begründung, die zu der Anforderung deutscher Truppen gemäß Artikel 5 der NATO-Charta geführt hat, muß der deutsche Truppeneinsatz in Afghanistan neu überprüft werden. Tatsache ist auch, daß der ursprünglich geplante wirtschaftliche Wiederaufbau Afghanistans nicht stattgefunden hat. Mit dem Ausbleiben nötiger wirtschaftlicher Entwicklung hat stattdessen der Drogenanbau Rekordausmaße erreicht. Afghanistan ist zu 80 Prozent in der Hand mächtiger Kriegsherren, die den Drogenanbau und -handel kontrollieren. Die Verbitterung der Bevölkerung wächst, und sie könnte sich nun auch gegen die Bundeswehr richten, die bislang noch nicht als Besatzungstruppe empfunden wurde. Da die USA, anstatt das Land mit wirtschaftlicher Entwicklung auf ihre Seite zu ziehen, jetzt militärisch gegen die Drogenbarone vorgehen, ist die Lunte zu einer größeren Explosion in Afghanistan bereits angezündet. Welchen Sinn hat eine Stationierung in Afghanistan, bei der die Bundeswehr hauptsächlich in ihren Unterkünften sitzt und sich eigentlich nur noch selber schützt?“
Fünf Jahre später veröffentlichten wir das BüSo-Weißbuch 2010: Bundeswehr raus aus Afganistan, in dem es heißt:
„Es gibt keinen einzigen Grund, warum auch nur ein einziger Bundeswehrsoldat auch nur einen Tag länger in Afghanistan eingesetzt bleiben sollte. Denn dieser Krieg, der überhaupt nie hätte angefangen werden dürfen und von dessen angeblichen Kriegszielen nach neun langen Jahren niemand mehr spricht, ist nichts weiter als eine Falle für 42 der 43 am Einsatz beteiligten Nationen – ein Konflikt, der nicht zuletzt dazu dient, den dritten Opiumkrieg des britischen Empires zu unterstützen.“
In der Tat stammen 86% der weltweiten Opiumproduktion aus Afghanistan, eine Produktion, die sich z.B. in der von britischen Truppen kontrollierten Provinz Helmand während des Afghanistankrieges vervierzigfacht hat.
Die dringende Aufarbeitung der Konflikte in und um Afghanistan, das zurecht als „Totenacker der Imperien“ gilt, muß nicht nur die britische Geopolitik des „Great Game“ einschließen, mit der das Britische Empire historisch gegen das zaristische Rußland und die Sowjetunion operiert hat. Sie muß vor allem untersuchen, wie eine Fortsetzung dieser Politik durch Zbigniew Brzezinsky und dessen Idee, die „Islamische Karte“ gegen die Sowjetunion zu spielen, zu einer massiven Radikalisierung des Islam geführt hat. Wenn dann später die Regierungen Bush und Obama in Südwestasien, um Regierungswechsel gegen nicht genehme Regierungen zu betreiben, auf die jeweils angeblich „moderaten“ Rebellen setzten, die sich dann übergangslos in terroristische Gruppierungen verwandelten, dann war dies konsistent mit dieser geopolitischen Strategie.
Angesichts des ungeheuerlichen Auseinanderklaffens der offiziellen Narrative, warum die Bundeswehr seit bald zwei Jahrzehnten in Afghanistan eingesetzt ist, was 59 Soldaten das Leben und dem deutschen Steuerzahler schätzungsweise 50 Milliarden Euro gekostet hat, wofür man mehrere Großstädte mit einem Transrapidnetz hätte verbinden können, und den Lügen, die jetzt durch die Afghanistan-Papiere bekanntgeworden sind, stellen sich ein paar weitere grundsätzliche Fragen. Entweder die Bundesregierungen wußten vom wirklichen Zustand der Lage – dann tragen sie eine Mitverantwortung für die horrenden menschlichen und finanziellen Kosten dieses Krieges. Oder sie wußten es nicht – dann hätten die US-Militärs es nicht für nötig befunden, ihre NATO-Verbündeten aufzuklären.
Auf jeden Fall ist eine Kriegspolitik, die fast zwei Jahrzehnte lang die Öffentlichkeit von 43 Nationen an der Nase herumführt, Grund genug, die Beteiligung an weiteren NATO-Abenteuern in Frage zu stellen. Im kommenden Jahr 2020 beabsichtigen die US-Streitkräfte bei ihrem größten Manöver seit Ende des Kalten Krieges, „Defender Europe 20“, umfassend die zivile Infrastruktur der Bundeswehr zu nutzen. Dabei sollen Bundeswehrstandorte, Häfen, Flughäfen und extra dafür angeschaffte Schwerlastwaggongs der Deutschen Bahn genutzt werden. Dabei ist laut dem Blog german-foreign-policy.com unter US-Militärs von einem „Schlachtfeldnetzwerk“ die Rede, das Routen definiert, mit dem im Konfliktfall Truppen an potentielle Kriegsschauplätze in den Osten verlegt werden können.
Russische Militärs – zuletzt der russische Generalstabschef General Gerassimow in einem Briefing für alle russischen Militärattaches – haben wiederholt deutlich gemacht, daß sie die diversen Ostverlagerungen der NATO an ihre Grenze, die Stationierung von Truppen im Baltikum und das US-Raketenabwehrsystem in Polen und Rumänien als existentielle Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit betrachten. Gerassimow warnte auch, daß sich angesichts der instabilen Lage in der Welt aus kleinen Spannungen heraus sehr leicht ein großer Konflikt entwickeln könnte. Deutschland wäre in jedem militärischen Konflikt in Europa zwischen der NATO und Rußland ein solches Schlachtfeld.
Die Afghanistan-Papiere erfordern nicht nur, daß die Bundeswehr sofort aus Afghanistan abgezogen wird, sie erfordern auch, daß Deutschland sich dafür einsetzt, die NATO aufzulösen und durch eine globale Sicherheitsarchitektur zu ersetzen, die den Sicherheitsinteressen Deutschlands entspricht. Die Pläne von Annegret Kramp-Karrenbauer, die weltweiten Einsätze der Bundeswehr auszudehnen und sich damit der selben Logik zu unterwerfen, die zu dem Afghanistan-Desaster geführt hat, dürfen auf keinen Fall umgesetzt werden.
Der einzige Weg, wie Afghanistan geholfen werden kann, ist durch ein umfassendes Wirtschaftsaufbauprogramm für ganz Südwestasien, bei dem die Neue Seidenstraße bis nach Afrika ausgebaut wird.