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Neue Solidarität
Nr. 46-47, 14. November 2019

30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer:
Die Chance von 2019 darf nicht verpaßt werden!

Von Helga Zepp-LaRouche

Die Vorsitzende des Schiller-Instituts übermittelte für eine Veranstaltung in New York am 9. November 2019 anläßlich des Jahrestags des Falls der Berliner Mauer die folgende Videobotschaft, die für den Abdruck übersetzt und gekürzt wurde. Das gesamte Video finden Sie (im englischen Original) auf der Internetseite des Schiller-Instituts unter www.schillerinstitute.com.

Wir feiern heute einen dreifachen Jahrestag: den 30. Jahrestag des Falls der Mauer in Berlin, den 260. Geburtstag von Friedrich Schiller, dem großen deutschen Dichter der Freiheit, und es ist 35 Jahre her, daß das Schiller-Institut gegründet wurde. Und wenn es zu einem solchen Zusammentreffen von drei Jahrestagen kommt, dann ist es der Mühe wert, zurückzuschauen und zu sehen, wie sie zusammenhängen…

Ich erinnere mich noch an viele dieser Ereignisse, als wäre es erst gestern geschehen, denn wir standen damals nicht nur als Zuschauer am Rande, sondern wir standen mitten drin und versuchten, sie durch unsere Ideen zu gestalten.

Es gibt fast kein Beispiel eines größeren Unterschiedes zwischen der offiziellen Darstellung und dem, was damals mit der deutschen Wiedervereinigung und dem Fall der Berliner Mauer wirklich geschah. Denn wenn Sie sich das offizielle Narrativ anhören, dann war das der Sieg der Demokratie über den Kommunismus, der Freiheit über die Diktatur, und als zwei Jahre später die Sowjetunion auseinanderbrach, hat der Historiker Fukuyama sogar gesagt, das ist das Ende der Geschichte. Im allgemeinen sagte man, nun werde die ganze Welt das westliche Modell von Demokratie, Menschenrechten und parlamentarischem System übernehmen…

Ich habe jedoch im Jahr 1990 in vielen Reden gewarnt, wenn man dem kollabierten kommunistischen Wirtschaftssystem ein ebenso bankrottes westliches, liberales Modell überstülpe, dann werde man wohl für eine gewisse Zeit einen Boom erleben, aber dann werde es letztendlich zu einem noch viel größeren Kollaps des gesamten Systems kommen. Und ich glaube, daß wir heute genau da angekommen sind...

Der Versuch des westlichen Establishments, 1989 und vor allem nach dem Kollaps der Sowjetunion 1991, eine unipolare Weltordnung durchzusetzen, ist offensichtlich vollkommen nach hinten losgegangen. Sie versuchten, diese unipolare Welt durch Regimewechsel, Farbrevolutionen, durch Interventionskriege durchzusetzen, aber die Gegenreaktion auf diesen Versuch, die unipolare Welt durchzusetzen, hatte den Aufstieg einer ganzen Reihe verschiedener Nationen – Rußland, China, Indien und anderer asiatischer Nationen – zur Folge…

1989 war etwas, was man zu Recht als eine „Sternstunde der Menschheit“ bezeichnen kann, als eine außerordentliche Chance in der Geschichte, und es war einer dieser großen Momente, wo man die Geschichte tatsächlich gestalten konnte, weil der Kommunismus verschwunden war. Man hätte damals eine Friedensordnung für das 21. Jahrhundert durchsetzen können.

Genau das war unsere Vision. Lyndon LaRouche hatte schon 1984 vorhergesagt, daß die Sowjetunion, wenn sie an ihrer damaligen Politik festhalten würde – das waren die Versuche der militärischen Dominanz und die primitive Akkumulation in ihrer eigenen Volkswirtschaft – innerhalb von fünf Jahren zusammenbrechen würde. Und genau das tat sie.

Lyndon LaRouche hat auch, da er die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Comecon-Staaten beobachtete, 1988 vorhergesagt, daß es schon bald zur Wiedervereinigung Deutschlands kommen würde; und er sagte, das wiedervereinigte Deutschland sollte mit westlichen Technologien Polen wirtschaftlich entwickeln, um den gesamten Comecon zu transformieren. Als die Berliner Mauer dann tatsächlich nach den wachsenden Montagsdemonstrationen fiel, waren wir die einzigen, die damals ein Konzept hatten...

Ich habe damals ein Flugblatt verfaßt, das im November 1989 veröffentlicht wurde, „Geliebtes Deutschland, weiter so!“ Und ich habe darin genau das vorgeschlagen: daß wir mit westlicher Technologie Polen und die anderen Comecon-Länder entwickeln sollten.

Helmut Kohl, der damalige Bundeskanzler, machte damals erste Babyschrittchen in Richtung Souveränität, indem er am 28. November, wenige Tage nach meinem Flugblatt, einen Zehn-Punkte-Plan veröffentlichte... Zwei Tage danach, am 30. November, wurde Alfred Herrhausen, der damalige Chef der Deutschen Bank, ermordet, durch eine äußerst dubiose „Dritte Generation“ der Roten Armee Fraktion, einer terroristischen Vereinigung, die wahrscheinlich niemals existierte, das ist jedenfalls eine Frage, die immer noch von Historikern untersucht wird. Aber es war eine Botschaft an Kohl: Wage es nicht, in Richtung deutscher Souveränität zu gehen.

Es gab damals erbitterte Reaktionen. Margaret Thatcher startete ihre „Viertes Reich“-Kampagne, Mitterrand verlangte, daß Deutschland die D-Mark aufgeben und den Euro einführen müsse, Bush senior verlangte eine „Selbsteindämmung Deutschlands“ durch eine weitere Integration in die NATO und in die EU, das Akzeptieren des Maastricht-Vertrags und damit des Austeritäts-Regimes, das jetzt zur Detonation der EU und ihren inneren Spannungen zwischen Ost und West und Nord und Süd geführt hat.

Die verpaßte Chance von 1989

Wir haben damals das „Produktive Dreieck Paris-Berlin-Wien“ vorgeschlagen. Das war die Idee, westliche Technologie zu nutzen, um die Länder Osteuropas zu transformieren und deren produktive Potentiale dazu zu nutzen, sie zu modernisieren und in Europa zu integrieren. Den ersten Vorschlag dieser Art haben wir im Januar 1990 veröffentlicht, und als 1991 die Sowjetunion kollabierte, haben wir die Idee dieses Produktiven Dreiecks sofort auf ganz Eurasien ausgedehnt, um die produktiven Zentren und Bevölkerungszentren Europas mit denen in Asien durch Entwicklungskorridore zu verbinden. Wir nannten das die Eurasische Landbrücke, die Neue Seidenstraße, und das war auch gemeint als eine Friedensordnung des 21. Jahrhunderts...

1991 hat die CIA laut einer deutschen Zeitung einen Bericht veröffentlicht, wonach Rußland eine besser ausgebildete Arbeiterschaft und mehr natürliche Ressourcen habe als die Vereinigten Staaten, und deshalb würde sie, wenn man zulasse, daß sie sich wirtschaftlich entwickelt, zu einem Konkurrenten auf dem Weltmarkt heranwachsen. Und deshalb solle man ihre wirtschaftliche Entwicklung verhindern.

Was dann in Gang gesetzt wurde, war die Schocktherapie von Jeffrey Sachs – derselbe Jeffrey Sachs, der jetzt mitten in dem Green-Finance-Schwindel steckt. Und George Soros war damals beteiligt an einer riesigen „brain drain“-Operation gegen Rußland und andere ehemals sowjetische Länder...

Am 8. März 1990 gründete die letzte Volkskammer der DDR die „Treuhandanstalt“. Sie sollte den staatlichen Besitz der DDR schützen, aber es gab einen kalten Putsch: Schon am 26. Juni 1990 veröffentlichte die Regierung de Maiziere Statuten, in denen nur von der „Privatisierung und Sanierung des staatlichen Industriebesitzes“ die Rede war.

Im August 1990 wurde Detlev Karsten Rohwedder, ein sehr guter und effizienter Industrieller, eingesetzt, um die Treuhand zu reorganisieren, und er hatte ein exzellentes Verständnis von den Erfordernissen der physischen Wirtschaft. Deshalb gab er der Sanierung Vorrang vor der Privatisierung, mit dem Hauptziel, die Arbeitsplätze in den ehemals staatlichen Betrieben zu erhalten.

Er wurde sofort heftig angegriffen von britischen und amerikanischen Investmentbanken, die ihm vorwarfen, ausländische Investitionen zu blockieren. Er wurde am 1. April 1991 erschossen, von der gleichen, dubiosen „Dritten Generation der Roten Armee Fraktion“…

Was dann geschah, war eine gewaltige Enteignung des Besitzes der Bevölkerung der DDR. Plötzlich war das gesamte Lebenswerk der Menschen in der DDR bedeutungslos, es wurde für wertlos erklärt, und das ist ein Schock, von dem sich die Menschen in Ostdeutschland bis heute nicht erholt haben…

Solange die Sowjetunion existierte, sah die Oligarchie im Westen noch eine gewisse Notwendigkeit des technologischen Fortschritts, um im Rüstungswettlauf des Kalten Krieges mithalten zu können. Aber mit dem Kollaps der Sowjetunion gingen die Kräfte des Britischen Empire zu einer absolut ungebremsten Deregulierung der Finanzmärkte über, und sie fielen zurück in das oligarchische Denken, die Bevölkerung zu reduzieren und sie rückständig zu halten... Nachdem es ihnen 1999 gelungen war, das Glass-Steagall-Trennbankensystem zu beseitigen, folgte eine völlig uneingeschränkte Deregulierung der Finanzmärkte, auf Kosten der Industrie, auf Kosten des Gemeinwohls, zur totalen Profitmaximierung der Spekulanten.

Im Juli 2007, als die Krise der minderwertigen Hypotheken ausbrach – tatsächlich sogar eine Woche davor –, hielt Lyndon LaRouche eine berühmte Videoansprache, in der er sagte: „Dieses System ist vollkommen am Ende, und alles, was wir nun sehen werden, ist, wie alle die verschiedenen Aspekte davon an die Oberfläche kommen.“

Die Zentralbanken haben nichts getan, um die Ursachen dieses Krachs zu beseitigen, und deswegen stehen wir heute, elf bis zwölf Jahre später, vor einer sogar noch schlimmeren Krise…

Die Eurasische Landbrücke

Aber unterdessen entwickelte sich auch noch eine andere Tendenz: unser Vorschlag der Eurasischen Landbrücke… 1996 fand eine große Konferenz in Beijing statt, bei der ich unseren Vorschlag vorstellte, die Eurasische Landbrücke als Fundament einer neuen gerechten Weltwirtschaftsordnung zu nutzen. Und an diesem Punkt erklärte China die Eurasische Landbrücke zum strategischen Ziel für China bis zum Jahr 2010. Aber dann kam die Asienkrise 1997, 1998 kam der russische Staatsbankrott.

Die asiatischen Länder waren gezwungen, eine Alternative zu entwickeln, um sich zu verteidigen. Seitdem hat sich eine ganze Reihe von Organisationen entwickelt: die BRICS, die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, der „Globale Süden“…

2013 hat Präsident Xi Jinping dann in Kasachstan die Neue Seidenstraße angekündigt, und in den sechs Jahren seither ist daraus das größte Infrastrukturprojekt geworden, das es in der Geschichte je gegeben hat. Es haben sich schon 157 Nationen und 30 große internationale Organisationen angeschlossen. Sie haben ein neues Paradigma geschaffen, das auf der Achtung der Souveränität und der Nichteinmischung in die Gesellschaftssysteme der anderen Länder beruht. Sie ist zu einem Modell für die Kooperation geworden, das Präsident Xi Jinping zufolge offen ist für die Kooperation mit allen Nationen auf diesem Planeten.

Die Krise von 2019

Nun, wenn man sich auf dem Globus umschaut, dann sieht man Demonstrationen in vielen Ländern, die oft größer sind als die Montagsdemonstrationen in der DDR 1989, und einige von ihnen sind nicht so friedlich, wie diese es waren. Wir sind auch mit existentiellen Bedrohungen konfrontiert, die vor allem von den Drogenkartellen ausgehen – betrachten Sie die Lage in Mexiko. Oder betrachten Sie die meist von Soros geförderten Farbrevolutionen wie in Hongkong und andere Destabilisierungen in aller Welt. Das sind die gleichen Kräfte, die auch hinter dem Putsch gegen Präsident Trump seit 2016 stehen… 30 Jahre nach dem Fall der Mauer sind wir also genau an dem Punkt angekommen, vor dem ich in vielen Reden gewarnt habe…

Aber wir haben auch die neue Konstellation der Belt & Road-Initiative, und da ist Präsident Trump, der oft gesagt und durch sein Handeln bewiesen hat, daß er die Beziehungen zu Rußland und China verbessern will. Tatsächlich kann man also sagen, daß wir jetzt gerade die große Chance von 2019 erleben. Aber um die Lehren aus dem zu ziehen, was vor 30 Jahren falsch gelaufen ist, müssen die vier Mächte – die Vereinigten Staaten, Rußland, China und Indien – die Vorschläge von Lyndon LaRouche umsetzen.

Wir brauchen eine globale Glass-Steagall-Bankentrennung. Die Kasinowirtschaft muß enden, und das sollte geschehen, noch bevor der Finanzkollaps die Welt ins Chaos stürzt. Dann brauchen wir in jedem Land eine Nationalbank nach dem Konzept von Alexander Hamilton. Wir brauchen ein Neues Bretton Woods, ein neues Kreditsystem, um internationale Projekte der Belt & Road-Initiative zu finanzieren. Und wir brauchen eine Steigerung der Produktivität der Volkswirtschaften durch gemeinsame Crashprogramme zur Realisierung der Kernfusion, und wir brauchen die internationale Zusammenarbeit zur Erforschung und Erschließung des Weltraums.

Alle diese Länder – die vier Mächte und andere – müssen einander die Hand reichen zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Südwestasiens, das durch die Interventionskriege zerstört wurde, und wir brauchen die Industrialisierung Afrikas, denn das ist die große Herausforderung für die gesamte Menschheit. Wir müssen die Geopolitik überwinden, und wir müssen uns auf das einigen, was Präsident Xi Jinping schon seit vielen Jahren vorschlägt: eine Gemeinschaft für die gemeinsame Zukunft der gesamten Menschheit.

Eine neue Renaissance

Aber das muß verbunden sein mit einer Renaissance der klassischen Kultur, und deshalb sind die Rolle des Schiller-Instituts und die Ideen von Friedrich Schiller absolut unverzichtbar. Es war das Prinzip des Schiller-Instituts, als es 1984 gegründet wurde, daß eine neue, gerechte Weltwirtschaftsordnung wirklich nur dann Erfolg haben kann, wenn sie mit einer klassischen Renaissance verbunden ist.

Wir brauchen einen Dialog der besten Traditionen aller Kulturen. Und für die europäischen Kulturen bedeutet dies, daß das wunderschöne Menschenbild, wie es von Friedrich Schiller zum Ausdruck gebracht und von Beethoven in seiner „Ode an die Freude“ in der 9. Sinfonie gefeiert wurde, zur Grundlage unseres Bildungssystems und unseres gesellschaftlichen Lebens werden muß. Denn Schiller zufolge hat jeder Mensch das Potential, eine Schöne Seele zu werden, jeder Mensch hat das Potential, ein Genie zu werden. Er hatte die Idee, daß jeder Mensch eine unbegrenzte Fähigkeit hat, sich intellektuell und moralisch zu verbessern.

Wenn man das liberale Modell betrachtet, dann ist es nicht nur wirtschaftlich gescheitert, sondern auch kulturell. Wenn Sie beispielsweise die Drogenepidemie in den Vereinigten Staaten betrachten, die Häßlichkeit der Jugendkultur, die Gewalt in der sogenannten „Unterhaltung“, die Schießereien an Schulen und ähnliche Dinge, dann ist sehr klar, daß der Westen, wenn er überleben will, die ästhetische Erziehung braucht. In den Vereinigten Staaten und in Europa müssen wir die besten Traditionen des Humanismus und der klassischen Kunst wiederbeleben…

Das ist keine Option, sondern eine Notwendigkeit. Ganze Zivilisationen sind verschwunden. Die Museen sind voll von Beispielen von Nationen, von Kulturen, von Zivilisationen, die moralisch zu verkommen waren, um zu überleben. Europa und die Vereinigten Staaten könnten verschwinden. Aber ich sage das nicht als eine pessimistische Prognose, sondern als Ansporn für uns alle, unsere Gewohnheiten und Annahmen zu ändern. Wir müssen unsere Zivilisation neu erschaffen, auf der Grundlage der erhabenen Ideen großartiger Dichter, wie Friedrich Schiller, dessen 260. Geburtstag wir heute feiern. Vielen Dank.

zepp-larouche@eir.de