|
|
Von Helga Zepp-LaRouche
In einer transatlantischen Atmosphäre der Hysterie gegen Rußland und China, die man eigentlich nur als Vorkriegspropaganda verstehen kann, hat Präsident Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation einen Paukenschlag gesetzt, der die strategischen Gewichte neu definiert. Er gab bekannt, daß die russischen Streitkräfte über Waffen verfügen, die auf neuen physikalischen Prinzipien basieren, darunter eine neue Interkontinentalrakete mit dem Namen „Avantgarde“, die sich mit 20facher Schallgeschwindigkeit bewegen könne und ausgezeichnete Manövrierfähigkeit besitze, und deshalb alle bestehenden Luftabwehr- und Raketenabwehrsysteme ausmanövrieren und damit obsolet machen könne. Diese neuen Systeme, zu denen auch nuklearangetriebene Marschflugkörper, schnelle Unterwasserdrohnen und Laserwaffen gehörten, seien die Antwort auf die einseitige Kündigung des ABM-Vertrags durch die USA 2002 und die Indienststellung des globalen US-Raketenabwehrsystems. Seitdem seien alle Verhandlungsversuche auf taube Ohren gestoßen. „Sie haben uns nicht zugehört. Jetzt werden sie uns zuhören!“, betonte Putin.
Das Echo seitens der westlichen Medien und Politiker reichte von Versuchen, Putins neue Arsenale als technologisch gar nicht möglich ins Lächerliche zu ziehen – es handle sich nur um Vorwahlgetöse –, bis hin zur Besorgnis über einen neuen Rüstungswettlauf, als ob der dank der NATO-Ausweitung nach Osten nicht schon längst im Gange wäre.
Diese Reaktionen reflektieren wieder einmal, daß die Anhänger des neoliberalen Dogmas die Welt immer nur durch ihre geopolitische, konkave Brille sehen können, und offensichtlich unterschätzen sie die militärwissenschaftlichen Kapazitäten Rußlands ebenso, wie sie die Dynamik von Chinas Neuer Seidenstraße jahrelang unterschätzt haben.
Ganz im Gegensatz zur Meinung der Bild-Zeitung, die meint, Putin sei eine Maus, die einen Löwen anpiepst, ist Putin wohl eher die Katze unter den Mäusen. Mit der Schaffung von Waffengattungen, die auf neuen physikalischen Prinzipien beruhen, wird eine ganz andere Ebene etabliert als z.B. die recht linearen Szenarien, die der jüngsten Studie der Washingtoner Denkfabrik CSIS zugrundeliegen, in denen Rußland und China unterstellt wird, Überraschungsangriffe auf die baltischen Staaten oder im Südchinesischen Meer vorzubereiten. In anderen Szenarien wird angenommen, China werde die USA mit Marschflugkörpern angreifen, um sie zu zwingen, sich aus dem Pazifik zurückzuziehen, oder China bringe die gesamte amerikanische Führung um, als Vorbereitung für eine Invasion von Taiwan.
Die Reaktion der parteinahen chinesischen Zeitung Global Times in einem Artikel mit der Überschrift „Die USA haben Angst vor ihrem eigenen Spiegelbild“ brachte es auf den Punkt: Die USA verfielen in den Fehler, vor dem schon der Experte des Büros für Gesamteinschätzung (Office of Net Assessment, ONA) des Pentagon, Andrew Marshall (der im übrigen für die utopische Doktrin des Luftkrieges verantwortlich ist), gewarnt habe, nämlich, daß man nicht die eigenen Intentionen auf die Absichten anderer Staaten projizieren solle. Die USA verfolgten seit Jahrzehnten eine präventive Militärdoktrin, während die Militärdoktrin Chinas vorsehe, erst auf einen Angriff mit einem Gegenangriff zu reagieren. Gleichermaßen sei es übliche amerikanische Praxis, feindliche Regierungen durch Regimewechsel zu eliminieren, während die Kommunistische Partei Chinas es seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts ablehne, die Führung feindlicher Regierungen zu ermorden. Und drittens sei es die Politik der USA, das Schwergewicht auf den Ausbau des Nukleararsenals zu setzen, um selbst auf konventionelle Bedrohungen und solche dem Cyberbereich mit Kernwaffen zu reagieren, während China es für unklug halte, zu viele Nuklearwaffen zu besitzen, sondern statt dessen nur so viele habe, wie zur Abschreckung notwendig seien. Schlußfolgerungen aus solchen Spiegelbildern hätten mit der realen Welt nichts zu tun, und falls das US-Militär dieser Studie folge, würden sie sich angesichts ihres eigenen Schattens zu Tode erschrecken und es versäumen, sich auf reale Gefahren vorzubereiten.
Auf die gleiche Art der Spiegelbild-Wahrnehmungsfalle weist der unter dem Pseudonym „Publius Tacitus“ schreibende Autor auf der Webseite Sic Temper Tyrannis des bekannten Sicherheitsanalysten Pat Lang hin, der schreibt, daß die Einmischung der USA in der Ukraine alles bei weitem in den Schatten stellt, was man Rußland je vorwerfen könne. Erst kürzlich freigegebene Dokumente der CIA zeigten die enge Zusammenarbeit der US-Geheimdienste mit Stepan Banderas OUN seit 1946, über den ehemaligen Präsidenten Viktor Juschtschenko, dessen Ehefrau eine hohe Position im US-Außenministerium hatte und der Bandera zum ukrainischen Nationalhelden erklärte, bis hin zur direkten Zusammenarbeit mit den Nazis beim Maidan II und dem Putsch gegen Präsident Janukowitsch im Februar 2014. In der Tat gibt es wohl kaum eine größere Verdrehung als das „Narrativ“ in Bezug auf die Ereignisse in der Ukraine, das bekanntermaßen einen großen Teil der Basis für die Dämonisierung Putins und Rußlands liefert.
Die gleiche Unfähigkeit, das neue Paradigma zu erkennen, das Präsident Xi Jinping sowohl innen- wie außenpolitisch mit seiner Anti-Korruptions-Kampagne, seinem absoluten Fokus auf wissenschaftlicher und technologischer Innovation und der Win-Win-Kooperation zwischen den Nationen im Rahmen der Neuen Seidenstraßen-Initiative auf die Tagesordnung gesetzt hat, kommt auch im Hausblatt des britischen Empire, dem Economist zum Ausdruck. Unter der Überschrift „Geopolitik: Wie der Westen sich in China geirrt hat“ wird die Entscheidung des Zentralkomitees, Präsident Xis Amtszeit zu verlängern, zum Anlaß für ein Lamento genommen: In der Annahme, China würde sich nach dem WTO-Beitritt und bei steigenden Reichtum automatisch nach „demokratischer Freiheit, Rechten und Rechtsstaat“ sehnen, habe sich der Westen vollkommen verschätzt. Jetzt sei China so reich, wie niemand es sich habe vorstellen können, biete aber stattdessen sogar „chinesische Weisheit und eine chinesische Herangehensweise an, die Probleme der Menschheit“ zu lösen! – Potz Blitz! London hat sich verwettet! Und China ist sich bewußt, daß das Ein-Parteien-System offensichtlich besser funktioniert als der Parteienstreit des Westens und daß die chinesische Politik in profunder Weise von der traditionellen chinesischen Kultur geprägt ist.
Der Westen habe seine Hausaufgaben bezüglich der chinesischen Geschichte und Kultur nicht gemacht und solle endlich seine Klischeevorstellungen über die zweitgrößte Ökonomie abschütteln und seine Wahrnehmung mit der Realität Chinas in Einklang bringen. In der Zukunft werde China dem Westen mit Sicherheit weitere Überraschungen bereiten und es noch klarer herausstellen, daß Beijing niemals ein Nachfolger von Washington sein werde.
Und das ist gut so! Der Grund, warum Xi Jinping seine Amtsführung fortsetzen will, liegt in der Erkenntnis der chinesischen Führung, daß die kommenden Jahre enorm wichtige Jahre des Umbruchs für die ganze Menschheit sein werden. Präsident Putin drückte es in seiner Rede so aus: „Dies ist eine Wendezeit für die ganze Welt; und diejenigen, die bereit und fähig sind, sich zu verändern, diejenigen, die handeln und vorwärts gehen, werden die Führung übernehmen.“
In der Tat erleben wir derzeit einen Epochenwandel. Die Periode der knapp 600 Jahre seit der italienischen Renaissance und der Entstehung des souveränen Nationalstaates, in der oligarchische Regierungsformen und dem Gemeinwohl verpflichtete Regierungen nebeneinander existierten, kommt an ihr Ende. Das neue Paradigma, eine neue Phase in der Evolution der Menschheit ist schon sichtbar. Die größte Annäherung daran ist Xi Jinpings Vision einer Schicksalsgemeinschaft für die eine Zukunft der Menschheit – das Konzept, daß die Idee der „einen Menschheit“ allen Nationen vorangesetzt ist. Die wirtschaftliche Entsprechung dieser Idee ist die Neue Seidenstraße, bei der alle souveränen Nationen auf der Grundlage einer Kooperation zum gegenseitigen Vorteil zusammenarbeiten.
Was wir gegenwärtig erleben, mit all den unbeweisbaren Anschuldigungen über „russisches Hacken“, „Einmischung in demokratische Wahlen“, „chinesisches Hegemoniestreben“, „Bedrohung des westlichen Systems von Demokratie und Menschenrechten durch autoritäre Systeme“ etc. etc., ist nichts weiter als ein letztes vergebliches Aufbäumen eines scheiternden oligarchischen Systems. Der nächste Finanzkrach dieses Systems, das die Schere zwischen reich und arm immer weiter geöffnet hat und dessen Politik der fortwährenden Kriege uns sowohl die Flüchtlingskrise als auch eine Gewalt-Epidemie unter Jugendlichen und in der sogenannten Unterhaltungsindustrie beschert hat, steht in Kürze bevor und wird schlimmer werden als 2008.
Es ist an der Zeit, daß sich die vernünftigen Menschen besinnen. Wir sollten diesen neuen Sputnik-Schock nutzen und tun, was Putin in seiner Rede vorschlägt: „Laßt uns am Verhandlungstisch hinsetzen und gemeinsam ein neues und sachdienliches System der internationalen Sicherheit und nachhaltigen Entwicklung für die gesamte menschliche Zivilisation entwerfen.“
Die menschliche Gattung ist die einzige uns bekannte kreative Gattung. Was uns von allen anderen Lebewesen unterscheidet, ist die Fähigkeit des menschlichen Geistes, immer wieder qualitativ neue Prinzipien des physischen Universums zu entdecken und diese im Produktionsprozeß anzuwenden, und so die Lebensgrundlagen, die Produktivität, die Lebenserwartung der Menschheit zu verbessern. Wir sind an dem Punkt in der Geschichte angelangt, wo wir unsere Identität als planetarische Gattung, die gemeinsam fähig ist, ihr langfristiges Überleben zu garantieren, verwirklichen können und müssen.
zepp-larouche@eir.de