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Aus der Neuen Solidarität Nr. 3/2009 |
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Ein offener Brief an Erzbischof Reinhard Marx zu seinem jüngst veröffentlichten Buch Das Kapital.
Sehr geehrter hochwürdigster Erzbischof Marx,
eine Krise wie die gegenwärtige hat das Gute, daß sie die Köpfe über nicht ganz unwesentliche Fragen in Bewegung bringt, wie z.B.: Was widerfuhr der so gepriesenen sozialen Marktwirtschaft eigentlich? Oder: Was ist die Globalisierung wirklich?
Sie haben mit Ihrem Buch Das Kapital einen Versuch unternommen, zu diesen Fragen Stellung zu nehmen, wobei Sie die Sorge äußern, daß die kapitalistische Wirtschaft in jenen primitiven Kapitalismus abgleiten könnte, den Karl Marx zum Thema machte, und daß am Ende die bange Frage steht: Hatte er vielleicht doch Recht?
Wie zu erwarten, lehnen Sie mit Recht dessen Theorien schon in der Einleitung ab, aber dann loben Sie überraschenderweise schon im zweiten Kapitel den anderen Materialisten ganz unumwunden, nämlich Adam Smith, den Angestellten der imperialen Ost-Indien-Gesellschaft, der die Gier des Individuums zum wesentlichen Inhalt seiner Freihandelslehre machte. Natürlich sei diese Auffassung moralisch ein wenig bedenklich, schreiben Sie, und sie gehe auch bisweilen gegen die Interessen des Gemeinwohls. Jeder könne sehen, wie sich gegenwärtig die Armut selbst in Deutschland ausbreite und die allgemeine Gier ganz ungeniert in den Vordergrund rücke. Trotzdem bezeichnen Sie Adam Smith als den großen Ahnherren des Wirtschaftsliberalismus, dem wir den Wohlstand zu verdanken hätten. Schließlich habe man mit ein paar sozial wirksamen Korrekturen, wozu auch die katholische Soziallehre entsprechend beigetragen habe, alles ganz gut in den Griff bekommen. Sie behaupten also, daß man die Freihandelslehre des Adam Smith nur ein wenig habe korrigieren müssen und so die soziale Marktwirtschaft entstanden sei, die den Wohlstand für alle brachte.
Folgerichtig kommen Sie am Ende des Buches zu dem Schluß, daß man jetzt den Erfolgsspuren dieses Tricks nur beharrlich folgen müsse, und fordern im letzten Kapitel ausdrücklich die Schaffung einer „globalen sozialen Markwirtschaft“. Die Globalisierung bedeute globale Solidarität, globale Gerechtigkeit, sie entspreche dem Gedanken einer Menschheitsfamilie, den die Kirche in ihrer Eigenschaft als „global player“ stark machen wolle.
Dabei schildern Sie noch die zum Himmel schreienden Ungerechtigkeiten, die zunehmende Armut, die frechen Raubzüge gieriger Hedgefonds, die bösen Folgen der IWF Politik usw. Sie beschreiben, wie die anspruchsvollen Entwicklungsziele des Milleniumgipfels aus dem Jahr 2000 nicht nur nicht erreicht wurden, sondern sich ins Gegenteil verkehrten! Der Grund sei, so folgern Sie, daß die Institutionen auf Weltebene bei weitem noch nicht stark genug seien. Also müsse man sie stärken, damit sie Gerechtigkeit walten lassen.
Woher kommt diese gefährliche Unklarheit? Hier schaltet und waltet der teuflische Betrug der alten Freihandelslehre des Adam Smith, und Sie erkennen es nicht!
Ich mache nicht Ihnen, hochwürdigster Erzbischof, den Vorwurf, sondern dem Gestrüpp monetaristischer Wirtschaftstheorien, die lange nichts mehr mit Wissenschaft zu tun haben, einschließlich derer, die Sie als klassische Grundlagentheorien bezeichnen.
Hätten Sie doch Friedrich List besser gekannt, war mein erster Gedanke, statt Röpke, Eucken, Rüstow und die vielen Varianten der von Hayeks, denen wir es zu verdanken haben, daß man heute den Begriff „soziale Marktwirtschaft“ zwischen Republik und Empire beliebig dehnen kann.
Im 19. Jahrhundert, also auch zur Zeit von Bischof Ketteler, gab es diese gefährlichen Unklarheiten nicht.
Der Vertreter des Amerikanischen Systems, Henry C. Carey, und sein deutscher Kollege Friedrich List haben sich in vielen Schriften und Briefen mit ziemlich scharfer Zunge gegen den Betrug des Freihandels gestellt. Warum? Die Nationen, die den Empfehlungen des Adam Smith folgten, waren die dummen, die es sich nämlich gefallen ließen, daß man ihre Volkswirtschaften mit Billigprodukten überschwemmte, sodaß die heimische Manufaktur nicht auf die Beine kam und die eigenen produktiven Kräfte nicht wachsen konnten.
Das britische Imperium hat Freihandel immer als Waffe gegen andere benutzt, bis hin zum Opiumhandel. Heute haben wir es mit einer imperialen Finanzelite zu tun, die ihre Trutzburgen in den Offshore-Zentren hat und denen der Rauschgifthandel auch heute keine unbekannte Größe ist. Im Gegenteil! Die Devise lautet heute wie damals: Binden wir doch den Nationalstaaten den Bären auf, daß Schutzmaßnahmen veraltet seien, um so besser lassen sich dann die gierigen Freihandelsinteressen durchsetzen.
Aus diesem Grunde waren die jungen Vereinigten Staaten von Amerika klug genug, ihre eigene Wirtschaft unter einen entsprechenden Schutz zu stellen, was Frankreich zuvor schon unter Colbert getan hatte und was dann auch in Deutschland getan wurde. Friedrich Lists Argument war immer, daß man, wenn alle Nationen auf gleichem Entwicklungsstand wären und der paradiesische Zustand des ewigen Friedens herrschte, unter diesen Bedingungen auch den Freihandel haben könne. Da aber gewaltige Unterschiede im Zustand der Nationen bestanden (und heute genauso bestehen), müsse jede Nation die ihr eigenen Schutzmaßnahmen ergreifen, um ihre produktiven Kräfte überhaupt entwickeln zu können. Deswegen führt List den Begriff der politischen Ökonomie ein, im Unterschied zur kosmopolitischen Fiktion. Die Entwicklung der produktiven Kräfte ist der Schlüsselbegriff jeder kompetenten Wirtschaftswissenschaft.
Zunächst ein Zitat aus den Briefen von List an Ingersoll aus dem Jahr 1827: „Was die Zweckmäßigkeit von Schutzmaßnahmen anbelangt, so hängt es ganz und gar von dem Zustand einer Nation ab, ob dieselben sich als wirksam erweisen oder nicht. Nationen sind ihren Zuständen nach ebenso verschieden wie Individuen. Da gibt es Riesen und Zwerge, Jünglinge und Greise, Krüppel und wohlgebaute Personen; einige sind abergläubisch, stumpf, träge, ungebildet und barbarisch; andere sind aufgeklärt, rege, unternehmerisch und zivilisiert; einige sind versklavt oder halb versklavt, andere sind frei und selbstbestimmt; einige herrschen über andere Nationen, einige sind unabhängig, und einige leben mehr oder weniger in einem Zustande der Abhängigkeit. Wie weise Männer allgemeine Regeln auf diese verschiedenartigen Körperschaften anwenden können, kann ich nicht verstehen. Meines Erachtens ist ein derartiges Vorgehen nicht weiser als das eines Arztes, der einem Kind und einem Riesen, den Alten und den Jungen in allen Fällen stets dieselbe Diät und dieselbe Medizin verordnet.“
Es geht also um Schutzmaßnahmen, die die Entwicklung der produktiven Kräfte einer Nation ermöglichen. Freihandel dagegen fixiert sich immer auf reinen Gütertausch, nach dem Motto: Billig kaufen, teuer verkaufen. Friedrich List entlarvte Adam Smith als Materialisten, der zwar vom Reichtum der Nationen sprach, aber in Wirklichkeit keine Ahnung hatte, was die Quelle dieses Reichtums ist.
In seinem Hauptwerk „Das Nationale System politischer Ökonomie“ schreibt List:
„Sehen wir nun, in welche seltsame Irrtümer und Widersprüche die Schule [Smith, Anm. AA] verfallen ist, indem sie den bloß materiellen Reichtum oder den Tauschwert zum Gegenstand ihrer Forschung machte und die bloß körperliche Arbeit als die produktive Kraft bezeichnete. Wer Schweine erzieht, ist nach ihr ein produktives, wer Menschen erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft...“ In der Tat gestand Adam Smith der geistigen Arbeit derer, welche Recht und Ordnung handhaben, Unterricht und Religiosität, Wissenschaft und Kunst pflegen, keine Produktivität zu. Was allein zählte, war der Erlös aus dem Tauschhandel mit Gütern.
Spätestens seit Leibniz wissen wir aber, daß der Reichtum einer Nation von den geistigen Fähigkeiten der Bevölkerung abhängt. Dieser Kenntnis entsprechend sahen List und Carey das wirkliche Potential nicht in dem Besitz von Gütern, sondern in der Kraft, Reichtum zu schaffen.
Hätten Sie Friedrich List gekannt, hätten Sie schon im Titel Ihres Buches einen Kontrapunkt zu Marx gesetzt und die Überschrift Das geistige Kapital gewählt. In Lists Hauptwerk heißt es:
„Bezeichnet man nur die körperliche Arbeit als Ursache des Reichtums, wie läßt sich dann erklären, warum die neueren Nationen ohne Vergleichung reicher, bevölkerter, mächtiger und glücklicher sind als die Nationen des Altertums? ... Der jetzige Zustand der Nationen ist eine Folge der Anhäufung aller Entdeckungen, Erfindungen, Verbesserungen, Vervollkommnungen und Anstrengungen aller Generationen, die vor uns gelebt haben; sie bilden das geistige Kapital der lebenden Menschheit, und jede Nation ist nur produktiv in dem Verhältnis, in welchem sie diese Errungenschaft früherer Generationen in sich aufzunehmen und sie durch eigene Erwerbungen zu vermehren gewußt hat...“
Für List hing alles davon ab, ob Wissenschaft und Künste blühen, ob die öffentlichen Institutionen und Gesetze Religiosität, Moralität und Intelligenz, Sicherheit der Person und des Eigentums, Freiheit und Recht produzieren und auch Handel, Landwirtschaft und Manufakturen gleichzeitig aufblühen.
Das, hochwürdigster Erzbischof, war keine bloße Theorie, sondern das wurde zum Erfolgsmodell in den Vereinigten Staaten von Amerika, auch in verschiedenen anderen Ländern und besonders in Deutschland. Letztlich hat die soziale Marktwirtschaft, so strapaziert der arme Begriff auch ist, ihre Wurzeln hier, und auch die Errungenschaften, zu denen von Ketteler beigetragen hat.
Dieses Prinzip galt als das Modell des Amerikanischen Systems im Unterschied zum imperialen Freihandelsprinzip. Hören Sie sich an, was Friedrich List im 2. Brief vom Juli 1827 an Ingersoll schreibt:
„Die englische Nationalökonomie sucht zu beherrschen; die amerikanische Nationalökonomie ist nur bestrebt, unabhängig zu werden. Da es keine Ähnlichkeit zwischen beiden Systemen gibt, gibt es auch keine Ähnlichkeit bei den Konsequenzen, die aus diesen Systemen entstehen. In diesem Land (den Vereinigten Staaten) wird es so wenig eine Überproduktion von Wollwaren geben, wie es jetzt eine Überproduktion an Zierwaren gibt; die Fabriken werden keine Laster hervorbringen, denn jeder Arbeiter kann genug verdienen, um seine Familie auf ehrlichem Weg zu ernähren; niemand wird leiden oder verhungern wegen Mangels an Arbeit, weil der Arbeiter, der nicht genug verdienen kann, um seine Familie zu erhalten, das Land bebauen kann, denn es gibt noch Land genug, daß Hunderte Millionen freie Bauern werden könnten. Nachdem ich den fundamentalen Irrtum von Smith und Say aufgeklärt habe, der darin besteht, daß sie kosmopolitische Ökonomie mit politischer Ökonomie verwechseln, werde ich in meinem nächsten Briefe versuchen zu zeigen, infolge welcher Irrtümer diese gefeierten Autoren dazu kamen zu behaupten, der Wohlstand und die Industrie einer Nation könnten durch Beschränkungen [Schutzmaßnahmen, Anm. AA] nicht vermehrt werden.“ Hervorhebung im Original.
Im Jahr 1876 veröffentlichte der Merkur Briefe von Henry C. Carey an die Times, welche die Überschrift trugen: „Verkehr, Christentum und Zivilisation gegen britischen Freihandel“. Darin beschreibt er sehr detailliert, welche Staaten mit großem Nutzen der Schutzpolitik folgten, und welche unter der Freihandelspolitik litten.
Als Reichskommissar Reuleaux 1876 bei der Weltausstellung in Philadelphia den gewaltigen Unterschied zwischen den amerikanischen und den deutschen Ausstellungsstücken beobachten konnte, wurde auf Betreiben von Bismarcks auch in Deutschland eine Schutzpolitik gegen den Freihandel eingeführt.
Karl Marx, dem die Schriften von List und Carey durchaus bekannt waren, lehnte das Amerikanische System ab, entschied sich für den Klassenkampf und machte sich auf diese Weise sehr interessant, um als scheinbarer Gegensatz zu Adam Smith benutzt zu werden.
Wie viele Wirtschaftsschulen haben seither vor dem Gespenst des Kommunismus gewarnt, und dabei gleichzeitig ihre eigenen imperialen Rezepte angepriesen?
Ich hoffe sehr, daß Sie ein Freund der Wahrheit sind und noch heute anfangen, Friedrich List zu lesen. Dann werden Sie verstehen, daß eine globale soziale Marktwirtschaft eine gefährliche Fiktion ist.
Mit freundlichem Gruß
Andrea Andromidas
Lesen Sie hierzu bitte auch: Der Aufstieg einer neuen Zombie-Kultur: Man hat euch karlmarxt! - Neue Solidarität Nr. 52/2008 Physische Ökonomie, die "verbotene Wissenschaft" - Neue Solidarität Nr. 33-34/2004 Kernthema: Physische Wirtschaft - Neue Solidarität online |
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