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Prof. Dietrich Murswiek ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht sowie deutsches und internationales Umweltrecht an der Universität Freiburg. Er vertrat den Abg. Dr. Peter Gauweiler in dessen Klage gegen den Lissaboner Vertrag, über die das Bundesverfassungsgericht am 30. Juni entschieden hat. In dem folgenden Interview mit Claudio Celani und Rainer Apel erläuterte er am 1. Juli die Einzelheiten und Bedeutung des höchstrichterlichen Urteils.
Celani: Herr Professor, Sie sind der Vertreter der Anklage gegen den Lissaboner Vertrag gewesen. Ist es richtig, das so zu formulieren?
Murswiek: Anklage kann man nicht sagen, Vertreter des Klägers.
Celani: Des Klägers, ja, von Dr. Gauweiler, richtig?
Murswiek: Ja.
Celani: Das Urteil von Karlsruhe ist in vielen Medien, aber auch von der Regierung in Berlin und von der EU-Kommission in Brüssel sofort empfangen worden als ein Triumph des Lissaboner Vertrages. Sehen Sie das auch so?
Murswiek: Nein, diese Einschätzung ist ganz falsch, und zwar aus zwei Gründen. Der Vertrag konnte vom Bundesverfassungsgericht nur unter bestimmten Bedingungen akzeptiert werden.
Erstens ist das deutsche Begleitgesetz für verfassungswidrig erklärt worden, und das Bundesverfassungsgericht hat dem deutschen Gesetzgeber zur Auflage gemacht, dieses Gesetz in umfassender Weise nachzubessern. Es sind sehr viele Punkte in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes aufgezählt, die der Gesetzgeber in das Begleitgesetz noch einarbeiten muß. Dabei geht es darum, daß die Weiterentwicklung der europäischen Verträge im „vereinfachten Änderungsverfahren“ und auf der Basis der sog. Brückenklauseln nicht ohne ausdrückliche, gesetzliche Zustimmung des Bundestages vorgenommen werden darf. Also eine Stärkung der demokratischen Rechte des nationalen Parlamentes. Das ist der eine Punkt.
Die andere Sache ist, daß das Bundesverfassungsgericht den Vertrag von Lissabon keineswegs so akzeptiert hat, wie er auf dem Papier steht, sondern es hat gesagt: Der Vertrag ist nur in der Auslegung mit dem Grundgesetz vereinbar, die vom Bundesverfassungsgericht in der Begründung seines Urteils gegeben wird. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Vielzahl von Punkten gesagt, bestimmte Vorschriften des Vertrages müssen sehr eng ausgelegt werden, d.h., die Kompetenzen, die der Vertrag europäischen Organen, insbesondere dem europäischen Gesetzgeber gibt, dürfen nicht weit ausgelegt werden, sondern nur in einem sehr begrenzten Sinne. Das ist für die Anwendung des Vertrages in Deutschland verbindlich, nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes. Und damit erhält der Vertrag eine sehr viel präzisere und die Souveränität der Mitgliedstaaten besser wahrende Bedeutung, als er es ohne die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes gehabt hätte.
Celani: Aber Herr Professor, wenn ich sie unterbrechen darf: Wenn ich den Lissaboner Vertrag richtig gelesen habe, da sind die Kompetenzen sehr weit ausgelegt, d.h., das ist jetzt eine Eingrenzung des Vertrages, oder?
Murswiek: Das ist eine Eingrenzung des Vertrages. Im Grunde genommen gibt das Verfassungsgericht dem Vertrag teilweise einen anderen Inhalt. Es ist ja so: Die Begriffe, die ein Vertrag verwendet, sind auslegungsfähig, es sind oft unbestimmte Begriffe, die können in der einen oder anderen Weise ausgelegt werden, und wenn es da mehrere Auslegungsmöglichkeiten gibt, da hat das Bundesverfassungsgericht gesagt: Nur die eine Auslegungsmöglichkeit, nämlich diejenige, die den europäischen Organen weniger Kompetenzen gibt, und mehr Kompetenzen auf der nationalen Ebene läßt, nur diese enge Auslegungsmöglichkeit ist die richtige, und nur diese kann von Deutschland akzeptiert werden.
Celani: Was muß jetzt praktisch passieren?
Murswiek: Es wird jetzt folgendes passieren: Zunächst mal muß der Bundestag ein neues Gesetz machen, indem er die vom Bundesverfassungsgericht vorgeschriebenen Parlamentsvorbehalte regelt. Das ist das eine. Das andere ist der Umstand, daß das Bundesverfassungsgericht betont, es habe selber die Kontrollkompetenz, darüber zu wachen, daß die europäischen Organe ihre Kompetenzen, die ihnen der Vertrag einräumt, nicht überschreiten.
Das bedeutet: Der Vertrag als solcher kann in Kraft treten, er wird jetzt nicht geändert, aber wenn eines Tages die europäischen Organe den Vertrag anders auslegen und anwenden als das Bundesverfassungsgericht es jetzt formuliert hat, dann wird es zum Konflikt kommen. Dann kann die Situation eintreten, daß das Bundesverfassungsgericht sagt, ein bestimmter Rechtsakt, den die europäischen Organe beschlossen haben, überschreitet die Kompetenzen und ist deshalb in Deutschland nicht anwendbar. Dann könnte es passieren, der Europäische Gerichtshof ist da anderer Auffassung, und dann haben wir eine Konfliktsituation, und dann wird sich zeigen müssen, ob das Bundesverfassungsgericht sich durchsetzt, ob es bereit ist, diesen Konflikt mit dem Europäischen Gerichtshof einzugehen.
Celani: Der Bundestag muß jetzt ein neues Begleitgesetz verabschieden, d.h., der Bundestag kann, wenn der Bundestag will, die Souveränität Deutschlands wiedergewinnen?
Murswiek: Der Bundestag kann nicht den Vertrag ändern. Es geht jetzt bei dem Begleitgesetz nur darum, für bestimmte Entscheidungen, die nach dem Vertrag ohne Beteiligung des Parlamentes möglich sind, die Parlamentsbeteiligung vorzuschreiben.
Celani: Das betrifft z.B. die Regelungen im Vertrag, die als „Ermächtigungsgesetz“ bezeichnet worden sind.
Murswiek: Genau, die sogenannte Flexibilitätsklausel. Nach dieser Klausel kann die Europäische Union durch Beschluß des Rates sich selbst zusätzliche Kompetenzen verschaffen, also Rechtsakte auf Gebieten erlassen, für die sie eigentlich keine Kompetenz hat. Und diese Flexibilitätsklausel ist durch den Vertrag von Lissabon stark erweitert worden. Es gab schon eine solche Klausel, die sich aber nur auf die Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes bezog, und diese Begrenzung ist durch den Vertrag von Lissabon aufgehoben worden. Sie ist jetzt auf alle Gebiete mit Ausnahme der Außenpolitik anwendbar, und es bestand die Gefahr, daß daraus eine sogenannte „Kompetenzkompetenz“ für die Europäische Union entsteht, also die Kompetenz, sich selbst neue Kompetenzen zu verschaffen.
Celani: Richtig.
Murswiek: Und dem hat das Bundesverfassungsgericht jetzt einen Riegel vorgeschoben, indem es gesagt hat: Der Rat kann einen Beschluß auf der Basis der Flexibilitätsklausel nicht treffen, wenn nicht das nationale Parlament, also Bundestag und Bundesrat, in Form eines Zustimmungsgesetzes dem zustimmen. Also da ist noch einmal eine verfahrensrechtliche Hürde eingebaut worden, die genauso aussieht wie die Hürde, die für die Änderung des Vertrages im völkerrechtlichen Vertragsänderungsverfahren besteht.
Celani: Sie haben gesagt, die Richter haben nicht den EU-Vertrag für verfassungswidrig erklärt, sondern das Begleitgesetz. Haben Sie zu dieser Entscheidung, den EU-Vertrag nicht für verfassungswidrig zu erklären, einen Kommentar?
Murswiek: Es ist so, daß der Vertrag, so wie das Bundesverfassungsgericht ihn ausgelegt hat, in dieser einschränkenden Auslegung, unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten längst nicht mehr so bedenklich ist, wie der Vertrag ohne diese einschränkende Auslegung gewesen wäre. In dieser engen Auslegung könnte er durchaus akzeptabel sein, jedenfalls ist das die Auffassung, die mein Mandant, Dr. Gauweiler, vertritt.
Ein Problem ist sicherlich, daß das Bundesverfassungsgericht es unterlassen hat, der Bundesregierung aufzugeben, einen völkerrechtlichen Vorbehalt zu machen, der besagt, daß für Deutschland der Vertrag nur gelten kann in dieser eingeschränkten Interpretation des Bundesverfassungsgerichtes. Daraus können nachher für die Anwendung Probleme resultieren.
Celani: Ist das das, was Sie ursprünglich wollten?
Murswiek: Ja. Wir haben darauf hingearbeitet, daß Vorbehalte gemacht werden, und das ist leider nicht geschehen.
Celani: Wie sieht es aus mit Begleitgesetzen in anderen Ländern? Wissen Sie das?
Murswiek: Das weiß ich nicht genau. Es gibt sicherlich ähnliche Regeln in anderen Ländern, aber wie die genau ausgestaltet sind, ist mir nicht bekannt.
Apel: Herr Professor, ich hätte die Frage, ob sie einen Einblick haben, wie sich die Lage in Prag entwickeln wird? Ich habe jetzt natürlich nur die Nachrichtenmeldungen aus der Tschechischen Republik gehört, daß dort noch ein Abschlußverfahren ansteht bei dem Obersten Gerichtshof, und daß hier von Seiten der tschechischen Senatoren zahlreiche einschränkende Punkte vorgebracht werden. Es könnte also vielleicht darauf hinauslaufen, daß man dem Beispiel des Bundesverfassungsgerichtes folgt und ebenfalls eine Reihe von Einschränkungen machen, die dann den Vertrag doch wesentlich abändern und dann akzeptabel machen für die Tschechen.
Murswiek: Es ist durchaus denkbar, daß das tschechische Verfassungsgericht sich an dem Vorbild des Bundesverfassungsgerichts orientiert. Aber darüber kann man nur spekulieren, ich habe da auch keine näheren Informationen.
Celani: Herr Professor, welche Klauseln des EU-Vertrags, so wie er jetzt ist, werden die Rechte des Bundestags reduzieren oder außer Kraft setzen?
Murswiek: Ich will jetzt keine konkrete Vorschrift nennen, es gibt eine ganze Menge von Vorschriften, die sich auf das vereinfachte Vertragsänderungsverfahren beziehen, oder die schon genannte Flexibilitätsklausel, und hier hat das Bundesverfassungsgericht ja Abhilfe geschaffen mit seiner Entscheidung.
Celani: Im Urteil ist ein neues Argument, glaube ich, d.h., die Richter leiten aus der Präambel des Grundgesetzes ab, daß das Grundgesetz europafreundlich ist. Aber, wenn das Grundgesetz europafreundlich ist, dann heißt das aber nicht, daß ein Staatenverbund souveräner Staaten europaunfreundlich ist.
Murswiek: Nein, nein. Im Gegenteil, das Bundesverfassungsgericht betont einerseits die Europafreundlichkeit des Grundgesetzes, andererseits - und das ist jetzt neu, das hat es in der Form noch nicht gesagt - sagt es, daß das Grundgesetz auch das Prinzip der souveränen Staatlichkeit enthält, und das bedeutet, daß bei der europäischen Integration die Bundesrepublik Deutschland ein souveräner Staat bleiben muß. Und wenn die Europäische Union sich zu einem Bundesstaat entwickeln wollte, in welchem die Mitgliedstaaten nicht mehr souveräne Staaten sind, dann dürfte Deutschland da nicht mitmachen.
Celani: Das sind deutliche Worte.
Murswiek: Das ist ganz eindeutig ausgesprochen worden. Dann müßte zuvor das Grundgesetz durch eine verfassungsgebende Entscheidung des Volkes erst geändert werden. Also das geltende Grundgesetz läßt das nicht zu, es wäre eine verfassungsgebende Volksentscheidung Voraussetzung dafür, daß man so etwas macht.
Celani: Es klingt sehr klug, was die Verfassungsrichter ausgesprochen haben.
Jetzt eine andere Frage: Worin sehen Sie den Grund, daß die Bundestagsabgeordneten den Widerspruch des von ihnen verabschiedeten Begleitgesetzes zum Grundgesetz nicht erkannt haben?
Murswiek: Ich gehe davon aus, daß die Bundestagsabgeordneten sich darüber gar keine Gedanken gemacht haben, die haben einfach ohne groß darüber nachzudenken, dem zugestimmt, was die Bundesregierung ihnen vorgelegt hat.
Celani: Also, sie haben leichtsinnig...
Murswiek: Das ist sehr leichtfertig, und ich meine, das ist eine ganz große Blamage für die Bundestagsmehrheit, daß das Bundesverfassungsgericht ihnen jetzt zeigt, daß die Abgeordneten in verfassungswidriger Weise ihre eigenen Rechte aufgegeben haben.
Apel: Herr Professor, da habe ich die Frage: Wenn jetzt der Bundestag in die Revision geht, in die Überarbeitung - ich bin selbst vor dem Hintergrund, was bisher gelaufen ist, sehr skeptisch, daß dabei das herauskommt, was man sich jetzt nach diesem Urteil eigentlich wünschen kann, aber das mal beiseitegestellt: Wer wird überprüfen, daß es auch dem Urteil entspricht, was die Abgeordneten jetzt im August oder September vorlegen?
Murswiek: Herr Gauweiler und ich werden das ganz genau prüfen, und wenn das Begleitgesetz nicht den Anforderungen entsprechen sollte in jedem einzelnen Punkt, den das Bundesverfassungsgericht aufgestellt hat, dann werden wir erneut klagen.
Celani: Sehr gut. Wir drücken Ihnen die Daumen.
Murswiek: Danke schön.
Celani: Wann wird dann der Bundespräsident Ihrer Meinung nach, wenn alles richtig läuft...
Murswiek: Der Bundestag darf erst ratifizieren, wenn das geänderte Begleitgesetz verabschiedet worden ist.
Celani: Wir das voraussichtlich vor oder nach der Bundestagswahl sein?
Murswiek: Das kann ich noch nicht einschätzen. In der Presse habe ich gelesen, daß seitens des Bundestages und der Regierung angestrebt wird, das noch im September hinzubekommen.
Celani: Es gibt auch die Möglichkeit, daß der neue Bundestag das tut.
Murswiek: Ja. Eigentlich wäre das sinnvoller, weil man Zeit braucht, das Urteil genau zu analysieren und ein ganz sorgfältiges Gesetz zu machen. Wenn man das zu hastig macht, ist die Gefahr zu groß, daß dabei wieder Fehler entstehen.
Celani: Richtig.
Ich hätte keine andere Frage. Wollen Sie noch etwas dazu sagen, Herr Professor?
Murswiek: Ja, noch ein Hinweis ist vielleicht wichtig. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich festgestellt, daß die Legitimation der EU-Organe im jetzigen System nicht den Anforderungen des Demokratieprinzips entspricht. Wenn manche Europaabgeordnete im Fernsehen gestern etwas anderes gesagt haben, dann ist das falsch. Im Urteil steht drin: Die EU ist nicht hinreichend demokratisch legitimiert. Das Bundesverfassungsgericht hat nur deshalb den Vertrag trotz des strukturellen Demokratiedefizits für mit dem Grundgesetz vereinbar angesehen, weil es gesagt hat, das Parlament hat noch nicht so viele Aufgaben, wie ein staatliches Parlament, und deshalb sei es nicht erforderlich, daß es in vollem Umfang demokratisch legitimiert ist.
Celani: Das ist sehr wichtig, und wir werden dafür sorgen, daß diese Erklärung auch in anderen Ländern verbreitet wird.
Vielen Dank.