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Neue Solidarität
Nr. 24, 10. Juni 2009

60 Jahre Grundgesetz

Die Idee der im Grundgesetz verankerten „unveräußerlichen Rechte“ geht über die Paulskirchen-Verfassung von 1848 zurück auf das Vorbild der amerikanischen Revolution. Aber sie bleiben nur erhalten, wenn die Bürger sie verteidigen.

Zu Beginn die Auflösung unserer Frage aus der Neuen Solidarität Nr. 22-23/2009: Es handelt sich um ein Zitat (S.79/80) aus Wilhelm Liebknechts Bericht über seine mehrmonatige Reise durch die USA im Jahr 1886, der im darauffolgenden Jahr unter dem Titel Ein Blick in die Neue Welt im Stuttgarter Verlag von J.H.W. Dietz erschien. Liebknecht (1826-1900), der diese Reise im Rahmen einer Vortragstournee für die Sache der Sozialdemokratie in Nordamerika unternahm, erwähnt in seinem Reisebericht diese Parteivorträge allerdings so gut wie gar nicht. Thema sind ausschließlich seine Eindrücke von „Land und Leuten“, und die Art und Weise seiner Berichterstattung weist ihn als Republikaner und Anhänger der „großen transatlantischen Republik“ aus, die er sowohl gegen „linke“ als auch „rechte“ Kritik verteidigte. Das brachte ihm das Mißtrauen von Marx und Engels sowie anderer führender Vertreter der Sozialdemokratie ein und die Gegnerschaft von Lord Palmerston und der preußischen Oligarchie.

Der wiedergegebene Ausschnitt der kleinen „Examination ... in der Heimathskunde“ einer amerikanischen Volksschulklasse, der Liebknecht beiwohnen durfte, reflektiert mit seinem Verweis auf die Volkssouveränität als dem Wesen der Republik (Eine Republik ist „ein freier Staat..., in welchem das Gesetz herrscht, und die Gesetze vom Volk gemacht werden.“) offensichtlich die Präambel der US-Verfassung („We the People...“) wie auch nachfolgende Erörterungen der Frage, nicht zuletzt das Ergebnis des amerikanischen Bürgerkriegs, in dessen Verlauf Lincoln im November 1863 zu Ehren der Gefallenen seine berühmte Rede in Gettysburg hielt, die mit den Worten endet: „... auf daß die Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk nicht von der Erde verschwinden möge.“

Liebknecht stand in der ersten Hälfte der 1860er Jahre in engem Kontakt mit dem Lincoln-Freund und US-Botschafter in Berlin (1861-1865) Norman B. Judd. Nach Lincolns Ermordung organisierte er ein Kondolenzschreiben des Berliner Zweiges des „Allgemeinen Deutschen Arbeiter Vereins“ (ADAV) an Lincolns Nachfolger Andrew Johnson, das Botschafter Judd an sein Außenministerium weiterleitete. Der Marxismus war nicht die politische Wurzel Liebknechts, sondern die Erfahrung der Jahre 1848/49 und damit die republikanische Tradition der amerikanischen Revolution. 1847 war er drauf und dran gewesen, in die USA auszuwandern.

Die „unveräußerlichen Rechte“

In den Jahrzehnten vor der Revolution von 1848 war die amerikanische Republik, für Europa und besonders Deutschland, zum Modell einer fortschrittlichen politischen Umgestaltung  geworden. Die französische Entwicklung hatte sich nach hoffnungsvollem Beginn selbst diskreditiert.1 In seinem letzten Drama, dem Wilhelm Tell, bezog sich Friedrich Schiller 1804, „verpackt“ in die Tell-Sage der Schweizer, auf die amerikanische Revolution und beschwor die „unveräußerlichen Rechte“, die später in der Paulskirchenverfassung als „Grundrechte des deutschen Volkes“ und 1949 als die ersten 19 Artikel des Grundgesetzes wieder auftauchten. Im Wilhelm Tell läßt Schiller auf dem Höhepunkt der Rütli-Szene den Schweizer Anführer Stauffacher ausrufen:

Wer sich seinen musikalischen Sinn für die menschliche Sprache noch nicht hat verkümmern lassen, wird hier neben dem Gleichklang der Ideen ohne Mühe die Ähnlichkeit zur Satzmelodie (Prosodie) des Beginns der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 hören:

In den Befreiungskriegen gegen Napoleon ging die Schaffung der preußischen Landwehr auf das Vorbild des amerikanischen Milizsystems der Revolutionszeit zurück. Hans Christoph von Gagern, nassauischer Diplomat und Vater des späteren Präsidenten des Paulskirchenparlaments Heinrich von Gagern, wies bereits 1813 auf die Bedeutung der US-Verfassung hin, und der Reichsjustizminister zur Zeit der Paulskirche, der badische Politiker Robert von Mohl, veröffentliche 1824 sein unvollendetes Werk „Das Bundes-Staatsrecht der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika“. In deutscher Sprache war die US-Verfassung seit 1834 durch die Veröffentlichung Georg Heinrich Engelhards „Die Verfassungen der Vereinigten Staaten Nordamerikas“ zugänglich.

Im Mai 1832 trafen sich mehr als 30.000 Teilnehmer zum „Hambacher Fest“ auf der Ruine des Schlosses bei Neustadt a.d. Weinstraße zur „ersten politischen Volksversammlung der neueren deutschen Geschichte“ (Theodor Heuss). Die einsetzende Verfolgungswelle von Seiten der Staatsgewalt brachte auch die Initiatoren der Versammlung vor Gericht, wo der Journalist Johann Jacob Siebenpfeiffer in seiner Verteidigungsrede prophezeite: „Die Zukunft wird zeigen, daß Europa so geeignet wie Amerika für echt republikanische Gemeinwesen“ ist. Der badische Liberale Rotteck - einer der Herausgeber des „Staats-Lexikons“ und 1832 eines der vielen Opfer der „Demagogenverfolgung“ - pries zu Beginn der dreißiger Jahre die Vereinigten Staaten als „das edelste, herrlichst aufblühende, hoffnungs- und segensreichste Gemeinwesen der Welt.“ Sein Parlamentskollege Welcker faßte dies 1834 in die folgenden Worte: „Von allen Bundesverfassungen der Welt aber war wohl nie irgendeine vollkommener, naturgemäßer besser abgewogen, genauer den höchsten Grundsätzen und Bedürfnissen entsprechend als die nordamerikanische.“

Diese Idee pflanzte sich bis in die radikalen Kreise der 48er Revolution fort, wo bei den Versammlungen der Demokraten neben der deutschen Trikolore (Schwarz-Rot Gold) das Sternenbanner einen gleichberechtigten Platz einnahm. Im Revolutionsjahr 1848/49 war die US-Verfassung das Geschäft, das sich kein Verleger entgehen lassen wollte. Mindestens zehn verschiedene Ausgaben kamen in Deutschland auf den Markt.3

Anfang März 1848, unmittelbar nach Bekanntwerden der revolutionären Ereignisse in Frankreich, wurden im deutschen Südwesten (Baden) die ersten Schritte zum Entwurf einer einheitlichen deutschen Verfassung unternommen.4 Die ab dem 18. Mai in der Frankfurter Paulskirche tagende deutsche Nationalversammlung machte sich dann an deren konkrete Ausarbeitung.

Als erstes Resultat wurden im Dezember 1848 die „Grundrechte des deutschen Volkes“ verabschiedet, die als Abschnitt VI (§§ 130-189) in die Reichsverfassung vom 28. März 1849 übernommen wurden. Hier finden sich die „unveräußerlichen Rechte“ von 1776 wieder. Dementsprechend heißt es eingangs: „Sie [die Grundrechte] sollen den Verfassungen der deutschen Einzelstaaten zur Norm dienen, und keine Verfassung oder Gesetzgebung eines deutschen Einzelstaates soll dieselben je aufheben oder beschränken können.“

Diese Grundrechte als „unveräußerliche Rechte“ finden sich in der deutschen Verfassungsentwicklung erst im Grundgesetz von 1949 wieder. Dort bestimmt Artikel 79, Absatz 3: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“

Weimarer Republik und Kaiserreich

Grundrechte kannte auch die Weimarer Verfassung von 1919, doch standen sie von Anfang an unter dem Vorbehalt von Artikel 48, der in seinem 2. Absatz bestimmte: „Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.“ Auf der formal-juristischen Grundlage dieses „Notverordnungs“-Artikels wurde nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 die Bürgerrechte der Weimarer Republik außer Kraft gesetzt und die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ erlassen, die mit dem Satz beginnt: „Aufgrund des Artikels 48 Abs. 2 der Reichsverfassung wird zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte folgendes verordnet.“  Mit dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 („Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“) wurde die Weimarer Verfassung, die niemals offiziell außer Kraft gesetzt wurde, beiseite gedrängt und die Nazidiktatur scheinlegal begründet. Das Ermächtigungsgesetz wurde vom dann nur noch aus NSDAP-Mitgliedern bestehenden Reichstag zweimal verlängert (1937 und 1939). 1943 hielt Hitler noch nicht einmal mehr das für nötig. Er verlängerte sich das Ermächtigungsgesetz einfach selbst (per „Führererlaß“).

Die Verfassung des Kaiserreichs von 1871 (bis 1918), die im wesentlichen von Bismarck selbst bestimmt worden war, kannte keine Grundrechte.

Volkssouveränität

Neben den „unveräußerlichen Rechten“ (Grundrechten) ist die Frage der Volkssouveränität als Erbe der amerikanischen Revolution in das Grundgesetz eingegangen. In seiner Präambel heißt es: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen ... hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“ Die „verfassungsgebende Gewalt“ des Volkes war im 19. Jahrhundert in Deutschland vor und nach der 1848er Revolution nicht gegeben. Vielmehr beharrten die verschiedenen Monarchen einschließlich Kaiser Wilhelm I. (1871-1888) und seiner Nachfolger bis 1918 darauf, daß ihnen die Macht „von Gott“ gegeben sei.

Im Sept./Okt. 1854 hielt der Historiker Leopold von Ranke dem bayerischen König Maximilian II. Joseph (1848-1864) Privatvorlesungen über Geschichte.5 Wie der preußische König Friedrich Willhelm IV. („Untertanen können keine Krone vergeben“) lehnte er die von der Paulskirche verabschiedete Reichsverfassung ab und löste damit den pfälzischen Aufstand aus (die Rheinpfalz gehörte seit 1777 zu Bayern), zu dessen Niederschlagung er preußisches Militär ins Land rief, das vom Bruder des preußischen Königs, dem späteren Kaiser Wilhelm I., befehligt wurde.

In seinen Privatvorlesungen für den bayerischen König kam Ranke, der selbst Monarchist war, gegen Ende auf die amerikanische Revolution zu sprechen, über die er folgendes zu sagen hatte:

Der Bismarckschen Reichsverfassung von 1871, die eine im wesentlichen fortgeschriebene Version der von Bismarck entworfenen Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867 war, war dementsprechend das Prinzip der Volkssouveränität völlig fremd. Wenn die amerikanische Verfassung von 1787 in ihrer Präambel „We the People...“ als den Souverän benannte, waren es in der deutschen Verfassung von 1867/1871 die Reichsfürsten, die als Reichseiner und Verfassungsgeber benannt und aufgezählt wurden. Insofern lag es durchaus in der formaljuristischen Logik dieser Verfassung, wenn Bismarck nach der Reichstagswahl vom Februar 1890, bei der die Sozialdemokratie trotz ihres nach wie vor bestehenden Verbots zur nach Stimmen stärksten Partei geworden war, die Verfassung von 1871 durch die Reichsfürsten aufheben lassen, d.h. einen Staatsstreich machen, wollte,6 was die verspätete Version des schon 1862 vom preußischen Generalstab vorbereiteten Putsches geworden wäre. Dazu kam es allerdings nicht, Bismarck wurde vorher entlassen.

Die Verfassung der Weimarer Republik war in Hinsicht der Volkssouveränität eindeutig. Ihre Präambel lautet:

Und gleich danach, in Artikel 1, Absatz 1 und 2 der Verfassung heißt es:

Aktuelle Probleme

Obwohl das Grundgesetz mit seinen 60 Jahren die beständigste und auch die freiheitlichste Verfassung Deutschlands in den vergangenen 200 Jahren ist, sollen und dürfen Probleme der Vergangenheit, deren Entwicklung bis heute und die Aussichten für die Zukunft nicht übergangen werden.

Nach 1945 wurde von den Staats- und Verwaltungsrechtlern des Dritten Reichs nur Carl Schmitt (1888-1985, „Kronjurist des Dritten Reichs“) „aus dem Verkehr gezogen“: Das Nürnberger Tribunal belegte ihn mit Berufsverbot. Ansonsten gab es eine Kontinuität in die entstehende Bundesrepublik hinein. Am bekanntesten ist der Fall des Verwaltungsjuristen Theodor Maunz (1901-1993), der nicht nur als Berater am Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee (1948) teilnahm, sondern auch zum Mitautor des (bis heute) maßgebenden  Interpretationswerks zum Grundgesetz, des sogenannten „Maunz/Dürig“, wurde. Als bayerischer Kultusminister mußte er 1964 wegen seiner NS-Vergangeheit zurücktreten. Einer seiner Schüler war der spätere Präsident des Bundesverfassungsgerichts und Bundespräsident Roman Herzog, der Maunz sechs Jahre lang als Assistent gedient hat. Als Maunz 1993 starb, veröffentlichte der Vorsitzende der rechtsextremen DVU, Dr. Gerhard Frey, Beiträge, die Maunz für Freys Deutsche Nationalzeitung anonym geschrieben hatte. Die „Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer“ sah sich erst bei ihrem Jahreskongreß 2000 erstmals imstande, die Rolle der Staatsrechtslehre im Dritten Reich zum Thema eines Vortrags zu machen. Offensichtlich waren bis dahin „die Alten“ so stark vertreten gewesen, daß eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit nicht erwünscht gewesen war. Daß eine derartige personelle Ausstattung in diesem Bereich seine Auswirkung gehabt hat, sollte nicht  überraschen.

Zu großen Auseinandersetzungen kam es 1968, als die damalige Große Koalition mit ihrer Mehrheit von mehr als zwei Dritteln der Bundestagsmandate eine das Grundgesetz ändernde Notstandsgesetzgebung verabschiedete, die im Krisenfall die rechtliche Möglichkeit schuf, bestimmte Grundrechte aufzuheben. Die Kritiker der Notstandsgesetze befürchteten, daß damit so etwas wie der Mechanismus des Artikels 48 der Weimarer Verfassung zustande käme, mit dem die demokratische Grundordnung ausgehebelt werden könnte. Zu ihrer Beschwichtigung wurde damals ein Widerstandsrecht in das Grundgesetz aufgenommen (Art. 20,4). Es lautet: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“

Jüngsten Datums sind zwei Entwicklungen, die geeignet sind, ein Fragezeichen hinter die bloße Existenz des Grundgesetzes als wirkungsmächtiges Gesetz zu setzen: zum einen der Lissaboner Vertrag, und zweitens die Aufnahme einer sogenannten „Schuldenbremse“ in den Verfassungstext.

Der Lissaboner Vertrag ist das gescheiterte Produkt eines gescheiterten Produkts, i.e. die zweite Version der Europäischen Verfassung, die 2005 von den Bevölkerungen Frankreichs und der Niederlande in Referenden abgelehnt wurde. Diese Verfassung wurde daraufhin umdeklariert und Vertrag von Lissabon genannt, um sie mit dem neuen Etikett versehen durch die europäischen Parlamente zu bringen. Die Bevölkerung Frankreichs und der Niederlande, ganz zu schweigen von anderen, durften nicht mehr abstimmen, denn sie hatten (sich) ja beim ersten Mal „versagt“. Nur ein einziges Referendum, das in Irland, war nicht zu umgehen, und prompt geschah das, was bei Referenden in anderen europäischen Ländern auch geschehen wäre: Die Iren sagten im Juni 2008 „nein“. Nun will man sie im Laufe des Jahres 2009 unter Verletzung der eigenen Verfahrensregeln noch einmal abstimmen lassen, denn wie der tschechische Staatspräsident Vaclav Klaus völlig richtig feststellt, ist der Lissaboner Vertrag nach dem irischen „nein“ tot, was ihn davon abhält, diesen „Zombie-Vertrag“ zu unterzeichnen. Das Karlsruher Verfassungsgericht muß in diesem Sommer noch über Verfassungsbeschwerden zum Lissaboner Vertrag entscheiden. Lehnt es diese Beschwerden ab, entmachtet es sich auch selbst. Der Lissaboner Vertrag nimmt dem Bundesverfassungsgericht nämlich die Kompetenz, gegen Entscheidungen auf europäischer Ebene einzuschreiten.

Bei der Schuldenbremse handelt es sich um eine noch stärkere, verfassungsrechtliche Angleichung an das Maastrichter 3%-Defizitkriterium. Statt einen Kreditmechanismus zu schaffen, der ein „Herausarbeiten“ aus der Wirtschaftskrise durch Wirtschaftswachstum und technische Erneuerung (Produktivitätsverbesserung) ermöglicht, verbaut man sich genau diesen Weg. Der Passus, daß die Bundesländer ab 2020 überhaupt keine Schulden mehr machen dürfen, nimmt ihnen im Prinzip das Budgetrecht und damit ihre unabhängige Existenz und ist somit nach Art. 79,3 GG verfassungswidrig.

„Wir sind das Volk“

Bei diesen sehr konkreten Problemen für das Überleben des Grundgesetzes gibt es eigentlich nur eine wirkliche Abhilfe: eine Bevölkerung, für die das Bestimmen über die Zukunft des eigenen Gemeinwesens so wichtig und selbstverständlich sein muß wie alle anderen Dinge der täglichen Lebensgestaltung. Diese Selbstregierung des Volkes war in den letzten zweihundert Jahren in Deutschland, leider, keine Selbstverständlichkeit. Die Politik der Regierung mochte gut sein, eine Mitwirkung der Bevölkerung aber, die die Richtung bestimmen würde, war nicht erwünscht. Zur Illustrierung dessen sei hier die Stimme eines ausländischen Beobachters zitiert. Es handelt sich um Henry Wheaton, der von 1835-1845 US-Botschafter in Berlin war und sich in Berichten an sein Außenministerium voller Anerkennung über die Entwicklung seit den Befreiungskriegen und den preußischen Reformen äußerte. Zugleich aber übersah er nicht die mit dieser Politik einhergehende politische Entmündigung des Volkes, wenn er 1835 anläßlich der Gründung des Zollvereins schrieb:

Und das, d.h. der Versuch, die Bevölkerung in einer „mündelhaften Abhängigkeit“ zu halten, war keine einmalige Episode im 19. Jahrhundert, sondern in den vergangenen 200 Jahren mehr oder weniger die beständige Politik.

Es gilt also, einmal eingeschlagene Gewohnheiten politischer Passivität sich wieder abzugewöhnen und die Zukunft in die eigene Hand zu nehmen.

Das größte Kapital in dieser Hinsicht ist noch ziemlich frisch und brachte vor 20 Jahren die Mauer zum Einsturz und Deutschland zur Einheit. Es war das Engagement der vielen hunderttausend Bürger, die in Leipzig, Berlin, Dresden und vielen anderen Städten auf die Straße gingen und deren Schlachtruf war:

Hans Peter Müller


Anmerkungen

1. Inwiefern britische Manipulationen (die Briten hatten einige Jahre zuvor bei der „amerikanischen Revolution“ in den Niederlanden schon erfolgreich eine counterinsurgency-Taktik angewandt) dabei eine entscheidende Rolle spielten, kann hier nicht näher dargestellt werden. 10 Jahre, nachdem mit der Erklärung der „Menschen- und Bürgerrechte“ durch die französische Nationalversammlung am 26.8.1789 die „unveräußerlichen Rechte“ der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ihr Echo in Frankreich gefunden hatten, erklärte Napoleon Bonaparte die Revolution für beendet und krönte sich 1804 zum Kaiser der Franzosen. Nach seiner endgültigen Abdankung wurde Frankreich wieder Monarchie und blieb es bis 1848, als Napoleons Neffe Charles Louis zunächst als Präsident und 1852 als Kaiser Napoleon III. die Herrschaft übernahm. Nach seiner Niederlage im deutsch-französischen Krieg wurde Frankreich wieder zur Republik (III. Republik), die bis zum Zweiten Weltkrieg Bestand hatte. Allerdings gab es einen Passus in der Verfassung, der jederzeit, bei entsprechender Mehrheit, erlaubt hätte, Frankreich wieder zur Monarchie zu machen. Hintergrund: Zu Beginn der III. Republik hatten die Monarchisten die Mehrheit in der Nationalversammlung, waren aber in zwei verfeindete Lager gespalten, was die Republikaner zur Schaffung der III. Republik ausnutzten, aber mit dem Zugeständnis, daß die Monarchie jederzeit wieder einführbar sein müsse.

2. In deutscher Übersetzung, die am 9. Juli 1776 im Pennsylvanischen Staatsboten in Philadelphia erschien.

3. Die Detailinformationen sind den Beiträgen von Christoph Stoll, „Die Verfassungsentwicklung im Deutschen Bund bis 1848“ und „Die Reichsverfassung von 1849 und ihr amerikanisches ,Vorbild’“  entnommen. Sie finden sich in: Von der amerikanischen Verfassung zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Verlag Moos & Partner, Gräfelfing vor München, 1988, S. 67-92.

4. Für Einzelheiten siehe: Anton Scholl, Einfluß der nordamerikanischen Unionsverfassung auf die Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849, Inauguraldissertation an der Universität Tübingen, Leipzig 1913.

5. Leopold von Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte, Leipzig 1888, d.h. diese Ausführungen Rankes wurde erst nach seinem Tod (1886) veröffentlicht. Möglich war das, weil der König die Vorträge von einem Stenographen hatte aufzeichnen lassen.

6. John C.G. Röhl, „Staatsstreichplan oder Staatsstreichbereitschaft? Bismarcks Politik in der Entlassungskrise“, in: Historische Zeitschrift, Bd. 203, Dezember 1966, S. 610-624.

7. Wheaton an US-Außenminister Forsyth, 9.12.1835. Zitiert bei: Rüdiger Schütz, „Die preußisch-amerikanischen Beziehungen in der Ära Rönne“, S. 57f. in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preussischen Geschichte, Neue Folge, 4. Band 1994, S. 31-73.

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