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Aus der Neuen Solidarität Nr. 13/2009 |
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Der wichtigste Autor der Jiddischen Renaissance, Erfinder von unsterblichen Figuren wie dem Milchmann Tewje, wäre am 2. März 200 Jahre alt geworden.
Scholem Alejchem könnten wir heute sehr gut gebrauchen! Einige angeblich intelligente Leute behaupten sogar, heutzutage sei die Ironie tot. (Einige sagen, Dick Cheney habe sie umgebracht, wie so vieles andere auch.) Aber solange Werke wie seine leben, kann die Ironie nicht tot sein.
Scholem Rabinowitz, der sich als Schriftsteller Scholem Alejchem nannte, wurde am 2. März 1859 in Perejaslaw in der Ukraine geboren. Die Familie übersiedelte in eine kleinere Stadt, Woronko, als er noch sehr jung war. Woronko war ein Schtetl - ein Dorf für Juden im Zarenreich, wo Juden kaum Aufstiegschancen hatten, weil sie nur wenige Berufe ausüben durften, die kaum ein Auskommen boten. Dies war das Vorbild für seine geliebte literarische Schöpfung: das Schtetl Kasrilewke. Der Name leitet sich ab von kasriel, was einen Mann bezeichnet, der arm, aber stolz ist, der über sein Unglück lachen und dabei seine Würde und Selbstachtung bewahren kann. Ironie!
Scholems Vater Nahum war ein geachteter Mann - nicht für seine Reichtümer, denn die hatte er nicht, sondern für sein Wissen und seine Bildung. Er bewohnte beide Welten, die den Juden im Schtetl offenstanden: Er war als orthodoxer Jude geboren und Schüler eines chassidischen Rabbiners, vertieft in das eng begrenzte, aber verzehrende Studium des Talmud und der Torah. Gleichzeitig fühlte er sich hingezogen zur Bewegung der jüdischen Aufklärung, die der große deutsch-jüdische Denker Moses Mendelssohn begründet hatte und die darauf abzielte, daß Juden auch am wissenschaftlichen Wissen und der sozialen und politischen Dynamik in der Welt außerhalb des Schtetl teilhatten.
Mendelssohns Wirkung auf den Hof Friedrichs des Großen sorgte für beträchtliche Veränderungen im Leben der Juden in Preußen und anderen deutschen Staaten, weil ihnen rechtlich nach und nach mehr Zugang zur breiteren bürgerlichen Gesellschaft gewährt wurde. Viele deutsche Juden nutzten diese Möglichkeit und wurden zu maßgeblichen Persönlichkeiten des geistigen und kulturellen Lebens, sie machten Karriere an Hochschulen, in Forschung, Medizin, Industrie, Handel usw. Ein wesentlicher Punkt bei Mendelssohns Intervention in das jüdische Leben war, daß die deutschen Juden die deutsche Sprache beherrschen mußten, um sich in die Gesellschaft einzugliedern.
Das war für die Juden in der Pale - den jüdischen Siedlungsgebieten im Zarenreich - deutlich schwieriger, weil dort der Antisemitismus viel tiefer verwurzelt und die Gesellschaft für Juden viel weniger offen war, selbst wenn sie fließend Polnisch oder Russisch sprachen. Scholem Alejchem begründete zusammen mit einer handvoll anderer jüdischer Autoren und Intellektueller das, was man die „Jiddische Renaissance“ nennt, eine Bewegung zur Aufwertung der jiddischen Sprache. Sie machten sich daran, diese in den jüdischen Gemeinden gesprochene Sprache - einen „Jargon“ aus verschiedenen Sprachen, vor allem Deutsch und Hebräisch - zu einer literarische Sprache zu erheben, in der man tiefgehende Gedanken und nicht zuletzt Ironie ausdrücken konnte.
Alejchem setzte Ironie als feingeschliffene Waffe ein, um in liebevoller Weise eingefahrene Überzeugungen und Traditionen aufs Korn zu nehmen, weil er sie für ein Hindernis hielt, das die Isolierung der Juden in der Pale verstärkte. Seine Protagonisten, wie der Milchmann Tewje - berühmt durch das Musical Anatevka -, Menachem Mendel, der ständig gescheiterte, aber nimmermüde Spekulant, und der unverzagte Kantorssohn Mottl, zeigten Eigenschaften im Denken und Handeln, die seine Leser in sich selbst wiedererkannten als etwas, was zu ihrer Not und Unterdrückung beitrug.
Das jüdische Leben hatte viel von einer wahren Tragödie, aber Scholem Alejchems urkomische Schilderungen der Kleingeistigkeit und falschen Selbstzufriedenheit im Schtetl, die diese Tragödie immer weiter fortsetzten, ließen die Leser über ihre eigene Situation lachen und gaben ihnen vielleicht die Kraft, sie zu verändern.
Er half den Menschen, sich darüber klar zu werden, welche „unsichtbaren elektrischen Zäune“ (wie Lyndon LaRouche es nannte) sie daran hindern, dem geistigen Gefängnis ihrer eigenen Kleinheit zu entkommen. So half er ihnen, die selbst auferlegten Ketten, die das jüdische Leben in den fast 2000 Jahren Diaspora weitgehend beherrscht hatten, abzuschütteln.
Das Werk Alejchems und der anderen jiddischen Schriftsteller verlieh einer Generation von Juden den Mut und das Selbstvertrauen, am Beginn des 20. Jahrhunderts wieder die Bühne der Weltgeschichte zu betreten. Am bedeutendsten war ihr Einfluß in den Vereinigten Staaten, wo die jüdische Gemeinde den Vorteil des „Schmelztiegels Amerika“ nutzte und sich ganz in die Gesellschaft integrierte, um den „amerikanischen Traum“ zu verfolgen und mit zu erneuern. Der Angriff der Nazis auf die Juden in Europa war ein Angriff auf das Wirken Mendelssohns und der Jiddischen Renaissance, die zwar auf die Befreiung der Juden zielte, aber wie jede Renaissance im Grunde auch ein Kampf für die unveräußerlichen Rechte aller Menschen war.
Lesen Sie Scholem Alejchems Geschichten und spüren Sie selbst, wie mit Hilfe von Ironie die menschliche Fähigkeit zur Selbstvervollkommnung geweckt werden kann. Man muß über die eigenen Fehler, Schwächen und Anmaßungen lachen können, um die innere Führungsstärke zu entwickeln, Widrigkeiten zu überwinden und sich der Verbesserung der Menschheit zu widmen. Wie der Meister schrieb: „Wie schlimm es auch wird, du lebst weiter - selbst wenn es dich umbringt.“
In seinem Testament ermunterte Scholem Alejchem seine Familie und Freunde: „Weint nicht um mich, im Gegenteil, denkt an mich voll Freude.“ Er forderte sie auf, jedes Jahr seiner zu gedenken, indem sie eine seiner lustigen Geschichten aussuchen und in ihrer Lieblingssprache vorlesen. Besser, man lache bei seinem Namen, als daß man ihn vergesse.
Ein guter Rat für unsere heutige, an Ironie viel zu arme Zeit!
Herzlichen Glückwunsch, Reb Scholem Alejchem!
Harley Schlanger
Lesen Sie hierzu bitte auch: „Moses Mendelssohn war kein Heiliger, seine Größe lag in seinem Mensch sein“ - Neue Solidarität 24/2007 Die ästhetische Erziehung von Lessing und Mendelssohn bis zu Schillers „schöner Seele“ - Neue Solidarität Nr. 14-15/2007 Jizchak Lejb Perez, der Vater der jiddischen Renaissance - 1. Teil - Neue Solidarität 32/2002 Jizchak Lejb Perez, der Vater der jiddischen Renaissance - 2. Teil - Neue Solidarität 33/2002 Jizchak Lejb Perez, der Vater der jiddischen Renaissance - 3. Teil - Neue Solidarität 34/2002 |
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