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Aus der Neuen Solidarität Nr. 13/2009

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Die Krise oder der Rückzug der Politik

Die Wirtschafts- und Finanzkrise, die wir zur Zeit durchmachen, so wichtig, ja sogar dramatisch sie auf sozialem Gebiet auch ist, ist nichts anderes als ein Anzeichen und Symptom einer tiefergehenden „Krise“, die in Wirklichkeit ein Epochenwandel ist, wie er sich in der Geschichte von Zeit zu Zeit vollzieht, so z.B. im 15. und 16. Jahrhundert mit der Renaissance und dem Beginn der Neuzeit.

Besonders gilt es in einer derart schwierigen Situation, zu vermeiden, daß man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht und die Krise die im Gang befindliche Umwälzung der Welt teilweise verdeckt. Wenn es sich tatsächlich um das Ende einer Geschichtsepoche und die Geburt einer neuen Zeit handelt, dann sollte man sich mit seiner Diagnose nicht täuschen und nicht zu viele Fehler bei den Heilmitteln machen.

Gewiß, die Finanzkrise hat sehr direkte Gründe - politische und finanztechnische -, die es einzuschätzen, zu ermessen und zu verstehen gilt. Es gibt so viele Lehren über die in den kommenden Monaten zu vermeidenden Irrtümer. Die Finanzkrise hat wirtschaftliche und soziale Herausforderungen, die man auf jeden Fall zu meistern und einzudämmen versuchen sollte.

Das Wichtigste aber für das Verständnis des Mechanismus und die Schwere der aktuellen Krise ist, sie in den historischen Kontext der letzten 50 Jahre einzuordnen, die Zeit nach dem Ende des „europäischen Zeitalters“ im Jahr 1945 und vor dem Eintritt in das „Weltzeitalter“ 1990. In dieser Scharnierepoche zwischen 1945 und 1975, unseren „30 glorreichen Jahren“, hat sich das Entscheidende abgespielt und wurden die verschiedenen Faktoren, die die gegenwärtige Krise hervorgerufen haben, ins Werk gesetzt.

Das Erbe

Im wesentlichen haben all diese Elemente dazu beigetragen, das herabzuwürdigen und zu schwächen, was in Europa seit Jahrhunderten der „Mast“ unseres Schiffes - sein Überbau - gewesen ist, der ihm gleichzeitig Richtung und Kraft gab: es handelt sich um das „Politische“.

Das erste dieser Elemente, die schwer auf dem Politischen gelastet haben, ist das Scheitern und dann das Ende der Ideologien, die die Träger von Hoffnung, Zukunft und Utopie waren. Die Erfahrungen mit den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts haben die meisten der großen, von der europäischen Philosophie hervorgebrachten Ideen ruiniert. Sie haben die Politik, die sie einmal inspirierten, entstellt.

Das zweite Element - mit dem ersten direkt verbunden - ist die Machtergreifung der „Ökonomen“, die Theoretiker und Lenker der Volkswirtschaft. Sie haben den Völkern eine Ersatzlösung für die geleugnete Politik übergestülpt, die auch eine friedliche Lösung war: Frieden durch Wachstum und Bereicherung. Sie bestand darin, Glück - die Utopie der Ideologen - durch Wohlstand zu erlangen und sich einem konkreten, einvernehmlichen und effizienten Entwicklungsmodell zu verschreiben. Die Ökonomen haben vorgegaukelt, man könne die gesellschaftlichen Zwecke durch beständiges Wachstum erreichen und z.B. ein ruiniertes Europa auf der Basis von Kohle und Stahl wiederbegründen - eine pragmatische und solide Herangehensweise, die aber von „unten“ ausgeht, und folglich, um nach „oben“ zu gelangen, beständiger Ermunterung und Stimulierung bedarf. Die politische Idee der menschlichen Glückseligkeit - die man bei Aldous Huxley in Schöne neue Welt findet - wurde durch die Praxis des materiellen Wohlstands ersetzt.

In gewisser Weise folgte auf eine „Welt der Soldaten“ eine „Welt der Händler“; besser noch, die Techniker bestimmten den Fortschritt der Politik. Die Techniker der Volkswirtschaft haben diesen neuen Glauben um so einfacher durchsetzen können, da sie es geschafft hatten, der Politik eines ihrer Hoheitsrechte zu nehmen, die Kontrolle über das Geld. Sie haben beim Ausbau ihres Vorteils keine Ruhe gegeben, die Wirtschaft selbst bis ins Innerste der politischen Instanzen zu bevormunden. Es ist dieser Rückzug des Politischen, den wir heute durchmachen.

Zu allen Zeiten hat das Politische die Verantwortung für den „Entwurf der Gesellschaft“ gehabt. Es war seine Aufgabe, ihn auszuarbeiten, zu verkörpern und ins Werk zu setzen. Sei es, daß es in autoritären Systemen selbst über ihn beschloß, sei es, daß es in Demokratien sein legitimer Vollstrecker war. Bei der Verwirklichung dieses „Entwurfs“, der lange Zeit dem Überleben der Gesellschaft und der Schaffung ihrer geographischen und kulturellen Rahmenbedingungen gewidmet war, hat das Politische seine Macht mißbraucht und die Menschheit von einem Krieg zum nächsten in eine Art Bankrott getrieben.

Aufgrund dieses Versagens (besonders nach 1945) ist es seiner souveränen Macht beraubt worden - nämlich der Macht, Krieg zu führen, des jus ad bellum - zum Vorteil internationaler Instanzen, eines „Dings“, wie General de Gaulle sich auszudrücken pflegte, wenn er von der UNO sprach. Deshalb wurden „gesellschaftliche Entwürfe“, die von vornherein als utopisch und gefährlich angesehen wurden, durch realistische und überzeugende „Wachstumspläne“ ersetzt.

Das Problem von Wachstumsplänen ist doppelter Natur. Zum einen fördern sie nicht die politische Phantasie der Völker und können, wenn sie einseitig sind, zu Revolten wie im Mai 1968 führen. Zum anderen enthalten sie in sich selbst ihren eigenen Untergang, denn die Bäume wachsen nicht in den Himmel, und jedes quantitative System trifft auf Widersprüche und - unausweichlich - eines Tages auf seine Grenzen. Dieses Stadium haben wir heute, wo uns alles verloren gegangen ist, erreicht. Weder haben wir noch einen gesellschaftlichen Entwurf, noch einen funktionierenden Wachstumsplan.

Wege in die Zukunft

Was sollen wir in einer dermaßen komplexen und offensichtlich festgefahrenen Lage tun?

Abgesehen von den Mitteln, die dazu entwickelt wurden, als Stoßdämpfer oder Lückenbüßer für die gegenwärtige Krise zu dienen und die fragwürdig werden, wenn das „Finanzfaß“ scheinbar keinen Boden hat, sollte man das Wesentliche des Funktionierens von Gesellschaften von neuem durchdenken und, da es sich um einen Rahmen handelt, der uns durch die Globalisierung aufgezwungen worden ist, das Wesentliche der globalen Gesellschaft, die unsere Menschheit ist. Was bedeutet, daß es nicht nur unabdingbar ist, die Korrekturen zu koordinieren, sondern daß es um die Suche nach einem globalen Konsensus zur Rekonstruktion dessen geht, was, ein bißchen mißbräuchlich, als „internationale Gemeinschaft“ bezeichnet wird.

Das Abdämpfen des von der Krise ausgehenden Schocks bedeutet zunächst, daß man die Zukunft nicht mit einer kolossalen Verschuldung oder mit demagogischen Maßnahmen belastet; in beiden Fällen wöge die Rechnung schwer. Die Risiken einer sozialen Explosion sind sehr real, worauf die jüngsten Ereignisse auf den Antillen hinweisen.

Man muß die Wiederherstellung von demokratischen und effizienten soziopolitischen Strukturen ins Auge fassen, die folgendes möglich machen: in erster Linie wieder einen „gesellschaftlichen Entwurf“ zu begründen und ihm damit wieder seinen legitimen Platz im „Politischen“ einzuräumen; zweitens verschiedenen Techniken wieder den ihnen zustehenden Platz zuzuweisen (wichtig, sogar wesentlich, aber zweitrangig). Anfangen sollte man mit dem Finanzwesen, und es um so besser und schneller machen, da diese Techniken die Schlüssel enthalten, von denen unsere Zukunft abhängt, besonders was die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten und das Überleben des Planeten betrifft.

In unseren klassischen Systemen waren diese gesellschaftlichen Strukturen immer vertikale Strukturen, wo das „obere“, d.h. das Politische, seine Sichtweise dem „unteren“ [der Basis] aufzwang. Dieses System ist überholt, nicht nur wegen des Verfalls des Politischen, sondern hauptsächlich wegen des Aufkommens der Basis, sei es in Form der Bürger eines jeden Landes oder international durch die Entwicklungsländer Afrikas und Asiens, besonders China und Indien. Es ist überraschend, daß diese beiden demographischen - im Fall Chinas auch ökonomischen - Giganten für das Jahr 2009 nicht als Vollmitglieder der G7, dem Club der Lenker des Planeten, zugelassen wurden.

In jedem unserer Länder wie auch international spricht man viel von Demokratie, praktiziert sie aber kaum. Mein Vorschlag dazu ist, man möge doch Strukturen einrichten, die es der Demokratie erlauben würden, sich ganz normal zu entwickeln.

Dieses Verfahren, die „Basis“ in Betracht zu ziehen, scheint die einzige Möglichkeit zu sein, die Entwicklung eines neuen gesellschaftlichen Entwurfs zu gestatten. Wahrscheinlich müßte das Wesentliche solch eines Entwurfs der ganzen Menschheit gemeinsam sein - handelt es sich doch insbesondere um ihr Überleben und um die Menschenwürde - und sich auf die als universell anerkannten Bestrebungen gründen. Andere Aspekte solch eines Entwurfs müßten wahrscheinlich das Recht der Völker auf Verschiedenheit anerkennen. Das ganze würde sich letztlich darum drehen, ein Gleichgewicht zwischen Zähler und Nenner, zwischen Verschiedenheit und Gemeinsamem zu finden.

In der französischen Gesellschaft z.B. müßte die soziale Bombe entschärft werden, bevor sie explodiert. Die Einberufung der „Generalstände“ nach dem Modell von 1789 würde es den Bürgern erlauben, sich anderswo als auf der Straße und anders als über die Abkürzung ‚Wahlurne’ auszudrücken; so könnten sie den führenden Leuten eine Anzahl von Botschaften zukommen lassen und damit die seit langem verloren gegangene Beziehung zwischen der Gesellschaft und ihrem Überbau erneuern.

Vielleicht müßte man sich für die Erneuerung des „europäischen Entwurfs“, der heute völlig festgefahren ist, ähnliche Verfahren ausdenken.

Für die „weltweite Regierungsführung“, deren schwere, aktuelle Technostruktur ineffizient und von Interessen manipuliert ist, ist die Idee der Einberufung von Generalständen wahrscheinlich undurchführbar. Des Nachdenkens wert aber sind permanente Generalversammlungen, die es den verschiedenen Völkern erlauben würden, sich zur Bestimmung ihrer Zukunft zusammenzufinden.

Zu guter Letzt könnte dieser gesellschaftliche Entwurf, wenn er durch die Bürger inspiriert sein soll, ohne die Wiederherstellung neuer Eliten, die über das Gemeinwohl wachen und unterschiedliche Kulturen achten, weder ausgearbeitet noch ins Werk gesetzt werden. Populismus und Demagogie, zu denen die unkontrollierte Ausübung der direkten Demokratie führen könnte, sind die größten Gefahren. Aber Oligarchismus und Plutokratie, vor denen wir in allen Gesellschaften stehen, sind genauso schlecht.

Eine der wesentlichen Aufgaben heute besteht in der Bildung neuer Eliten, die zugleich in der Lage sind, bei der Rekonstruktion des Systems zu helfen und die Erwartungen der Bürger repräsentieren. Doch wo werden die heutigen Eliten „ausgebildet“, wenn nicht in den „Business Schools“, wo man ihnen außer Management und Marketing beibringt, ihre Ausbildung möglichst gewinnbringend einzusetzen? Man muß die Führung zukünftiger Generationen auf andere Prinzipien gründen als die des Konsumerismus: sie sind mehr wert als diese strikt materielle Herangehensweise.

* * *

Das also sind einige Wege, nicht zur Überwindung der Krise - dazu muß es zu einem Ausgleich der Konten kommen -, sondern zu ihrer Neuinterpretation. Im Unterschied zur französischen Bedeutung, die nur den unheilvollen Charakter unterstreicht, hat das Wort Krise - im chinesischen wei-ji - eine weiter gefaßte und mehr „strategische“ Bedeutung. Wie seine altgriechische Etymologie nahelegt, wo crisis der Moment der Ungewißheit und folglich der Wahl ist, ist die Krise auch eine Gelegenheit. Es ist der Moment, wo alles möglich ist - das Schlechteste und das Beste. Aber das eine wie das andere hängt von der Wahl ab, d.h. vom freien menschlichen Willen. Wahrscheinlich entgehen wir dem schlimmsten nicht, aber es steht uns frei, ohne zu zögern das beste für morgen vorzubereiten. Eine andere Welt, genauso spannend wie die heutige, aber, so hoffen wir, humaner und gerechter.

Eric de La Maisonneuve
Generalleutnant (2S)1
Präsident der Société de Stratégie


Anmerkung

1 (2S) bedeutet, daß Monsieur de La Maisonneuve Absolvent der Eliteschule des französischen Heeres Saint-Cyr in der Bretagne ist, wie auch Pétain, de Gaulle und Massu.

 

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