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Aus der Neuen Solidarität Nr. 32/2008

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Narrenschiff WTO gesunken

Nahrungsmittelkrise Die Doha-Runde der WTO ist gescheitert, und das ist eine gute Nachricht für alle Menschen und Regierungen, die das Ziel der Überwindung von Hunger und Elend nicht aus den Augen verloren haben. Karel Vereycken beschreibt, was sich vor und hinter den Kulissen in Genf abspielte.

Das Gipfeltreffen der Welthandelsorganisation (WTO) in Genf, das WTO-Chef Pascal Lamy am 22. Juli als „allerletzte Chance“ einberufen hatte, um als Abschluß von sieben Jahren  Doha-Runde ein neues weltweites Freihandelsabkommen für Industrie- und Agrarprodukte durchzusetzen, ist glücklicherweise gescheitert.

Besonders interessant ist, daß dieses Treffen rasch zum Schlachtfeld eines „Kampfs der Kulturen“ wurde, daß dabei aber nicht etwa arm gegen reich oder Nord gegen Süd stand (wie britische Medien behaupteten), sondern die britisch-imperiale Wirtschaftsvision des Commonwealth mit ihrem Anführer Peter Mandelson gegen eine Kombination von Nationen, die ihr Überleben sichern wollen: mit gesicherter Nahrungsmittelversorgung und wachsender Arbeitsproduktivkraft, mit einem gewissen Maß an organisierten Märkten, Regulierung und Protektionismus, doch ohne den Zugang zu den Weltmärkten zu versperren.

Geplant waren ein Abbau der Einfuhrzölle von Industrienationen, angeblich um aufstrebenden Nationen Zugang zu profitablen Märkten zu bieten, sowie eine praktische Umsetzung des im Dezember 2005 in Hongkong angenommenen Vorschlags, bis 2013 sämtliche Subventionen von Agrarexporten ohne Ausgleich abzuschaffen. Es ist ein Segen für die Menschen, daß dies gescheitert ist.

Wie eine französische Zeitung schrieb, wollte die WTO-Führung, daß in Europa „die Unterstützung für die Landwirtschaft im Laufe von fünf Jahren in sechs Stufen um 75-85% abgebaut wird, um die Einfuhren identischer Produkte zu fördern, im wesentlichen aus Brasilien, Argentinien, den USA, Kanada, Uruguay, Australien und Neuseeland“.

Große europäische Bauernverbände wie COPA und COGEMA schätzten, daß dies für die Landwirtschaft in Europa Einbußen von bis zu 30 Mrd. Euro jährlich und den Verlust einer halben Million Arbeitsplätze bedeutet hätte. Praktisch hätte die EU ihre Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) aufgegeben, die über zwei Generationen hinweg 500 Millionen Europäern ihre Ernährung sicherte; die Agrarerzeugung wäre um 15-25% gesunken. Die amerikanische Landwirtschaft hätte zwar dank Subventionen im kürzlich beschlossenen 290 Mrd. $ umfassenden Agrargesetz vorübergehend etwas Schutz genossen, hätte aber auch sehr bald unter Druck gestanden, sich dieser Politik anzuschließen und die Nahrungsmittelproduktion ins Ausland auszulagern.

Die Hungerunruhen, die in diesem Jahr 40 Länder erschütterten, hätten die Verantwortlichen daran erinnern müssen, daß man sich nicht auf solch gefährliche Illusionen wie einen weltweiten freien Agrarmarkt verlassen kann, wenn man im Jahr 2050 zehn Milliarden oder mehr Menschen ernähren will.

Diesmal hatte aber nicht nur die Landwirtschaft Grund zur Sorge. Europäische Industrieunternehmer erinnern warnend daran, daß durch die vorangegangene Uruguay-Runde der WTO, die 1994 mit dem Abkommen von Marrakesch abgeschlossen wurde, praktisch die gesamte Textilindustrie aus Europa verschwand und ausgelagert wurde.

Der Genfer WTO-Vorschlag „öffnet gar keine Märkte für europäische Produkte“, sagte Eoin O’Malley vom Unternehmerverband Business Europe. Ein Experte der Automobilindustrie wurde in der französischen Finanzzeitung Les Echos zitiert, er fürchte, daß diese Industrie in Genf „geopfert“ werden soll. Vertreter der chemischen Industrie betonten, Handelsschranken verhinderten, daß sie ihre Produkte in Indien oder China verkaufen könnten.

Lamy und Mandelson

Die von Friedrich List, Henry Carey und anderen Denkern des Amerikanischen Systems gründlich widerlegte Freihandelsideologie wurde in Genf von Pascal Lamy, der seit Mai 2005 WTO-Chef ist, und dem EU-Handelskommissar Peter Mandelson mit geradezu religiösem Eifer verfochten. Um jeden Preis wollten sie ein Abkommen durchsetzen. Aber wer sind diese Männer?

Pascal Lamy: Als angeblicher Sozialist und Christ - sein Förderer Jacques Delors gab ihm den Spitznamen „Soldatenmönch“ -, ist Lamy ein fanatischer „Freihändler“. Damit der Markt frei sein kann, müsse man die Nationalstaaten an die Kette legen, lautet sein Grundsatz, und wenn Europa heute durch die Verträge von Maastricht und Nizza (und beinahe Lissabon) geknebelt ist, hat man das zum Teil ihm zu verdanken. Lamy war es, der als Berater des damaligen Präsident der EU-Kommission Delors den Plan für den „europäischen Binnenmarkt“ prägte. Das eigentliche Sagen hatte dabei der britische Baron Arthur Cockfield, damals Vizepräsident der EU-Kommission, der mit Recht als „geistiger Vater von Maastricht“ gilt. Cockfield war ein führender Mann in der britischen Fabian Society und der London School of Economics.

Peter Mandelson: Dieser Enkel eines Ministers der britischen Regierung Attlee wird ebenso wie der US-Neokonservative Richard Perle häufig als „Fürst der Finsternis“ bezeichnet. Er war der Propagandachef für Tony Blairs Wahlsieg 1997 und erfand die Theorie vom „dritten Weg“ zwischen Sozialismus und Wirtschaftsliberalismus. Korruptionsskandale und sein fragwürdiges Privatleben haben immer wieder seine Karriere gefährdet, und selbst viele durchschnittliche Brüsseler „Eurokraten“ halten ihn für untragbar. Einer gestand einmal der französischen Zeitschrift Le Point: „Mandelson ist wie Kaa, die Schlange aus dem ,Dschungelbuch’. Er singt: ,Vertrau mir’, während er dich mit seinen Ringen einschnürt.“

Krieg der Welten

So sah es zunächst für die Freihandelsfraktion günstig aus, weil der harte Lamy die WTO leitete und Mandelson offiziell alle 27 EU-Mitgliedsländer vertrat. So blieb den Ländern, die das Abkommen ablehnten (Frankreich, Italien, Spanien, Irland, Ungarn, afrikanische Länder u.a.), aber Gefangene ihrer früher eingegangen Versprechen waren und keine positive Alternative fanden, als Waffe nur noch Ablehnen und Verzögern.

Zunächst kam es nur zu einem „Briefduell“ zwischen Frankreichs Landwirtschaftsminister Michel Barnier und Mandelson. Barnier schlug in der Financial Times vor, die Gemeinsame Agrarpolitik als Anregung zu benutzen, um in einem „New Deal“ die Unsicherheit der Nahrungsmittelversorgung zu überwinden. Mandelson schäumte und hielt in einem Kommentar in der International Herald Tribune dagegen, „Sicherheit der Nahrungsmittelversorgung für den einen heißt nur Unsicherheit für andere“.

Aber im Umfeld der Volksabstimmung der Iren über den Lissaboner Vertrag im Juni heizte sich die Lage auf. Schon am 28. Mai schoß sich Präsident Nicolas Sarkozy unter dem Druck des französischen Landwirtschaftssektors auf Lamy und Mandelson ein: Frankreich werde kein Abkommen mitmachen, das die beiden dem Land „aufzwingen wollen“ und das die Landwirtschaft „auf dem Altar des Weltliberalismus opfert“.

Sarkozy warf Mandelson vor, mit seiner Haltung den Ratifizierungsprozeß des Lissaboner Vertrages zu stören, und kündigte an, Frankreich werde bei der WTO „sein Veto einlegen“, falls seine Agrarinteressen bedroht wären. „Ich bin nicht bereit, im Rahmen der WTO die Landwirtschaft gegen Dienstleistungen zu tauschen. Wir können nicht so weiterverhandeln.“ Darwinistisch argumentierte der Präsident: „Wenn bei den WTO-Verhandlungen Anstrengungen gemacht werden müssen, dann sollten es alle tun. Vorerst sehe ich keine Anstrengungen, zu denen die Vereinigten Staaten bereit wären.“ Das gleiche gelte für Indien und Brasilien. Einige Tage danach sagte er, es gebe „kein Mandat, die europäische und französische Landwirtschaft auszuverkaufen“.

Am 7. Juli sagte er dann vor dem Europaparlament in Straßburg, wobei er eine gewisse Einsicht in die britische Denkweise bewies: „Ich weiß, daß es Nationen gibt, die diese Politik für zu teuer halten. Alle 30 Sekunden stirbt auf der Welt ein Kind, also kann niemand Europa auffordern, seine Agrarerzeugung zu verringern.“

Angesichts dieser französischen Offensive berief Lamy umgehend für den 22. Juli ein Treffen der WTO-Mitgliedsländer auf Ministerebene in Genf ein, weil die Zeit ablief. Da ein WTO-Abkommen von den Mitgliedsländern bewilligt werden muß, würde es mindestens weitere zwei Jahre dauern, wenn jetzt keine Einigung erzielt wird, aber wenn man eine erzielte, könnte sie noch vor dem Jahresende ratifiziert werden.

Als Antwort veranstaltete Frankreich, das in diesem Halbjahr den EU-Vorsitz innehat, umgehend eine Sondersitzung der Handelsminister der 27 EU-Länder. Sie fand am 18. Juli statt, drei Tage vor Beginn der WTO-Verhandlungen, und formulierte Anweisungen für Mandelson, der ja für alle EU-Länder sprechen sollte. Um Mandelson an die Kandare zu nehmen, wurde Barnier beauftragt, bei den Genfer Verhandlungen zu assistieren, was eher ungewöhnlich ist. Verärgert meinte Mandelson vor der Presse, Barnier solle „sein Picknick mitbringen“, denn er selbst werde seine Sache lange durchstehen. Der Minister nahm ihn beim Wort: Quasi mit Rabelaisschem Humor schenkten er und Anne-Marie Idrac ihm einen großen Freßkorb, prall gefüllt mit Spezialitäten aus Ländern der Anti-Mandelson-Fraktion: italienischer Parmesan, ungarischer Tokajer etc.

Mandelson sah seine Felle wegschwimmen und spielte am Montagmorgen ein riskantes, verlogenes Spiel: Er behauptete plötzlich, die EU schlage eine Senkung der Zölle um 60% vor, nicht wie vorher vereinbart, 54%. Brasiliens Vertreter Celso Amorim, der in seinem Wahn sämtliche Handelsschranken auf der Welt abschaffen will, fand aber heraus, daß Mandelson nur seine Berechnungsmethode geändert hatte, und sagte in einem Wutanfall, die reichen Länder verwendeten hier ähnliche Propagandamethoden wie Goebbels im Dritten Reich. Das wiederum brachte die amerikanische Handelsbeauftragte Susan Schwab, die Tochter eines Holocaust-Überlebenden, völlig auf die Palme.

Lamy der Magier

Als sie dahinterkamen, daß Lamy sie genarrt hatte, da er so getan hatte, als sei schon ein weitgehender Konsens vorhanden, der eine Einigung leicht machen würde, wollten die Delegationen am Freitag schon wieder heimfahren. Da zog der „große Zauberer“ Lamy noch ein weißes Kaninchen aus dem Hut: Als eine Art improvisierte Handels-G8 wurde eine kleine Gruppe von Nationen gezwungen, über „seinen Kompromiß“ zu verhandeln (und zahlreiche wütende Delegationen aus der Dritten Welt mußten vor der Tür bleiben).

Weil niemand den „totalen Freihandel“ haben wollte, bot Lamy den ärmeren Ländern eine Art „Sicherheitsmechanismus“ (SSM) an, falls sie insgesamt ihre Zölle senkten. Sollten ihre Agrarmärkte plötzlich von ausländischen Waren überschwemmt werden, könnten sie mit dem SSM ab einem bestimmten Punkt wieder höhere Schutzzölle verlangen; dieser Punkt wäre erreicht, wenn die ausländischen Einfuhren um 40% ansteigen.

Am Sonntag verkündeten mehr als hundert arme Länder, angeführt von Indien, sie würden Lamys „Kompromiß“ nur zustimmen, wenn diese Schwelle auf 10% gesenkt wird, um ihre Landwirte und Nahrungsversorgung zu schützen.

US-Präsident Bush persönlich rief den indischen Präsidenten an und drängte ihn, einen WTO-Kompromiß anzunehmen, nachdem die USA gerade ein so nettes Atomabkommen mit Indien geschlossen hätten. Die US-Beauftragte Schwab war wütend auf die Inder, weil sie in der Frage der „Schwelle“ die Speerspitze übernommen hatten. Ihr war selbst Lamys Vorschlag nicht „freihändlerisch“ genug. Experten sind überzeugt, daß die USA enorme Verkäufe von Weizen, Mais und Soja als Tierfutter nach China anvisiert hatten und nun fürchteten, China werde anhand der SSM-Klausel diese US-Exporte eindämmen, sie also „benachteiligen“.

Dann war Schwab auch noch so ungeschickt, zu behaupten, die Bezeichnung „Appellations d’Origine Controlée“ (AOC) - ein Schutz für hochwertige geographische Spezialitäten wie Roquefort- und Camembertkäse aus Frankreich, griechischen Fetakäse, Parmaschinken und Parmesankäse aus Italien oder ungarischen Tokajerwein - dürfe „in kein Abkommen aufgenommen werden“, weil AOC für sie eine Form von Protektionismus wäre!

Dieser Tropfen brachte für den schon von Mandelson irritierten Sarkozy das Faß zum überlaufen. Er telefonierte kurz mit Gordon Brown und Angela Merkel, die trotz der Vorbehalte deutscher Minister Mandelsons Plan unterstützte, und dann mit Lamy selbst, um ihm mitzuteilen, daß Frankreich „im Namen der Völker Europas“ die Regelung nicht akzeptieren könne. Am Dienstagmorgen organisierte Barnier mit Rückendeckung Italiens einen „Club der Unwilligen“ aus neun EU-Ländern (Frankreich, Italien, Irland, Griechenland, Litauen, Portugal, Zypern, Ungarn und Polen), die alle den vorliegenden Entwurf für unannehmbar hielten.

Schließlich mußten Lamy und Mandelson am Dienstag nachmittag, als die ersten Delegationen schon wieder aus Genf abreisten, klein beigeben. Das Spiel war aus.

Während Lamy behauptete, mit einem Abkommen hätte man durch Subventionsabbau 130 Mrd. Dollar „freisetzen“ können, und Mandelson meinte, der Planet habe die Chance verpaßt, „den ersten Pakt zu prägen, der die neue Weltordnung inspiriert“.

Metaphorisch kann man sagen, mit dem Scheitern in Genf ist „das Narrenschiff WTO am Eisberg des Turms zu Babel zerschellt“. Der flämische Maler zeigt in seinem Gemälde „Das Narrenschiff“ eine ähnliche Gesellschaft, die sich um ein Stückchen Fett oder eine handvoll Kirschen als Symbol irdischer Genüsse streiten. Ohne daß sie es merken, holt sich der Clevere ein am Mast hängendes Hühnchen. Die „Cleveren“ sind heute die Finanzmärkte, und wir sollten sie nicht mit dem Huhn entkommen lassen, sondern dafür sorgen, daß der Teller für alle Menschen gefüllt ist.

            Karel Vereycken

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