|
|
Von Dr. med. Cathy M. Helgason
Im medizinischen Sektor setzt sich zunehmend die Tendenz durch, die Entscheidung über Methoden zur Diagnose und Therapie aus den Händen der jeweiligen Ärzte zu nehmen und durch - quasi automatische - statistische Kriterien zu ersetzen.
Ungefähr in den letzten 15 Jahren wurden zunächst die medizinisch-akademischen und dann auch die nicht-akademischen Kreise Opfer einer ihnen aufgezwungenen Neudefinierung ihrer Mission: Die medizinische Praxis ist nun ein „Geschäft“. Weil die Geschäftswelt auch gegenüber dem Patienten keine Ethik kennt, macht sie sich nichts aus dem Hippokratischen Eid oder den Gemeinwohlklauseln der Verfassungen. Dieser neue Charakter unseres Berufes wurde von den meisten Ärzten verachtet, und er war ihnen fremd.
Ich selbst erlebte dies als eine langsame, vorsätzliche und heimtückische Unterdrückung. Ungefähr Anfang bis Mitte der neunziger Jahre begegnete ich erstmals einer Opposition gegen meiner Mission als Ärztin, als ich aufgefordert wurde, für meine Patienten Dokumente zu unterzeichnen, die mit Versicherungsfragen, der Beantragung von medizinischen Hilfsmitteln oder Arbeitsunfähigkeits-Ansprüchen zu tun hatten. Ich sollte in einer Zeile unterschreiben, die mich als „Anbieter“ auswies; aus dieser Bezeichnung ist inzwischen der „Leistungserbringer“ geworden. Mit dieser Erfahrung ging eine neue Bezeichnung der Patienten durch die institutionellen Verwaltungen einher - sie wurden „Kunden“, und eine neue Definition der „Produktivität“ von Ärzten durch die akademischen Abteilungen als „eingenommene Dollars“.
Wie durch Zauberei, und im Gleichschritt mit der Beleidigung und Herabwürdigung unseres Berufes, kam die neue Autorität der „evidenz-basierten Medizin“ auf, die von sich behauptet, sie sei die oberste wissenschaftliche Instanz zur Bestimmung der diagnostischen Technologien und der Behandlung der individuellen Patienten in der täglichen Praxis der Medizin. Aber die evidenz-basierte Medizin ist nur eine Pseudowissenschaft.
Schon bald wurde klar, daß der Arzt und seine oder ihre Patienten nicht länger als Individuen, als Experten und als einzigartig betrachtet wurden, wie es ihnen zustand, sondern von nun Roboter waren, die mechanisch Befehle befolgen und in vorhersehbarer Weise reagieren sollten. Aber wessen Befehlen?
Nach vielen Überlegungen und Untersuchungen im Lauf der Jahre ist mir klar geworden, daß es entweder von Anfang an die Absicht hinter der evidenz-basierten Medizin war oder jedenfalls wurde, als Maßnahme zur Senkung der Kosten und potentiell zur Bevölkerungskontrolle zu dienen. Denn verpackt in einer wissenschaftlich klingenden Rhetorik fand sie die Aufmerksamkeit wohlmeinender Ärzte, die ihre Entscheidungen auf dem neuesten Stand der Wissenschaft aufbauen wollten, und so wurde sie der Öffentlichkeit als Fortschritt in der Krankenversorgung verkauft.
Aber um die wahre Absicht hinter der evidenz-basierten Medizin zu sehen, braucht man nur NICE zu betrachten - das britische „Nationale Institut für Gesundheit und klinische Exzellenz“, eine weitere Orwellsche Bezeichnung für eine medizinische Triage zur Senkung der Kosten.1 Mir und anderen wurde auf diese Weise klar, daß hinter der vieldiskutierten „Gesundheitsreform“ die Absicht steht, das Unternehmensmodell „Geschäft ist Geschäft“ zu befolgen, anstatt in einer menschlichen Weise auf die Nöte und Bedürfnisse der akut Kranken, Alten und Schwachen zu reagieren.
Der britische Arzt und Forscher Archibald Leman („Archie „) Cochrane, nach dem das Cochrane-Register für klinische Versuche, Datenbasis für Systemische Studien, die Cochrane-Bibliothek und die Cochrane Reviews benannt sind, kann wohl als Vater der evidenz-basierten Medizin bezeichnet werden. Die Cochrane-Bibliothek, Datenbasis und Versuchsregister (die auch online zugänglich sind), ist der zentrale Verwahrungsort von Informationen über sämtliche klinischen Versuche. Sie zielt darauf ab, den wissenschaftlichen Nutzen aller Versuche danach zu beurteilen, ob dabei die Prinzipien der sog. „Klinischen Epidemiologie“ eingehalten wurden.
Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete Cochrane als Kriegsgefangener der Nazis in der medizinischen Versorgung anderer Kriegsgefangener. Dort führte Cochrane ein Experiment mit seinen Mitgefangenen durch, bei denen es um Unterernährung und Hefezusätze ging. Das Resultat dieses Experiments faßte er in seinem Papier „Krankheit in Saloniki: Mein erster, schlimmster und erfolgreichster klinischer Versuch“. Darin erklärt Cochrane, nachdem er die positive Wirkung der Hefe auf die Unterernährten beschrieb: „... die Bemerkungen des deutschen Arztes, als ich um mehr Hilfe bat, war, ,Ärzte sind überflüssig’. Das war vermutlich richtig, aber es war erstaunlich, was man mit ein bißchen Wissenschaft und ein bißchen Glück erreichen konnte.“
Cochrane führte den Nutzen der Hefe-Behandlung für jene Mitgefangnen, die sie bekommen durften, entweder auf Glück oder auf eine statistische Signifikanz zurück. Er übersieht die Tatsache, daß er es war, als Arzt, der zunächst einmal die Idee hatte, den Gefangenen Hefe zu geben, bei denen er durch Untersuchungen und Kenntnis der Pathophysiologie der Krankheit Unterernährung diagnostiziert hatte. Cochrane enthüllt so seine Neigung zur Wissenschaft des Glückspiels - der Wahrscheinlichkeitstheorie -, ein Kampf um alles oder nichts zwischen dem statistischen Nachweis und dem Glück, das man auch „Zufall“ nennt.
Cochranes Sicht reflektiert die Meinung aller Unterstützer der heutigen evidenz-basierten Medizin, daß das klinische Ergebnis auf statistischer Signifikanz beruht und nichts mit den grundlegenden Kenntnissen des Arztes über das Erscheinungsbild der Krankheit, den Krankheitsverlauf des individuellen Patienten oder kognitiver Einsicht (Intuition) zu tun hat.
Cochranes berühmtestes Werk war sein Buch Effectiveness and Efficiency: Random Reflections on Health Services („Effektivität undEffizienz: Beiläufige Überlegungen über die Gesundheitsdienste“, 1972), dessen Prämisse die malthusianische Idee ist, daß, weil die Ressourcen stets begrenzt seien, Stichproben-Untersuchungen die Autorität sein sollten, an denen sich die Entscheidungen über die Nutzung der Mittel der Gesundheitsdienste orientieren.
Es mag einfach erscheinen, Ärzte dafür zu gewinnen, der „Wissenschaft“ der evidenz-basierten Medizin zu folgen, wenn man dabei verspricht, den Arzt von der Verantwortung zu befreien, Entscheidungen über Diagnose und Behandlung einer Krankheit zu treffen. Anstatt sich auf Intuition (kognitive Einsicht), Erfahrung und Kenntnis des Erscheinungsbildes der Krankheit zu verlassen, wird der Arzt seine Entscheidungen auf der Grundlage der besten Belege treffen, die ihm oder ihr diese Sammlung von Literatur und Richtlinien liefert, die sich an der Wissenschaft der Klinischen Epidemiologie orientieren (an auf Wahrscheinlichkeitstheorie beruhenden Statistiken). Der Arzt muß nicht mehr nachdenken, weil seine oder ihre Entscheidungen und Maßnahmen schon vorherbestimmt sind, und er oder sie damit auch für die Konsequenzen nicht mehr verantwortlich gemacht werden kann.
Die Fraktion der Kostendämpfer verspricht sich hiervon viel für die Verteidigung in Kunstfehler-Prozessen, und tatsächlich wird die Autorität der evidenz-basierten Medizin inzwischen vom Gesetzgeber als Maßstab der Versorgung und der zulässigen Belege in medizinischen Kunstfehler-Prozessen anerkannt.
Aber das erklärte Streben nach Unparteilichkeit in der evidenz-basierten Medizin wird in Frage gestellt, wenn die Entscheidung über diese Richtlinien bei jenen wenigen liegt, die Zugang zu den medizinischen Forschungsgeldern haben - und zwar genau deshalb, weil sie ihre Wissenschaft auf die Klinische Epidemiologie beschränken! Die Klinische Epidemiologie bietet ein vorhersehbares Mittel, mit dem die Ergebnisse der Forschung gesteuert werden können, und diese Resultate werden wiederum darüber entscheiden, wie die „Ressourcen“ verwendet werden. Man fragt sich, ob die Bioethik-Abteilung des National Institute of Health in den entsprechenden Ausschüssen vertreten ist oder auf andere Weise sämtliche medizinisch relevanten Forschungsgeld-Anträge und -Prüfungen überwacht.
So wird der Arzt im kleinen Handbuch der evidenz-basierten Medizin aufgefordert: „Tauschen Sie ihre [traditionellen] Journal-Abonnements ein... investieren sie in evidenz-basierte Journale und Online-Dienste, und schauen Sie sich die computerisierten Unterstützungssysteme für klinische Entscheidungen an“, denn „es ist mit den Maschinen technisch möglich, die Eigenschaften der Patienten den evidenz-basierten Empfehlungen zuzuordnen, die auf sie zugeschnitten sind, was den Patienten und den Leistungsträger von der Aufgabe befreit, sich der Herausforderung zu stellen, darüber zu entscheiden, welche Empfehlungen befolgt werden sollten, und wie.“
Das Resultat ist natürlich, daß dieser Prozeß der „Zuordnung“ des Patienten zu Diagnose und Behandlung nicht mehr vom Kontext abhängt - nämlich den Eigenheiten und Umständen des Patienten, also gerade dem, was nur ein guter Arzt mit seinem Fachwissen erfassen kann.
Die evidenz-basierte Medizin hatte die Wirkung, viele Ärzte daran zu hindern, daß sie sich auf ihr eigenes Urteil in Bezug auf Medikamente und medizinische Techniken verlassen. Der erklärte Zweck der evidenz-basierten Medizin ist es, die „Wissenschaft“ ans Krankenbett zu bringen. Als Wissenschaft gelten dabei im Allgemeinen Wahrscheinlichkeitstheorie und zutreffende statistische Informationen. Auch wenn andere Theorien als die Wahrscheinlichkeitstheorie diese Statistiken untermauern können, herrscht die Wahrscheinlichkeitstheorie vor, weil sie der aristotelischen Logik folgt, die man (besser) auch als binäre Logik kennt. Die binäre Logik kennt in ihren Schlüssen nur schwarz oder weiß, ja oder nein, und sie ist in ihren Ergebnissen berechenbar. Mit ihr können niemals neue Prinzipien entdeckt werden, die beim Krankheitsverlauf oder bei der Reaktion des Patienten auf die Behandlung wirken, denn das Ergebnis der verschiedenen Wechselwirkungen ist vorherbestimmt durch „logische“ Regeln. Die Kontrolle über die Ressourcen läßt - vorhersehbar - keinen Raum für unerwartete Änderungen in den Entscheidungen über ihre Verwendung.
In der wirklichen Welt ist das medizinische Szenario am Krankenbett dynamisch und nuanciert. Änderungen der Entscheidungen sind die Realität, mit der der Arzt umgehen muß. Aber anstatt dem Arzt zu erlauben, daß er die Einzigartigkeit der klinischen Dynamik des individuellen Patienten zur Grundlage macht, auf der er darüber entscheidet, welche Behandlungs- oder Diagnosetechnik zum Einsatz kommt, versucht die evidenz-basierte Medizin zu diktieren, welche Methoden bei wem zum Einsatz kommen dürfen und welche nicht. Weil sie die Kontrolle darüber aus den Händen des Arztes nehmen, sind die auf Wahrscheinlichkeiten beruhenden Statistiken zu einer bequemen „wissenschaftlichen“ Rechtfertigung geworden, um Behandlungen oder Technologien (wie z.B. diagnostische Scanner-Untersuchungen) vorzuenthalten. Die Ärzte sind für die evidenz-basierte Medizin ein Problem, wenn sie sich auf ihr Urteilsvermögen verlassen wollen und ihren Hippokratischen Eid ernst nehmen.2
Die evidenz-basierte Medizin rechtfertigt die Einschränkungen bei der Behandlung, die schon jetzt existieren, denn „die Wissenschaft“ - d.h., die auf Wahrscheinlichkeiten beruhende Statistik - kann von diesen Behandlungen behaupten, sie seien ineffizient. Aber das Urteil des Arztes beruht auf Erfahrungen mit einer Vielzahl von Patienten, die den auf Wahrscheinlichkeiten beruhenden Kriterien oder im Voraus definierten Kriterien und Kontexten nicht entsprechen. Jeder Patient ist einzigartig, und der Arzt nutzt Einfühlungsvermögen und eine Art von Erfahrungsmuster als Richtschnur.
Wenn er mit einem unerwarteten Krankheitsbild konfrontiert ist, kann der erfahrene Arzt seine oder ihre kognitiven Fähigkeiten auf neue Ziele ausrichten. Die evidenz-basierte Medizin, die von den Ärzten während ihrer Ausbildung übernommen wird, befreit sie von dieser mitfühlenden Verbindung zum Patienten und hilft ihnen, „guten Gewissens“ Behandlungen zu begrenzen und vorzuenthalten. Indem sie die Ärzte vom Beginn ihrer Ausbildung an beeinflußt, gelingt es der evidenz-basierten Medizin, den Ärzten diese Verantwortung abzunehmen, während sie sie gleichzeitig glauben macht, sie müßten sich so verhalten, wenn sie die Ziele der Wissenschaft und der Gesellschaft im Auge haben.
So hat die evidenz-basierte Medizin ihre größte Wirkung darin, den Ärzten eine Gehirnwäsche zu verpassen, damit sie ihre inneren Instinkte und Urteile ignorieren, die ihnen sagen, ein bestimmter Patient sollte eigentlich eine bestimmte Behandlung erhalten – auch wenn diese Behandlung von den Ressourcenwächtern verboten wurde. Die evidenz-basierte Medizin ist wesentlich für jedes System, in dem der Arzt sich dem faschistischen Prinzip der Knappheit der Ressourcen unterwerfen soll.
So wurde meinem Ehemann, als er wegen Krebs behandelt wurde und nach der ersten Dosis seiner Chemotherapie tagelang „flachlag“, eine zweite Dosis gegeben, die ihn zwei Wochen lang in den wohl schmerzhaftesten Zustand versetzte, den ein Mensch erleiden kann - „Mucositis“. Sie können sich meinen Schrecken vorstellen, als ich herausfand, daß es einen simplen Test gab, mit dem man hätte feststellen können, ob er überhaupt in der Lage war, dieses gefährliche Mittel zu „verdauen“, doch dieser einfache Test wurde ihm weder angeboten noch durchgeführt, bevor er die zweite Dosis erhielt.
Als ich das medizinische Team, das für seine Behandlung zuständig war, mit dieser Tatsache konfrontierte, rechtfertigte die verstörte Mannschaft der residenten und behandelnden Ärzte dieses Versäumnis mit der Entschuldigung: „Aber es gab niemals eine große, randomisierte Doppelblindstudie, um den Nutzen eines solchen Test zu untersuchen.“ In anderen Worten: die evidenz-basierte Medizin erlaubte es nicht.
Mit der gleichen Unmenschlichkeit wurde meinem Ehemann dieser Test dann angeboten, nachdem er die Mucositis erlitten hatte. Die Reaktion meines Ehemanns war: „Ich werde nicht zulassen, daß Sie mein genetisches Material in dieser Weise nutzen!“ Er verstand, was es mit ihrer „kalten, harten Wissenschaft“ auf sich hatte. Mein Ehemann war Professor für Molekularbiologie an einer Medizinischen Schule. Wie muß sein Vertrauen in die Medizin gelitten haben, als er sah, was aus den Ärzten geworden ist?
Große, randomisierte statistische Untersuchungen erfassen nicht das Niveau der Wirksamkeit der Behandlung, die ein Arzt in seiner tagtäglichen Praxis erlebt, weil die Behandlungsgruppen der großen Studien nach der Methode „alles oder nichts“ behandelt werden. Eine Reaktion auf die sich ändernde Lage, wie sie die klinische Dynamik verlangt, kann es nicht geben. Auf Wahrscheinlichkeiten beruhende Statistiken vermitteln ihrem Nutzer einen falschen Eindruck von Sicherheit, und diese Sicherheit beseitigt die Schuldgefühle, die ihr Nutzer bekommt, wenn er eine Behandlung vorenthält.
Schließlich ist Wissenschaft etwas menschliches und ein Unterfangen der Menschheit. Aber die evidenz-basierte Medizin entmenschlicht diesen Prozeß. Denn sie beansprucht Sicherheit, sie beansprucht Autorität, aber dabei wird die Beziehung zwischen Wahrheit und Sicherheit verzerrt. Menschen mit einem tiefen Mitgefühl haben große Schwierigkeiten, an Sicherheit und starre Grenzen zu glauben. Der Hippokratische Eid ist die Absicht hinter der Praxis der Medizin. Die Details der medizinischen Entscheidungen ändern sich ständig und beruhen auf moralischen, ethischen und professionellen Urteilen guter Ärzte im einzigartigen Kontext des jeweiligen Patienten.
Die jetzigen Gesundheitsreformer möchten gerne, wie Hitlers Ärzte, diese Absicht beseitigen und durch Kosten-Effizienz ersetzen. Das ist die Wahrheit darüber, wie die evidenz-basierte Medizin die Medizin zu verändern, und die Kranken und Alten zu töten droht.
Anmerkungen
1) Siehe Marcia Merry Baker, „NICE entscheidet über Leben und Tod“, Neue Solidarität 25/2009.
2) Die generelle Botschaft des Hippokratischen Eides, ist „dem Patienten vor allem nicht zu schaden“.