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Aus der Neuen Solidarität Nr. 25/2008

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„Lissabon ratifizieren?“

In einem neuen Buch beschreibt der Rechtsexperte und frühere Industrieminister Giuseppe Guarino, warum man den Lissaboner Vertrag nicht beschließen sollte.

Ein Buch, das noch nicht einmal veröffentlicht ist, läßt in Italien die Wogen der politischen Debatte um die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon hoch schlagen. Autor ist Professor Giuseppe Guarino, einer der herausragenden Verfassungsrechtler des Landes und in der ersten Regierung von Giuliano Amato (1992-93) Industrieminister, z.Zt. Professor für vergleichende Rechtswissenschaften an der Universität von Rom. Seine Arbeit als Industrieminister ist für seine gegenwärtige Rolle in der Auseinandersetzung um Souveränität von Bedeutung. In seine Amtszeit fiel ein erbitterter Kampf um die Zukunft der italienischen Staatsbetriebe. Guarino legte damals einen weitsichtigen Modernisierungsplan für den öffentlichen Sektor vor. Allerdings setzten sich letztendlich die Kräfte der ungezügelten Privatisierung durch, die in einem berüchtigten Geheimtreffen auf Queen Elizabeths Yacht Britannia vor der italienischen Küste die Zerschlagung des staatlichen Sektors beschlossen hatten.

In seinen öffentlichen Auftritten der letzten Zeit hat Prof. Guarino schon mehrfach die Absicht seines Buches mit dem Titel „Lissabon ratifizieren?“ dargestellt. Er ruft dazu auf, den Vertrag von Lissabon nicht zu ratifizieren, weil er die nationale Souveränität an eine, wie er es nennt, supranationale „Organokratie“ übergeben würde.

Nach Informationen der Finanzzeitung Il Sole 24 Ore haben italienische Regierungsvertreter Guarinos Einwände zurückgewiesen. Sie behaupten, seine Einwände zur Verfassungswidrigkeit des Lissaboner Vertrags seien längst vom Europäischen Gerichtshof und vom Bundesgerichtshof in Karlsruhe zurückgewiesen worden. Das stimm jedoch nicht. Der Europäische Gerichtshof ist als Institution gar nicht befugt, in Fragen nationaler Verfassungsrechte zu entscheiden. Er soll nur dann tätig werden, wenn Konflikte zwischen EU-Recht und nationalem Recht zu schlichten sind. Und das deutsche Bundesverfassungsgericht hat sich zum Vertrag von Lissabon noch gar nicht geäußert, es ist aktuell mit drei Verfassungsklagen gegen ihn beschäftigt. In dem Artikel wird auch deutlich, warum Kreise in der italienischen Regierung sogar zu Lügen greifen, um die Glaubwürdigkeit von Guarinos Argumenten zu unterminieren. Die italienische Regierung will den Vertrag vor Ende Juli ratifizieren, um sich mit dem französischen Präsidenten Sarkozy, der danach den Vorsitz des EU-Ministerrats übernimmt, gut zu stellen.

Neuauflage der EU-Verfassung

In seinem Vorwort schreibt Guarino: „...Italien ist zusammen mit den 26 anderen Ländern der Europäischen Union aufgefordert, den Lissaboner Vertrag zu ratifizieren. Das ist kein gewöhnlicher Verwaltungsakt. Es ist eine hochbedeutsame Entscheidung... Im Jahr 2004 wurde der ehrgeizige Entwurf eines neuen Vertrages mit dem Titel ,Europäische Verfassung’ gutgeheißen. Sobald sie den Text des Vertrages studiert hatten, wiesen Frankreich und Holland ihn zurück. Der Lissaboner Vertrag hat den Namen ,Europäische Verfassung’ aufgegeben. Obwohl ein Vergleich zwischen beiden sehr mühsam ist, scheint es, daß der Lissaboner Vertrag im wesentlichen eine Reproduktion des vorhergehenden Dokuments ist; in gewissen Punkten geht er sogar noch weiter. Das jedoch ist ein zusätzlicher Grund, warum wir bei der weiteren Vorgehensweise vorsichtig sein müssen... Es ist nicht einfach, den Lissaboner Vertrag zu lesen. Es haben sich bezüglich des Materials der Europäischen Gemeinschaft bestimmte Stereotypen herausgebildet, die mit der Zeit den Charakter und die Form von Ideologien angenommen haben. Das führt zu Verzerrungen.“

In den folgenden Kapiteln macht sich Professor Guarino an die Herakles-Arbeit, mit einem „hohen Grad an Objektivität eine lange Liste spezieller Zuständigkeiten der Kommission aufzuführen... Jede einzelne dieser Zuständigkeiten entspricht einer Begrenzung des Bereichs der nationalen Souveränitätsrechte.“ Dabei sagt er auch deutlich: „Ich habe mir nicht das Ziel gesetzt, alle Aspekte des Lissaboner Vertrages zu untersuchen. Die Frist für die Ratifizierung verrinnt. Meine Aufmerksamkeit galt einem einzigen Thema: Erfüllen die Institutionen, wie sie vom Vertrag bestimmt werden, die rechtsverbindlichen Bedingungen der italienischen Verfassung für die Begrenzung der Souveränität...“

Hier sollen die wichtigsten Argumente behandelt werden:

1. Vorsicht: Nachbesserungen sind Illusion!

„Die Ratifizierung des Lissaboner Vertrages ist die letzte Gelegenheit für jeden der Mitgliedsstaaten, über seine eigene Zukunft in unabhängiger und bewußter Weise zu entscheiden... Wenn es ein Problem gibt, muß es sofort angesprochen werden. Wir können nicht die Illusion hegen, daß es in Zukunft einfach durch Antrag möglich sein wird, für uns schädliche Bestimmungen zu berichtigen oder zu verbessern. Solch eine Veränderung erfordert die Zustimmung aller 27 Mitgliedsstaaten.“ Hier entkräftet Guarino eines der Beschwichtigungsargumente der Lissabon-Lobby, die suggerieren wollen, man solle erst einmal ratifizieren, um „voranzukommen“, „nachbessern“ könne man immer noch. Andere verweisen darauf, daß bestimmte Verträge und Bestimmungen schon seit langem in Kraft seien, wie könne man sie da jetzt ablehnen? Guarino stellt klar: „In Verfassungsangelegenheiten schafft eine billigende Inkaufnahme keine Rechtsgültigkeit. Eine neue Regelung muß einer Prüfung der Verfassungsmäßigkeit standhalten...“

2. Die Zuständigkeiten der Union

Dieses Kapitel behandelt eines der zentralen Probleme in der Auseinandersetzung um den Vertrag von Lissabon, die Zuständigkeiten der Union. Guariono schreibt, diese Zuständigkeiten „betreffen so gut wie jeden Aspekt des nationalen Zusammenlebens. Die von der Union in vielen Verordnungen beschworenen Ziele und Absichten sind oft allgemein, undeutlich und pauschal. Sie erlauben unerwartete Interpretationen.“ Er fährt fort: „Es ist sicherlich kein Zufall, sondern eher ein ziemlich enthüllender Hinweis, daß der Vertrag der Europäischen Union in Artikel 3b bei den ,wesentlichen staatlichen Zuständigkeiten’, die ,nicht auf die Union übertragen werden’, überhaupt nur drei Funktionen anführt: ,die Wahrung der territorialen Unversehrtheit’, ,die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung’ und der ,Schutz der nationalen Sicherheit’.“ Ein Gemeinwohl- oder Sozialstaats-Prinzip wird an diesem Punkt jedenfalls nicht erwähnt.

Die Kommission werde das Zentrum der EU mit weitreichenden Machtbefugnissen sein, sie werde de facto zu einem neuen diktatorischen Instrument. Sie sei nicht mehr den Einzelstaaten und deren Bevölkerung verpflichtet, sondern nur sich selbst verantwortlich. Guarino schreibt:

„Die Verlagerung der führenden Rolle vom Rat zur Kommission betrifft nicht nur die Verteilung der Zuständigkeiten. Sie verändert das Wesen der Machtbefugnisse... Jeder Mitgliedstaat schützt auf legitime Weise durch seinen Repräsentanten seine eigenen politischen Interessen. Im Rat haben die politischen Interessen der Staaten... die gleiche Wichtigkeit wie die institutionellen Interessen der Union. Die Union ist den Staaten hinzugefügt, sie schafft sie nicht ab... Mit der Übertragung der dominanten Rolle auf die Kommission hat das ein Ende. Die Kommission hat als Aufgabe ausschließlich die Verfolgung der institutionellen Interessen der Europäischen Union. Die Interessen der Einzelstaaten bleiben unberücksichtigt. Diese Barriere kann nicht durchbrochen werden.“

3. Die EU als „Organokratie“

Für das neue Regierungssystem, das durch den Lissaboner Vertrag entsteht und das die Europäische Union in Zukunft regieren soll, hat Prof. Guarino einen neuen Begriff geprägt: die „Organokratie“. Er beschreibt diese Regierungsform als „ein System von Organen, deren Machtbefugnisse mit Hilfe von Verfahrensweisen zustande kommen, die einzeln oder als ganze die direkte Verpflichtung gegenüber dem Wahlvolk der europäischen Bürger und dem Europäischen Parlament mißachten. Hier wird der Ausdruck ‚Organokratie’ benutzt und nicht ‚Bürokratie’. ‚Bürokratie’ ist etwas anderes. Sie umfaßt die Gesamtheit an Büros und Organen, Beamte der Exekutive, die von Personen gebildet wird, die der Verwaltung beruflich verbunden sind. Der Ausdruck ‚Organokratie’ bezieht sich vielmehr auf die Organe, die die Befehlsgewalt und Kontrolle über die Bürokratie haben. Die Bürokratie in der EU dient der ‚Organokratie’...“

4. Schon Maastricht war verfassungswidrig

Wie diese Organokratie funktioniert, ist schon seit Jahren am Beispiel der Maastricht-Kriterien durchexerziert worden. Auch an diesem Punkt wird die zentrale Rolle der Kommission deutlich. Guarino argumentiert, daß die Macht der Kommission nicht nur die Machtbefugnisse des nationalen Parlaments übersteigt. „Die Kommission setzt den maximalen Ermessungsspielraum für die Haushaltspolitik fest. Die Staaten müssen den Anweisungen folgen, ohne Rücksicht darauf, ob sie richtig oder falsch sind.“ Guarino geht sogar so weit zu sagen, die Macht der Kommission siege faktisch über den Vertrag.

Dieser Sachverhalt leitet direkt zu einem Punkt über, der für die spezifisch italienische Verfassungsdebatte von großer Bedeutung ist. Denn Artikel 11 der italienischen Verfassung legt fest, daß es zu einer Aufgabe von Souveränitätsrechten an supranationale Instanzen nur kommen darf, wenn im wesentlichen Gleichheit zwischen den Mitgliedsländern besteht. Das ist natürlich nicht der Fall, wie Guarino anmerkt, weil einige Staaten der Währungsunion nicht beigetreten sind. Sie genössen die Vorzüge des gemeinsamen Marktes, verfügten aber durch die Beibehaltung ihrer Währungssouveränität über mehr Flexibilität in der Haushalts- und Wirtschaftspolitik. Guarino läßt keinen Zweifel daran, daß das Risiko dieser Ungleichheit schwer wiegt.

5. Was passiert mit den Aufgaben des Staates

In seinem abschließenden Resümee geht Guarino auf die Bedeutung der europäischen Integration ein, die durchaus ein Ziel von außerordentlichem historischem Wert, von Weltinteresse sei. Er hebt hervor, daß nach wie vor großes wirtschaftliches, technisches und wissenschaftliches Potential existiere. Er trifft aber genau ins Schwarze, wenn er schreibt: „Die Mehrheit der bedeutenden Innovationen, die in den letzten 60 Jahren das Leben nicht nur einzelner Länder, sondern des gesamten Planeten umgestaltet haben und es heutzutage charakterisieren, entstand durch den Anstoß des Staates und durch die Fähigkeit des Staates, finanzielles Kapital im notwendigen Umfang bereitzustellen. Europa hat den reichsten Markt der Welt, seine Finanzinstitute gehören zu den führenden auf der Welt, es hat exzellente Forschungs- und Innovationszentren, große produktive Kapazitäten... Allerdings existiert dieses unersetzbare und außerordentliche Potential nur auf dem Papier. Die Union hat keine Organe, die über Befugnisse verfügen, es zu fördern. Die Finanzmittel aufzubringen ist theoretisch möglich, konkret aber durch die von der Union angenommene Disziplin verboten...!“ (Hervorhebungen vom Verfasser.)

Leser der Neuen Solidarität werden sich daran erinnern, daß genau dieses Argument die Grundlage für die Mobilisierung der LaRouche-Bewegung und der Bürgerrechtsbewegung Solidarität gegen den Vertrag von Maastricht war. Europa hatte schon mit Maastricht einen Riesenschritt zur Selbstaufgabe gemacht, die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon würde sie besiegeln.

as/ccc

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