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Neue Solidarität
Nr. 20, 16. Mai 2012

Rußlands Einwände gegen die US-Raketenabwehrsysteme

Westliche Medien spielen die russischen Einwände gegen die geplanten amerikanischen Raketenabwehrsysteme in Osteuropa herunter. Tatsächlich sind diese Einwände berechtigt.

Als der russische Generalstabschef Makarow Anfang Mai bei einer Konferenz über Raketenabwehrsysteme in Moskau warnte, Rußland könnte sich gezwungen sehen, die Stationierung von Raketenabwehrstellungen der USA in Europa durch präventive Militärschläge zu unterbinden, war das Aufsehen und die Empörung der westlichen Massenmedien groß. Aber die Äußerungen der führenden Vertreter des russischen Militärs bei dieser Konferenz machen deutlich, wie ernst die Lage aus ihrer Sicht ist.

Verteidigungsminister Anatolij Serdschukow eröffnete die Konferenz mit dem neuerlichen Angebot der Zusammenarbeit in der Raketenabwehr: „Die Verteidigungsfähigkeit unseres Landes hängt davon ab, daß wir dieses Problem lösen... Wir wollen das Potential und die Aussichten für eine Zusammenarbeit zum gemeinsamen Nutzen bei der Raketenabwehr aufzeigen. Es ist unsere Absicht, die Bedingungen für die Entwicklung einer solchen Zusammenarbeit zu bestimmen.“

Aber derzeit befänden sich die Verhandlungen über die Raketenabwehr leider in einer Sackgasse. Wenn die NATO wie geplant am 20. Mai bekanntgebe, daß die erste Phase des Euro-Raketenabwehrsystems operationell sei, „dann bedeutet dies, daß die USA und die NATO die Raketenabwehr ohne Rücksicht auf Rußlands Sorgen weiterentwickeln...

In jüngster Zeit wurde immer häufiger gesagt, es sei grundsätzlich nicht möglich, zu einer Einigung in der Frage der Raketenabwehr zu gelangen. Wir stimmen dem nicht zu. Trotz aller Schwierigkeiten waren Rußland und die USA in der Lage, den Vertrag über die Reduzierung und Begrenzung der Strategischen Angriffswaffen abzuschließen. Dieses Dokument spiegelt deutlich die Untrennbarkeit der Strategischen Angriffswaffen von der Raketenabwehr wider.“

Der Sekretär des Russischen Sicherheitsrates, Nikolai Patruschew, wies darauf hin, daß es derzeit außer den russischen keine Interkontinentalraketen gibt, gegen die ein solches Raketenabwehrsystem des Westens gebraucht würde: „Rußland teilt die Sorge der Weltgemeinschaft über die neue Aufwärtsspirale der Verbreitung von Raketen. Wir glauben aber nicht, daß der derzeitige Grad der Ausbreitung dem entspricht, was die NATO-Länder für ihre Beseitigung vorsehen.“ Derzeit gebe es kein einziges Land, das vom Standpunkt der Verbreitung von Interkontinentalraketen Probleme bereite, und es gebe auch keine Hinweise darauf, daß solche Interkontinentalraketen in naher Zukunft erscheinen würden.

Die Verweigerung einer rechtlich bindenden Garantie der Vereinigten Staaten, das Raketenabwehrsystem nicht gegen Rußland einzusetzen, wecke Zweifel am wahren Zweck des Systems: „Wir brauchen rechtlich bindende Garantien, daß das Raketenabwehrsystem in Europa nicht gegen die strategischen Nuklearstreitkräfte Rußlands gerichtet ist. Diese Garantien sollten durch objektive Kriterien abgesichert werden, insbesondere bezüglich der Quantität und Geographie der eingesetzten Abfangraketen, deren Geschwindigkeit und Reichweite und der Kapazitäten der Radaranlagen und anderer Informationssysteme zur Entdeckung ballistischer Raketen und zur Ausrichtung der Abfangraketen auf sie.“

Der Wiedergabe von Interfax zufolge erklärte der Sekretär des Sicherheitsrates, das Raketenabwehrsystem in Europa werde mit Sicherheit die Wirksamkeit der russischen Abschreckung beeinträchtigen: „Die geographischen Regionen und technischen Charakteristiken dieser Raketenabwehrsysteme legen die Grundlage für zusätzliche Gefahren, insbesondere, wenn man das derzeitige und zukünftige Niveau der Hochpräzisionsrüstung berücksichtigt. Es gibt einfach kein anderes Ziel für diesen Raketenabwehrschild außer Rußland...

Die optimale Lösung wäre die gemeinsame Entwicklung eines Konzepts einer europäischen Raketenabwehr-Architektur, das die Sicherheit ausnahmslos aller Länder des Kontinents stärken würde und den möglichen Bedrohungen angemessen wäre, ohne die strategische Stabilität zu unterminieren.“

Präventivschläge notwendig?

Großes Echo in den westlichen Medien hatten die Äußerungen des Generalstabschefs der russischen Streitkräfte, Gen. Nikolai Makarow: „In Anbetracht der destabilisierenden Natur der Raketenabwehrsysteme, insbesondere, daß sie die Illusion erzeugen, man könne einen entwaffnenden Erstschlag ohne einen Vergeltungsschlag führen, wird in einer eskalierenden Situation eine Entscheidung für den vorbeugenden Einsatz der verfügbaren Angriffswaffen getroffen werden... Der Einsatz neuer offensiver Waffen in Süd- und Nordwestrußland, die in der Lage sind, die Raketenabwehranlagen zu beschießen, eingeschlossen die Stationierung von Iskander-Raketeneinheiten in der Region Kaliningrad, ist eine mögliche Option zur Zerstörung der Raketenabwehr-Infrastruktur in Europa.“

Der derzeitige Stationierungsplan der USA für die Raketenabwehrsysteme in Europa sei inakzeptabel, erklärte Makarow, „da er die Flugbahn der russischen Interkontinentalraketen abdeckt“. Die Weigerung der USA, rechtlich bindende Garantien dafür abzugeben, daß diese Raketenabwehrsysteme sich nicht gegen Rußland richten, deute darauf hin, daß es Pläne geben könnte, diese Systeme gegen die russischen Streitkräfte einzusetzen.

Vize-Verteidigungsminister Anatolij Antonow machte deutlich, an wen sich die russischen Warnungen richten: „Unsere Aufgabe bei der heutigen Konferenz ist es, uns in die Lage zu versetzen, den Abgrund des Mißtrauens oder des Mißverständnisses in diesem Bereich zu verringern. Es ist unwahrscheinlich, daß wir uns in allen Punkten einigen können. Aber ich würde mir sehr wünschen, daß unsere Kollegen, wenn sie sich [zum NATO-Gipfel] in Chicago versammeln und über ihre nächsten Schritte entscheiden, sich an diese Konferenz erinnern und ernsthaft darüber nachdenken, wohin die Umsetzung dieser schlecht beratenen Pläne führen könnte... Meine Hoffnung ist, daß die Resultate dieser Konferenz es den Unterhändlern unseres Außenministeriums und Verteidigungsministeriums ermöglichen, sich einen Begriff zu machen, über welche Elemente eine Einigung erzielt werden kann.“

Darin wurde er vom Sprecher des Außenministeriums, Alexander Lukaschewitsch, unterstützt: „Ich glaube, die Signale, die nicht nur General Makarow, sondern auch andere hohe Offiziere aussandten, hatten die Absicht, den Teilnehmern des bevorstehenden NATO-Gipfels in Chicago ein Verständnis zu geben, wie ernst die Lage ist, und ihr Denken so zu verändern, daß die russischen Argumente bei der weiteren Entwicklung ihrer Raketenabwehrsysteme berücksichtigt werden.“

Westliche Experten stimmen zu

Tatsächlich sind die russischen Einwände gegen die westlichen Systeme nichts Neues, und sie sind berechtigt. Die Raketenabwehrsysteme sollen tatsächlich so stationiert werden, daß sie im Ernstfall einen Zweitschlag der russischen Nuklearstreitkräfte vereiteln könnten, und würden damit den Westen in die Lage versetzen, ungestraft einen Erstschlag gegen Rußland durchzuführen. Die Stationierung solcher Systeme zur Abwehr iranischer Raketen wäre weit sinnvoller an anderen Orten als in Polen oder der Tschechischen Republik - ganz abgesehen davon, daß es bisher und auf absehbare Zeit überhaupt keine iranischen Interkontinentalraketen gibt, gegen die eine solche Raketenabwehr notwendig wäre.

Schon 2007 lehnte die damalige US-Regierung unter Präsident George W. Bush das Angebot des russischen Präsidenten Wladimir Putin ab, anstelle der von Bush geplanten einseitigen Stationierung von Raketenabwehranlagen in Polen und der Tschechischen Republik, in der Rußland eine strategische Bedrohung sieht, bei den Radarsystemen zum Schutz vor der Bedrohung durch Raketen zusammenzuarbeiten. Als Begründung für diese Ablehnung führte die Raketenabwehr-Behörde der USA (MDA) an, Bushs Plan stelle keine Bedrohung für Rußland dar, da das Raketenabwehrsystem einen zu kleinen Umfang habe.

Bilder: www.mil.ru
Abb. 1

Abb. 2

Abb. 3

In seinem Vortrag bei der Moskauer Raketenabwehr-Konferenz demonstrierte Rußlands stellvertretender Generalstabschef, Generaloberst Gerassimow, daß die für Osteuropa vorgesehenen Raketenabwehrsysteme der dritten Generation - im Unterschied zu in Südrußland stationierten Systemen - nur einen Teil der hypothetischen, gegen Europa (Abb. 1) und die USA (Abb. 2) gerichteten Interkontinentalraketen des Iran abfangen könnten, während die Abwehrsysteme der vierten Generation auch die russischen Interkontinentalraketen abfangen könnten und damit das strategische Gleichgewicht zerstören würden (Abb. 3).

Präsident Putin und der damalige russische Generalstabschef Generaloberst Jurij Balujewskij widersprachen energisch und drohten mit einer „asymmetrischen Antwort“, wenn die USA die Raketenabwehrstellungen in Europa tatsächlich wie geplant in Dienst stellen sollten. Tatsächlich waren die Russen mit ihrer Einschätzung der Bedrohung durch die US-Systeme nicht allein - führende Spezialisten in den USA stimmten schon damals mit ihren Warnungen überein. Wir berichteten seinerzeit darüber („Briten sabotieren amerikanisch-russische Beziehungen“, Neue Solidarität 37/2007), daß bei einem Briefing im Saal des Kongreß-Militärausschusses am 28. August 2007 Dr. Theodore Postol vom Massachusetts Institute of Technology (MIT), früherer wissenschaftlicher Berater des Operationschefs der US-Marine, erklärte, die vorgeschlagenen US-Systeme stellten für Rußland tatsächlich eine Bedrohung dar, und er schlug damals auch Alternativen vor.

Postol dokumentierte zunächst die systematische Kampagne der US-Regierung, mit der die Befürchtungen der Europäer, ihre Zustimmung zu diesem Programm werde die Russen verärgern, zerstreut werden sollten. Dann ließ Postol die Bombe platzen: Hinsichtlich der Wirksamkeit kinetischer Projektile (Abfangraketen) sei er skeptisch - aber dieses System bilde nur den Anfang einer Serie intelligenterer Raketenabfangtechnik, die die Regierung Bush entwickeln lasse und stationieren wolle! Er zitierte dazu eine entsprechende Passage aus Bushs Präsidialdirektive 23 zur Nationalen Sicherheit vom 6.12.2002. In dieser zukünftigen „verbesserten“ und „ausgeweiteten Raketenverteidigung“ sähen die Russen die eigentliche Bedrohung. Wenn die im Westen Rußlands stationierten Interkontinentalraketen im Ernstfall Kurs auf Washington nähmen, verliefe ihre Flugbahn über die polnischen Abfangeinrichtungen, und sie könnten von der Raketenabwehr angegriffen werden.

Postol verglich seine Berechnungen mit denen der MDA. Nach den Berechnungen der MDA könnten in Polen stationierte Abfangeinrichtungen Interkontinentalraketen (ICBM), die in Westrußland abgeschossen werden, nicht außer Gefecht setzen. Diese Berechnungen seien aber, so Postol, nicht nachvollziehbar. Er habe eigene Berechnungen anhand der ihm bekannten Geschwindigkeiten der ICBM und Abfangraketen angestellt, und anhand dieser Daten zeigte er im einzelnen auf der Landkarte, wie die Abfangraketen den russischen Kernwaffen schaden können.

Postol erklärte ausführlich, welche Vorteile es hätte, wenn - wie vom russischen Präsidenten Putin damals während seines Treffens mit Präsident Bush Anfang Juli 2007 vorgeschlagen - die russische Radarstation in Gabala in Aserbeidschan hinzu käme. Als er gefragt wurde, ob es nötig wäre, das amerikanische System in Osteuropa aufzubauen, wenn die Bedrohung vom Iran ausgehe, erklärte Postol, tatsächlich gebe es keinen Grund für die provokative Stationierung in Polen und Tschechien. Die USA könnten gegen den Iran auch Abfangraketen auf Schiffen in der Ägäis stationieren und Stellungen in der Türkei aufbauen, die auf jeden Fall keine russischen, auf die USA gerichteten Raketen abfangen könnten.

Da die Regierung Obama an den Plänen ihrer Vorgänger festgehalten hat, ist Dr. Postol auch weiterhin aktiv, um die USA und ihre Verbündeten zu warnen, daß die vorgeschlagenen Systeme nicht das halten, was sie versprechen, aber in Rußland als Bedrohung empfunden werden müssen. In einem Artikel, den Postol zusammen mit George N. Lewis für die Arms Control Association verfaßte (siehe www.armscontrol.org/act/2010_05/Lewis-Postol), heißt es, die Regierung Obama habe zwar einige Aspekte der Raketenabwehr-Politik der Regierung Bush verändert, aber sie habe sie durch eine neue Vision ersetzt, die „nicht mehr als eine Fiktion“ sei und „sehr wohl in eine außenpolitische Katastrophe“ führen könne.

Postol weiter: „Die Vereinigten Staaten könnten ihre Beziehungen zu ihren Verbündeten und Freunden schädigen, indem sie ihnen falsche und unzuverlässige Lösungen für reale Sicherheitsprobleme aufzwingen. Sie werden sich Rußland und China zum Feind machen durch massive Abwehrstellungen, die den Anschein erwecken, daß sie dazu entworfen wurden, flexibel anpaßbar zu sein, um sie gegen die strategischen Kräfte Rußlands und Chinas auszurichten.

Dieses neue Raketenabwehrprogramm könnte dann zu den üblichen Resultaten führen: enorm teure Systeme, die nur geringe wirkliche Fähigkeiten haben, aber Unsicherheiten schaffen, die andere Staaten dazu veranlassen, in einer Weise zu reagieren, die nicht dem Sicherheitsinteresse der Vereinigten Staaten entspricht.“ Die Folgen können verhängnisvoll sein, bis hin zu einem thermonuklearen Krieg.

eir

Lesen Sie hierzu bitte auch:
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