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Aus der Neuen Solidarität Nr. 20/2008

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Nahrungsmittelkrise: Londoner City fürchtet politischen Dammbruch

Die Nahrungsmittelkrise hat die bisherigen Denkverbote erschüttert und veranlaßt weltweit etliche führende Politiker, mit dem Freihandeldogma zu brechen. Die Sprachrohre der Londoner City reagieren hysterisch.

„Wir ereichen jetzt einen Punkt der Krise, und zwar weltweit, an dem die Realität mit der weltweiten Nahrungsmittelsituation zuschlägt. Wir haben das verstanden, und die Gegenseite versucht, diesen Realitätsschock zu überspielen“, sagte der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Lyndon LaRouche am 4. Mai.

Ein klinisches Beispiel für den - vergeblichen - Versuch, den „Realitätsschock“ beiseite zu schieben, findet sich im Sunday Telegraph. Ein gewisser Liam Halligan, seines Zeichens „Chefökonom von Prosperity Capital Management“ (ein Hedgefonds mit Sitz auf den Cayman-Inseln), schrieb dort ein wütendes Editorial gegen die Gemeinsame Agrarpolitik der EU (GAP). Er wird hysterisch bei dem Gedanken, daß die ursprünglichen protektionistischen Prinzipien der GAP in anderen Teilen der Welt zum Tragen kommen könnten.

Halligan zetert: „Es ist unmoralisch, vorzuschlagen, daß die GAP die Lösung für die Nahrungsmittelkrise darstelle. GAP ist nicht nur eine schlechte Idee, sondern selbstgerecht und gefährlich. Führungspolitiker sollten sie am besten öffentlich in der Luft zerreißen.“ Besonders der französische Landwirtschaftsminister Michel Barnier und Präsident Sarkozy sollten sich in Sack und Asche hüllen, weil sie diese Politik verträten. Es bestünde die Gefahr, daß Sarkozy vorschlagen werde, der Rest der Welt solle die Politik der GAP übernehmen.

Barnier hatte in den letzten Wochen nachdrücklich eine Erhaltung und Wiederbelebung der GAP gefordert und diese in einem Leserbrief an die Financial Times anderen, jetzt von der Nahrungsmittelkrise bedrohten Nationen zur Nachahmung empfohlen. Er schrieb:

„...Zu behaupten, die Zukunft der ärmsten Länder der Welt läge in ihrer Fähigkeit, in die reichsten Teile der Erde zu exportieren, ist eine doppelte Verneinung der Realität. Denn diese Länder exportieren bereits in den größten Markt der Welt, die Europäische Union. Und zweitens war es genau der Wechsel hin zur exportorientierten Landwirtschaft, der die Selbstversorgung und die regionale Produktion der ärmsten Länder der Welt ruinierte...

Versorgungssicherheit kann weder durch Protektionismus noch Handel allein erreicht werden. Die Lösung muß vielmehr darin liegen, die Produktion in der ganzen Welt zu entwickeln und nicht nur dort, wo es am profitabelsten ist... Zu versuchen, armen Bauern zu helfen, indem man sie, die sowieso schon nicht konkurrenzfähig sind, dem freien Markt ausliefert, macht überhaupt keinen Sinn. In der Realität bedeutet diese sogenannte Hilfe, daß man Afrika jede Möglichkeit, eine ausreichende Nahrungsmittelversorgung zu schaffen, auf absehbare Zeit verweigert. Die einzig dauerhafte Lösung wird dadurch blockiert - nämlich ein Klima zu schaffen, in dem längerfristige Investitionen in die Landwirtschaft möglich sind, um so Armut und Hunger zu beseitigen. In der Hinsicht kann die Gemeinsame Landwirtschaftspolitik ein Modell sein.“

„Verdoppelt die Lebensmittelerzeugung!“

Barnier ist keineswegs der einzige prominente Politiker, der angesichts der Krise einen öffentlichen Bruch mit der bisher vorherrschenden Freihandelspolitik vollzieht. In Argentinien rief der Präsident des Landwirtschaftsausschusses des Abgeordnetenhauses, Alberto Cantero Gutierrez, dazu auf, den 200. Jahrestag der Gründung der Nation zu feiern, indem sich Argentinien verpflichtet, bis 2010 wieder seinen traditionellen Platz als einer der wichtigsten Nahrungsmittellieferanten der Welt einzunehmen. „Wir wollen die Nahrungsmittelerzeugung verdoppeln und mehr Wohlstand schaffen. Argentinien sollte erneut zum großen Nahrungsmittelversorger für die Welt werden und gleichzeitig die Versorgungssicherheit für alle 40 Mio. Argentinier wieder herstellen.“  Genau eine solche Verdoppelung der Nahrungsmittelproduktion hatte wenige Tage zuvor die Vorsitzende des Schiller-Instituts, Helga Zepp-LaRouche, gefordert (siehe Neue Solidarität 19/2008).

Canteros Aufruf ist Teil eines großen politischen Richtungsstreits über die Agrarpolitik in seinem Land (siehe auch Ausgabe 16/2008). Der Streit wurde ausgelöst durch eine Nahrungsmittelkrise, an der die britisch dominierten Getreidekartelle mit ihrer Freihandelspolitik schuld sind, die große Teile der Nahrungsmittelproduktion zerstört hat. Cantero legte deshalb einen Gesetzentwurf vor, der eine nationale Behörde für die Kontrolle und Vermarktung landwirtschaftlicher Erzeugnisse vorsieht. Der Staat bekommt die Möglichkeit, als Mittler zwischen Landwirten und Verbrauchern aufzutreten. „Die Idee dabei ist nicht, ein Staatsmonopol oder Oligopol zu schaffen, sondern dem Staat die Werkzeuge an die Hand zu geben, selbst Nahrungsmittel aufkaufen zu können. Dies soll sicherzustellen, daß niemand hungern muß, und Transparenz schaffen, um Kartellbildungen zu vermeiden.“

Der ehemalige Gouverneur von Buenos Aires, Felipe Solas, war vor kurzem mit einem ähnlichen Vorschlag an die Öffentlichkeit getreten. Er forderte ein System der nationalen Lebensmittelsicherung (SNSA) nach dem Vorbild des angesehenen Nationalen Weizenausschusses, der 1991 von der Regierung des Freihandelsideologen Carlos Menem aufgelöst wurde. Nach Solas’ Vorschlag soll der Staat in Zukunft Bestände an 15-30 Grundnahrungsmitteln erwerben und zu angemessenen Preisen an Supermärkte und andere Händler weiterverkaufen. Ziel dieses Vorhabens ist es, der Bevölkerung Zugang zu hochwertigen Nahrungsmitteln zu fairen Preisen zu ermöglichen und gleichzeitig die Nahrungsmittelproduktion anzukurbeln.

Auch in Mexiko regt sich Widerstand gegen die Freihandelspolitik. Abgeordnete und andere Institutionen fordern von Präsident Felipe Calderon Auskunft, wie es um die Getreidereserven des Landes bestellt ist und was er zu unternehmen gedenkt, um angesichts der weltweiten Nahrungsmittelkrise die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln zu gewährleisten.

Heladio Ramirez Lopez, Präsident des Senatsausschusses für die Entwicklung der ländlichen Regionen und ehemaliger Vorsitzender des nationalen Bauernverbandes CNC, legte hierzu eine Dokumentation vor: Die ländlichen Gebiete seien entvölkert, die Städte wüchsen immer mehr und der Nahrungsmittelbedarf sei größer denn je, doch Mexiko erzeuge nicht einmal genug Grundnahrungsmittel. Zu alledem komme noch das „Biosprit-Fieber“ hinzu.

Auch der Präsident des Nationalen Landwirtschaftsrates Jaime Jezaki warnte, Mexiko befinde sich mitten in einer Nahrungsmittelkrise. Besonders gefährdet sei die Viehzucht, weil bereits 18-20 Mio. Tonnen Futtergetreide importiert werden müssen. Er sagte: „Wir können uns nicht selbst versorgen, wir müssen Nahrungsmittel importieren.“ Ein Drittel des konsumierten Maismehls werde importiert, 95% des Soja, 70% des Reises, 65% des Brotweizens und 30% der Futterhirse; dazu Saatgut und Dünger.

Neues Bretton Woods

Aber die Debatte beschränkt sich längst nicht mehr nur auf die Agrarpolitik - vielmehr erheben sich auch immer mehr Stimmen für ein „Neues Bretton Woods“. Diese Forderung wurde in Italien vom neuen Wirtschafts- und Finanzminister Giulio Tremonti in den Mittelpunkt seines - erfolgreichen - Wahlkampfes gestellt. Jetzt nutzte in Frankreich der frühere Premierminister Michel Rocard die Gelegenheit eines Interviews zum Jahrestag der Wahl von Präsident Nicolas Sarkozy, um dieses Thema anzusprechen. In seiner Antwort auf die Behauptung des Journalisten, Sarkozy habe den Absturz des Dollars, die Krise der Subprime-Hypotheken und anderen Schwierigkeiten nicht vorhersehen können, erklärte Rocard, mit Ausnahme der Inflation „war alles übrige völlig vorhersehbar, und ich gehöre zu denen, die seit drei Jahren unermüdlich auf diese Lage hingewiesen haben“.

Rocard ging aber noch weiter und sagte: „Wir haben das Weltwährungssystem schon vor etwa 40 Jahren zerstört. Da wir nicht in der Lage sind, es wieder aufzubauen, entschuldigen wir lieber die Unordnung, die durch die freien Wechselkurse und die Explosion der Kreditschöpfung entstanden ist und die eine der großen Ursachen der Spekulation und damit auch der wirtschaftlichen Ungleichgewichte ist... Mir ist, wie Ihnen, klar, daß die innereuropäischen Regulierungen nicht mehr ausreichen, um mit dem globalisierten Finanzwesen umzugehen. Ich denke auch, daß man in den Vereinigten Staaten darüber nachdenkt, daß in Abwesenheit von Regulierungen zuviel getan wurde. Ich habe daher den Wunsch, daß Frankreich eine große Weltfinanzkonferenz vorbereiten und einberufen sollte, die wir ein zweites Bretton Woods nennen könnten.“

Lernt von den LaRouches!

Da ein großer Teil der Macht des britischen Empire auf seiner Kontrolle über den weltweiten Nahrungsmittel- und Rohstoffhandel sowie über die Finanzmärkte beruht, bedrohen protektionistische staatliche Regulierungsmaßnahmen in den Produzentenländern den Kern seiner Macht. Aber auch wenn das noch nicht in den britischen Zeitungen zu lesen ist: Besonders aufregen muß sie die Tatsache, daß in dieser Debatte nicht nur die Ideen, sondern auch immer häufiger der Name von Lyndon LaRouche als Orientierungspunkt für eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik ins Spiel gebracht wird.

So veröffentlichte der frühere italienische Abgeordnete Giovanni Bianchi, der jetzt Vorsitzender der Demokratischen Partei in der Region Mailand ist, am 3. Mai in der Parteizeitung Europa einen Kommentar, in dem er die Wahlniederlage seiner Partei und die starken Stimmengewinne der Lega Nord analysiert. Der Lega sei es gelungen, die „Angst der Bevölkerung vor der Globalisierung anzusprechen“. Die Globalisierung „führte in ein zunehmend geld-fixiertes Denken über die Wirtschaft und das tägliche Leben und zum ,Marktismus’, wie er in Tremontis jüngstem Buch angeprangert wird, und beschreibt ein Szenario, dem man mit einer besseren Politik entgegenwirken muß“. Bianchi schließt daraus: „Die Nation hat ihre Identität wieder gefunden, und der Staat ist, obwohl seine Wurzeln bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen, immer noch das geeignetste Instrument, eine Politik umzusetzen; insbesondere, wenn man ihn mit anderen internationalen Vehikeln vergleicht. Das ist eine Position, die Lyndon LaRouche und seine Frau seit 15 Jahren vertreten.“ Schon 2002 hatte Bianchi in einer Debatte in der Deputiertenkammer über die Krise in Argentinien gefordert, man müsse auf LaRouches „prophetische Worte“ hören.

In Rußland gab der bekannte Ökonom Sergej Glasjew der Wochenzeitung Sawtra eine Woche vor der Vereidigung des neuen russischen Präsidenten ein Interview mit dem Titel: „Zehn Schritte, um die Krise zu meistern“. Der stellv. Chefredakteur Alexander Nagornij, der das Interview führte, hebt hervor, „Glasjew und mehrere wohlbekannte Wirtschaftswissenschaftler unseres Landes und der Welt, einschließlich Lyndon LaRouche“ sprächen schon lange davon, daß ein Zusammenbruch der „globalen Finanzpyramide“ unvermeidbar sei. Glasjew verwies auf die Tatsache, daß Rußland bereits 30 Mrd. Dollar verloren habe, weil es seine nationalen Reserven dazu benutzte, den sinkenden Dollar zu stützen. „Wenn die Chefs von Zentralbank und Regierung den Forderungen der parlamentarischen Anhörungen vor sieben Jahren zugehört hätten, hätten diese Verluste vermieden werden können.“

Die Anhörungen, auf die Glasjew sich bezieht, wurden von ihm im Juni 2001 in seiner Eigenschaft als damaliger Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses der Staatsduma einberufen und hatten das Thema: „Maßnahmen zum Schutz der Volkswirtschaft unter Bedingungen einer globalen Finanzkrise“. Einer der Hauptredner war damals der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Lyndon LaRouche. Unter den weiteren Sprechern befanden sich das inzwischen verstorbene Akademiemitglied Dmitrij Lwow, die Wirtschaftswissenschaftler Andrej Kobjakow und Tatjana Korjagina sowie die Gründerin des Schiller-Instituts, Helga Zepp-LaRouche.

Glasjew, der im letzten Jahr nicht mehr bei den Dumawahlen kandidierte, ist gegenwärtig Direktor des Nationalen Entwicklungsinstituts der Akademie der Wissenschaften. Daneben leitet er die Handelsunion der Eurasischen Sicherheitsgemeinschaft (Rußland, Weißrußland, Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan). In einer Medienumfrage wurde er vor kurzem als der meistzitierte russische Wirtschaftswissenschaftler des Jahres 2007 ermittelt.

Glasjews zehn Schritte beziehen sich auf die in Rußland populär gewordene Auffassung - die sowohl vom scheidenden Präsidenten Wladimir Putin als auch vom neuen Präsidenten Dmitri Medwedjew geteilt wird -, daß der Rubel sollte durch seine Verbreitung innerhalb der GUS und in Eurasien in eine „Weltwährung“ verwandelt werden, und auch im Handel mit führenden Partnern sollten andere Währungen als der Dollar zum Einsatz kommen. Wesentliche Maßnahmen des Planes sind z.B. „die Aktivierung der Staatsentwicklungsinstitutionen, um Kredite für langfristige Investitionen in vielversprechende Bereiche wirtschaftlichen Wachstums bereitzustellen“.

Glasjew schließt mit der Bemerkung, auf der Grundlage dieser Maßnahmen „könnte die russische Führung den Übergang zu einer neuen globalen Finanzarchitektur einleiten“, welche sich auf die Währungen der Länder mit positiver Handelsbilanz stützt. Auf Glasjews Internetseite wurde prominent über Helga Zepp-LaRouches Aufruf für eine Neue Bretton-Woods-Konferenz berichtet, als dieser im August 2007 erschien.

Die anglo-holländische Finanzwelt fürchtet nun, dies könnten nur die ersten Stimmen eines schnell wachsenden Chores sein. Erinnerungen an 1989 in Ostdeutschland werden wach. Kommt es zum politischen Dammbruch, würde das britische Empire ebenso schnell hinweggeschwemmt werden wie das alte Sowjetsystem nach dem Fall der Mauer.

Alexander Hartmann

Lesen Sie hierzu bitte auch:
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