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Aus der Neuen Solidarität Nr. 4/2007 |
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Helga Zepp-LaRouche erläutert, warum Europas Seele nicht, wie von Bundeskanzlerin Merkel behauptet, in Voltaire liegt, sondern in der humanistischen Tradition seit Platon.
Von Helga Zepp-LaRouche
Die Rede, die Bundeskanzlerin Merkel am 17. Januar in ihrer Eigenschaft als Ratspräsidentin der EU vor dem Europäischen Parlament gehalten hat, verriet das axiomatische Problem, das sich hinter ihrer Politik der kleinen Schritte verbirgt. Daß sie ausgerechnet von Voltaire die Meinung hegt, er habe die Seele Europas in sich getragen, ist bedenklich. Man kann nur hoffen, daß es nur Frau Merkels jugendlichem Leichtsinn als „17jähriger Jugendlicher in der EU”, wie sie sich selbst in ihrer Rede bezeichnete, zu verdanken ist, daß sie sich mit Voltaire zur antileibnizianischen Tradition Europas bekennt.
Frau Merkel versäumte in ihrer Rede vor dem Europäischen Parlament die Gelegenheit, die Nationen Europas vor den Konsequenzen eines weiteren Krieges der Bush-Cheney-Administration gegen den Iran zu warnen. Es genügte nicht, das Vorantreiben des Nahost-Friedensprozesses, die Reaktivierung des sogenannten Quartetts (USA, Rußland, UN und EU) und eine einheitliche Haltung der EU zum iranischen Nuklearprogramm zu fordern. Denn noch während Frau Merkel sprach, entzog Condoleeza Rice auf ihrer Nahosttour Frau Merkels Plänen den Boden unter den Füßen. Während Rice vorgab, den Dialog zu fördern, schürt die US-Administration in Wirklichkeit den Konflikt zwischen den Palästinensergruppen Hamas und Fatah und baut gleichzeitig die Argumentationslinie auf, der Iran und Syrien unterstützten die Aufständischen im Irak, was den Vorwand für gezielte Militärschläge in beide Staaten liefern soll.
Das zweite existentielle Thema - die Tatsache, daß sich das Weltfinanzsystem in einem unrettbaren Zustand befindet - fand die Bundeskanzlerin ebenfalls nicht der Erwähnung wert. Statt dessen sprach sie von einem weiter deregulierten „transatlantischen Markt”, und ohne die von Leuten wie John Kornblum propagierte Transatlantische Freihandelszone (TAFTA) beim Namen zu nennen, gehen ihre Vorstellungen doch in diese Richtung. Kein Wort auch zu den veränderten Mehrheitsverhältnissen in den USA und dem Potential, daß Amerika zur Tradition der Wirtschaftspolitik Franklin D. Roosevelts zurückkehren kann. Frau Merkel versäumte es schon bei ihrem jüngsten Besuch in den USA, Vertreter der neuen demokratischen Mehrheit zu treffen.
Merkel erklärte es zu einem Hauptanliegen der deutschen EU-Präsidentschaft, die EU-Verfassung, für die nach dem Nein bei den französischen und holländischen Referenden selbst nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe keine Basis mehr existiert, wieder auf die Tagesordnung zu bringen. Das ist völlige Energieverschwendung, denn in Frankreich will kein einziger der Präsidentschaftskandidaten eine europäische Verfassung, die die Souveränität Frankreichs einer supranationalen Struktur aufopfern würde. Die EU als imperiale Struktur (wie sie Robert Cooper, dem Direktor für äußere und politisch-militärische Angelegenheiten des Rates der EU und Berater des außenpolitischen Sprechers EU Javier Solana, vorschwebt), ist nicht geeignet, die wahren Interessen der europäischen Nationen zu vertreten, die statt dessen im Sinne de Gaulles als „Europa der Vaterländer“ kooperieren sollten.
Aber auch in Berlin gelingt Merkels Großer Koalition kein großer Wurf. Der angebliche Durchbruch bei der Gesundheitsreform, dem laut Merkel „wichtigsten Projekt der Legislaturperiode”, das der Vorsitzende des Sachverständigenrats Rürup zu Recht als „Mißgeburt” bezeichnete, hat lediglich eine kräftige Erhöhung der Versicherungsbeiträge für die 50 Millionen Kassenpatienten und eine allgemeine Verschlechterung der Gesundheitsversorgung zur Folge. Tatsächlich bedeutet die Gesundheitsreform in der Praxis die gleiche Zweiklassenmedizin wie das System der privaten Health Management Organisationen (HMO) in den USA.
Dubios ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß das Gesundheitsministerium in den Jahren 2003 und 2004 insgesamt 44,6 Mio. Euro an Zuwendungen von namentlich nicht genannten privaten Sponsoren erhalten hat, das ist rund viermal soviel wie alle anderen Ministerien zusammengenommen. Trotz einer Rüge des Bundesrechnungshofes ist die Regierung nicht bereit, die Namen der betreffenden Wirtschaftsunternehmen offenzulegen, und macht es so unmöglich, eventuelle Interessenkonflikte und ungebührliche Einflußnahmen zu erkennen. Es ist nicht auszuschließen, daß z.B. Pharmakonzerne, private Krankenkassen oder die Bertelsmann-Stiftung Vorlagen für diese Gesundheitsreform geliefert haben.
Die Reform ist noch längst nicht durchgesetzt. So hat der Berichterstatter der Union im Rechtsausschuß, der beauftragt ist, die Verfassungsmäßigkeit der Reform zu prüfen - Friedrich Merz, der Merkel-Gegner von der amerikanischen Anwaltskanzlei Mayer, Brown, Rowe & Maw und der Finanzheuschrecke TCI -, seine Zustimmung bisher nicht gegeben, sondern dieser Tage geäußert, diese Reform sei ein Schritt zur sozialistischen Einheitskasse. Merz, der Bundesjustizministerin Zypries in einem Brief bereits dahingehend gewarnt hat, könnte z.B. Gutachten erstellen lassen, die auf verfassungsrechtliche Probleme der Reform hinweisen, mit der Absicht, sie scheitern zu lassen.
Aber auch Roland Koch hat schon für Hessen sein Veto erklärt, die Zustimmung im Bundesrat ist schon blockiert. Bundespräsident Köhler hat bewiesen, daß er Gesetzesvorlagen zu Fall bringen kann. Außerdem bleibt noch der Weg nach Karlsruhe. Selbst wenn also die Reform für den 1. April (als schlechter Aprilscherz) vom Bundestag beschlossen werden sollte, kann sie womöglich nicht umgesetzt werden. Friedrich Merz hatte nach der Wahl Angela Merkels zur Kanzlerin der Regierung eine Dauer von einem Jahr prognostiziert und könnte versucht sein, mitzuhelfen, daß er Recht behält.
Im Gegenteil dazu ist in Washington der demokratische Kongreßabgeordnete John Conyers dabei, eine Gesetzesvorlage in den Kongreß einzubringen, die in den USA gerade so ein Gesundheitssystem einführen wird, wie es das frühere deutsche System war. Der sogenannte „US National Health Insurance Act”, der an die Tradition des früheren Hill-Burton-Gesetzes anknüpft, soll allen Einwohnern der USA universelle Gesundheitsversorgung auf höchstem qualitativen Niveau garantieren, und zwar sowohl hinsichtlich der medizinische Versorgung wie der dazu notwendigen Kapazitäten. Bei den neuen Mehrheitsverhältnissen in beiden Häusern des Kongresses ist die Verabschiedung dieses Gesetzes gewiß. Gleichzeitig bereitet der Kongreß Gesetzesvorlagen vor, die eine Reindustrialisierung der USA in der Tradition Roosevelts in Gang setzen werden. Dabei spielen die Ideen von Lyndon LaRouche über die Umrüstung der Autoindustrie und die Ausarbeitung eines Investitionshaushalts eine entscheidende Rolle.
Warum geht die deutsche Regierung dann aber in die falsche Richtung, wenn sich von Amerika her in der Gesundheitspolitik die positive Perspektive abzeichnet, das ausgezeichnete frühere deutsche Gesundheitssystem einzuführen? Und warum nutzte Frau Merkel bei ihrem jüngsten US-Besuch nicht die Gelegenheit, sich mit der demokratischen Mehrheit im Kongreß zu treffen, da sie bei ihren Rußlandbesuchen doch auch stets die Opposition trifft? Vielleicht haben alle diese politischen Fehler und Versäumnisse etwas mit dem anfangs erwähnten axiomatischen Problem ihres Denkens zu tun, das in ihrer absurden Annahme zum Ausdruck kam, in Voltaire komme die Seele Europas zum Ausdruck.
Voltaire war ein Zyniker und Sophist, seine gegen Leibniz gerichtete Schrift Candide, Oder die Beste aller Welten und seine Jeanne d’Arc in den Schmutz ziehende Schrift La Pucelle liefern den besten Beweis, daß er vielleicht clever, aber keineswegs kreativ war. Er gehörte zu einer Gruppe von Aristotelikern wie Paolo Sarpi, Antonio Conti, Lagrange u.a., die sich der Erkenntnis Machiavellis anschlossen, daß eine Gesellschaft wissenschaftlichen und technischen Fortschritt zulassen müsse, wenn sie nicht militärtechnisch ins Hintertreffen geraten wolle, man aber aus oligarchischen Motiven der Bevölkerung den Zugang zur Kreativität versagen müsse. Aus diesem Grund führte man bewußt mechanistisches und obskurantistisches Denken ein, um das Nachvollziehen der Entdeckung universeller Prinzipien unmöglich zu machen.
Die Seele Europas ist vielmehr in der Tradition zu finden, die seit Solon von Athen und Platon versucht, die Humanität der Gesellschaft zu entwickeln, und die von einem grundsätzlichen Unterschied zwischen dem menschlichen Individuum und den Tieren ausgeht. Der Mensch hat im Unterschied zu allen anderen Lebewesen die Fähigkeit, seine kognitiven Fähigkeiten unendlich zu vervollkommnen, die Gesetze der Schöpfungsordnung immer besser zu verstehen und aus dieser wachsenden wissenschaftlichen und technologischen Erkenntnis heraus die Lebensbedingungen für die Menschheit immer weiter zu verbessern. Die Seele Europa liegt auch in der klassischen Kunst, die zur Veredlung des Charakters der Menschen beiträgt.
Auch wenn Frau Merkel in ihrer Rede offensichtlich in rhetorischer Absicht 18mal das Wort „Toleranz” benutzte, so machte das ihr Argument nicht richtiger. Und es klaffen Welten zwischen Voltaire und Lessing, die sie in einem Atemzug als angebliche Vertreter der Toleranz nennt. Lessing schuf zusammen mit Mendelssohn gerade deshalb die Grundlage für die deutsche Klassik, weil er den dekadenten Einfluß von Leuten wie Voltaire und die ganze englische und französische Aufklärung entschieden bekämpfte.
Frau Merkel zitiert auch den Schriftsteller Peter Prange, alles, was Europa zustande gebracht habe, sei seiner inneren Widersprüchlichkeit, dem ständigen hin und her von Meinungen und Gegenmeinungen etc. zu verdanken. Vielleicht hat Frau Merkel in ihrer Jugend zuviel in Maos Schrift Über den Widerspruch gelesen, vielleicht ist sie aber auch nur wirklich eine Aristotelikerin und Wissenschaftspluralistin, die tolerant ist gegenüber allen sich widersprechenden Meinungen. Auf diese Weise bekommt man ein buntes Sammelsurium, aber keine wissenschaftliche Entdeckung.
Man kann also nur hoffen, daß Bundeskanzlerin Merkel statt Voltaire künftig Leibniz studiert und auf die Fahne Europas schreibt. Denn Leibniz hatte eine Vision für Europa, er schlug z.B. vor, daß Frankreich Afrika und Deutschland Rußland entwickeln solle. Er hatte auch die Idee, daß Deutschland und China als die beiden Pole Eurasiens zusammenarbeiten sollten, um das ganze Territorium dazwischen auf eine höhere Ebene zu bringen. Die entsprechende Vision für das 21. Jahrhundert ist der Ausbau der Eurasischen Landbrücke als Kernstück einer neuen gerechten Weltwirtschaftsordnung.
Lesen Sie hierzu bitte auch:
„Wir müssen die historische Chance nutzen!“ - Neue Solidarität Nr. 3/2007 Dramatischer Wandel in Washington: Gute Chancen für deutsche EU-Präsidentschaft! - Neue Solidarität Nr. 1-2/2007 Stellungnahmen der BüSo-Vorsitzenden Helga Zepp-LaRouche - Internetseite der BüSo |
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